H. Eberle: Die Martin-Luther-Universität in der Zeit des Nationalsozialismus

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Titel
Die Martin-Luther-Universität in der Zeit des Nationalsozialismus 1933-1945.


Autor(en)
Eberle, Henrik
Erschienen
Anzahl Seiten
539 S.
Preis
€ 29,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Krijn Thijs, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam/ Universität Leiden, Niederlande

Wissenschaft im Nationalsozialismus – das Thema hat schon seit mehreren Jahren Konjunktur. Die nun vorliegende Dissertation von Henrik Eberle ist dem „braunen Kapitel“ der halleschen Universität gewidmet. Ausführlich und detailreich schreibt Eberle ihre „politische Geschichte“ im Nationalsozialismus, mit einigen Blicken in die Weimarer Republik und die direkte Nachkriegszeit hinein.

Die Studie, die aus Anlass des 500jährigen Gründungsjubiläums der Universität in Auftrag gegeben wurde, basiert auf einem umfangreichen Quellenkorpus, hauptsächlich aus dem Universitätsarchiv. Ihr Rückgrat bilden etwa 450 Wissenschaftlerbiographien: Eberle hat die Lebensläufe aller zwischen 1933 und 1945 an der Universität tätigen Gelehrten recherchiert. Sie werden auf knapp 200 Seiten in einem biographischen Lexikon präsentiert, das auf die 260 Seiten umfassende Darstellung der NS-Universitätsgeschichte folgt. Das Werk schildert also die tragischen Schicksale und steilen Karrieren der Hallenser Gelehrten im Nationalsozialismus und ordnet diesen Abschnitt in die jeweiligen Lebensgeschichten ein. Mit dieser Arbeitsweise hofft Eberle die „Konturenlosigkeit abzumildern“, die ähnliche Studien oft kennzeichne (9).

Dabei will Eberle sowohl den Dozenten als auch der Studentenschaft gerecht werden. So zeigt er schon in der Einführung, dass der Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund in Halle schon um 1930 lauthals den Ton angab. Das erste Kapitel „Die Jahren 1933 bis 1936“ beschreibt ihre ungeduldigen Aktionen, Denunziationen und Bücherverbrennungen und geht auf die Gleichschaltung, die ersten Rücktritte und Entlassungen ein. Ausführlich beschreibt Eberle auch wie die Universität, rekurrierend auf ihre lange und deutsche Tradition, Ende 1933 in „Martin-Luther-Universität“ umbenannt wurde.

Es folgen die beiden Kernabschnitte zu den Säuberungen und zum Neuaufbau der Universität. Zunächst zeigt Eberle, wie die Säuberungswellen nacheinander über die Universität spülten, wie die Entlassungskriterien immer weiter gefasst wurden und wie die Einkesselung der Diskriminierten stetig erstickender wurde, bis im Sommer 1938 auch der letzte „Vierteljude“ trotz großer Kriegsverdienste und „antiliberaler“ Einstellung gehen musste (83). So wurden auch Parteimitglieder aufgrund von „nichtarischer Abstammung“ entlassen (87). Andererseits waren die Entlassungen längst nicht immer politisch oder rassistisch motiviert, es gab auch nach 1933 Fälle von persönlichen Konflikten, Erkrankungen und Unfähigkeit (61, 136). Schließlich wird durch Eberles biographischen Zugriff erschreckend deutlich, wie viele Gelehrte sich direkt nach der Entlassung oder einige Jahre später das Leben nahmen.

Das Kapitel über den Neuaufbau bleibt etwas unübersichtlich, da Eberle hier schlicht alle Neuberufungen an allen fünf Fakultäten abarbeitet. Welche Richtung die „Umstrukturierung“ im Ganzen nun nehmen sollte, welche Vorstellungen hinter ihr standen, bleibt durch die häufig zu große Nähe zum Material unklar. Eine Ausnahme bildet die medizinische Fakultät, die Eberle anhand der Leitbilder der Rassenhygiene ausführlich behandelt. Auch die Kapitel „Agieren in der Diktatur“ und „Studieren an der Martin-Luther-Universität“ sind undeutlich strukturiert. Man bekommt den Eindruck, als hätte Eberle einfach alle Quellen, die er im Universitätsarchiv gefunden hat, in der Darstellung verarbeitet, ohne die größeren Konturen deutlich zu Tage treten zu lassen. Interessant ist hingegen Eberles Beobachtung, dass sich an der „rein fachwissenschaftlichen Ausbildung der Studenten“ in der NS-Zeit wenig änderte (201). Nur die übermäßige Inanspruchnahme durch SA-Dienst und Sport beeinträchtigte das Studium.

Das Kapitel über die Kriegsjahre widerspiegelt die Bemühungen der Universitätsführung, den Lehrbetrieb aufrechtzuerhalten und möglichst viele Dozenten vom Kriegseinsatz fernzuhalten, und durch angewandte Forschung zugleich dem Krieg zu dienen. Die Gebäude der Universität überlebten den Krieg größtenteils unbeschädigt, und nachdem zunächst unter der Kuratel der Amerikaner und später der Russen zögerlich die Selbstverwaltung wieder aufgenommen wurde, überwog 1947 die personelle Kontinuität: Zwei Drittel der Ordinarien hatten auch 1944 schon hier gelehrt (260). Der vierseitige „Ausblick“ enthält keine Schlussfolgerungen, sondern ist der abermaligen Umstrukturierung in der Ostzone und der mangelnden Auseinandersetzung mit der direkten Vergangenheit gewidmet.

Eberle hatte sich mit seinem biographischen Ansatz zum Ziel gesetzt, „Opfer und Täter aus der Anonymität der Vorlesungsverzeichnisse und Statistiken herauszuholen“ (9). Die Umsetzung dieses noblen Strebens lässt den Leser aber im Zwiespalt. Einerseits verdient Eberles ungeheure dokumentarische Leistung großen Respekt. Andererseits lässt die Auswertung der Datenfülle vieles zu wünschen übrig. Grund hierfür ist Eberles geringe theoretische Reflexion, die ihn daran hindert, große Datenmengen überzeugend zu strukturieren und zu analysieren. „Die Präsentation des Materials geschah in einer mehr deskriptiven und weniger theoretischen Weise,“ bekennt Eberle völlig richtig, der seine Arbeit nur sehr grob in die Forschungslandschaft einordnet und dabei von der auftraggebenden Jubiläumskommission ausgeht, die „nach zwei überstandenen Diktaturen“ offenbar anregte, „die Universität an Hand der Vorgaben der Totalitarismusforschung einzuordnen“ (7).

Es folgt noch ein vereinzeltes Zitat von Hannah Arendt und damit ist die Sache erledigt. Schade, dass dieser Forschungsauftrag nicht weiter begründet wird, denn über die Erwartungen, die anscheinend an Eberle herangetragen wurden, erfährt man nur Defensives: „Entstehen sollte ohnehin nicht eine Wissenschaftsgeschichte der Universität oder eine rückschauend soziologische Betrachtung über den Lehrkörper. Gefragt war eine im wesentlichen politische Geschichte der Universität“ (8). Warum dies so war, bleibt eben im Dunkeln, und über die Auswirkungen scheint man sich erst nachher Gedanken gemacht zu haben: „Die Defizite dieser Arbeit waren damit programmiert“ (7).

Diese Defizite gründen auf drei Problemen, die im Laufe des Buches immer deutlicher werden. Das erste ist die Frage, wie man nahezu 450 Biographien in die Universitätsgeschichte einflicht und zugleich „die individuelle Dimension“ (7) sichtbar machen kann. Eberle unterbricht hierzu seine Darstellung regelmäßig, um von neu auftretenden Gelehrten Herkunft und beruflichen Werdegang knapp zu skizzieren. Aber die Vollständigkeit befördert hier genau jene Konturenlosigkeit, die Eberle abzumildern sucht. Das Personenregister umfasst für die 250 Seiten der Darstellung über 600 Einträge, Name auf Name wird in den Fließtext eingeführt. Außer dass sich hieraus eine überflüssige Doppelung mit dem Lexikon ergibt, bleiben die biographischen Angaben durch die schiere Menge ziemlich blass. Ein auf Auswahl beschränkter oder gruppenbiographischer Ansatz hätte hier geholfen, denn das Buch ist dort am stärksten, wo Eberle dem einen oder anderen Wissenschaftler in Ruhe einige Seiten widmet.

Nachteilig wirkt sich auch die Quellengattung aus: Personalakten der Universität vermögen die Gelehrten kaum zum Leben zu erwecken, man vermisst bei den kantigen Lebensläufen jene Zutaten, die subjektive Erfahrungswelten und damit eine wirklich „individuelle Dimension“ zugänglich gemacht hätten: private Briefwechsel, Tagebücher oder Erinnerungen. Diesbezüglich sind wegen ihrer Anschaulichkeit immerhin die längeren Quellenauszüge zu loben, die Eberle regelmäßig - aber eben nur neben dem Text - anfügt.

Ein zweites Problem liegt in der äußerst normativen Beurteilung der Akteure. Auch dies ist Eberle im Nachhinein offenbar aufgefallen: „Die Distanz ist nicht immer leicht gefallen, befanden sich doch unter den Gelehrten [...] auch ausgesprochen widerwärtige Figuren und Verbrecher“ (8). Jetzt ist aus der Studie eine Art „Schwarzbuch“ geworden: Immer wieder malt Eberle die moralischen Defizite der Protagonisten, die bei fehlender Analyse ihrer Vorstellungen, Erfahrungen und Ziele als einzig mögliche Erklärung für ihr „skandalöses“ Treiben noch übrig bleiben.

Zwar kündigt Eberle anfangs längere Zitate aus Korrespondenz und Reden an, „da sich daraus ein Teil des Selbstverständnisses der Akteure ableiten lässt“ (9). Aber wenn es dazu kommt, offenbart sich Eberles analytische Hilflosigkeit: „War das geheuchelter Trost, Zynismus oder dachte man wirklich so? Die Antwort ist kaum zu geben“ (215); „Liest man zuviel hinein in einem privaten Schreiben, das eventuell ironisch gemeint war? Wohl nicht.“ (8), oder: „Das merkwürdige Schreiben lässt keine eindeutige Bewertung zu“ (241). Am laufenden Band werden „überzeugte Nazis“ oder „ernsthafte Wissenschaftler“ identifiziert. Manche seien „sehr ‚national’, aber nicht nationalsozialistisch empfindend“ gewesen, andere wiederum „Nationalsozialist, und ... gewillt sich so zu präsentieren“ (117). Woher die Maßstäbe für solche scheinbar differenzierenden Qualifikationen kommen, bleibt fraglich. Spätestens seit Hans Mommsens berühmter Wortmeldung auf dem Frankfurter Historikertag – „Das ist nicht Nähe zum Nationalsozialismus, das i s t der Nationalsozialismus!“ 1 – stellt sich diese Unklarheit im Kern des Begriffshaushaltes als zentrales Forschungsproblem dar.

Zum dritten ist eine Geschichte der Universität letztlich nicht allein die Geschichte ihres Lehrkörpers. Bei Eberle geraten überpersonelle Zusammenhänge in den Hintergrund. Hierunter leidet vor allem die Behandlung dessen, was die Universität inhaltlich beschäftigte – die diffuse Weltanschauung und das Wissenschaftsverständnis im „Dritten Reich“ werden kaum systematisch analysiert. Eberle nimmt NS-Konzeptionen als solche wenig ernst und beharrt auf der dem Nationalsozialismus fremden Kategorie der „freien Wissenschaft“ als klassifizierende Negativfolie. Er fühlt sich berufen, mit den „absurden“ Denkweisen der Nazis abzurechnen und zum Beispiel anhand der Rassenlehre genügsam ihre „Wissenschaftliche Bankrotterklärung“ nachzuweisen (120). Die meisten NS-Wissenschaftler seien für ihre Aufgaben „unfähig“ oder „nicht geeignet“ gewesen.

Immanente Leitvorstellungen wie die „Einheit von Wissenschaft und Volk, Universität und Partei, Hochschule und Heimat“ werden übersprungen (115). Sogar Eberles Schlüsselbehauptung, dass die Universität zur „nationalsozialistischen Gebrauchsuniversität“ umgewandelt wurde, bleibt im Grunde unerläutert. Fast versehentlich berührt er anhand einer Rede des Rektors die Frage, was sich hinter dieser Formel „Gebrauchsuniversität“ wohl verbergen möge, um doch wieder zurückzuweichen: „Zu Ende gedacht, bedeutete dieser Anspruch eine unauflösbare Verschmelzung von Wissenschaft und Ideologie, letztlich die Umformung der traditionellen Universitas in einen modernen, wissenschaftlichen Totalitarismus. Ob die Anwesenden das Spektakuläre in Weigelts Rede wahrgenommen haben? Darüber kann nur spekuliert werden.“ (246) Dass Eberle in einer solchen Wissenschaftslandschaft nazistische Konzepte als „Kapitulationsurkunde der freien Wissenschaft“ (169) verurteilt, ist überflüssig – man hätte sich insgesamt eine eingehendere Auseinandersetzung mit den widersprüchlichen nationalsozialistischen Alternativvorstellungen gewünscht.

Trotz solcher wackligen Grundlagen bleibt das Buch als Studie doch Aufrecht, weil es als dokumentarische Leistung ohne Frage überzeugt. Im Hinblick auf künftige Forschungen wäre es deshalb sehr begrüßenswert, wenn das biographische Lexikon, wie Eberle andeutet (269), im Internet zugänglich gemacht würde.

Anmerkungen:
1 Winfried Schulze und Otto Gerhard Oexle (Hrsg.), Deutsche Historiker im Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 1999, S. 32.

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