V. Gironda: Die Politik der Staatsbürgerschaft

Titel
Die Politik der Staatsbürgerschaft. Italien und Deutschland im Vergleich 1800-1914


Autor(en)
Gironda, Vito
Reihe
Bürgertum Neue Folge 8
Erschienen
Göttingen 2010: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
368 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hartwin Spenkuch, Akademievorhaben Preußen als Kulturstaat, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin

Rogers Brubaker, Dieter Gosewinkel, Andreas Fahrmeir und Eli Nathans haben seit Mitte der 1990er-Jahre die grundlegenden Bücher zum preußisch-deutschen Staatsangehörigkeitsrecht bzw. zur Bedeutung von Staatsbürgerschaft vorgelegt; dabei und in anderen Arbeiten wurden meist Frankreich sowie England zum Vergleich herangezogen. In seiner für die Druckfassung überarbeiteten Bielefelder Dissertation, der letzten mit Hans-Ulrich Wehler als Doktorvater, untersucht Vito Francesco Gironda nun die Entwicklung des italienischen Staatsbürgerschaftsrechts und der Einbürgerungspraxis im 19. Jahrhundert in vergleichender Perspektive mit Preußen-Deutschland. Es handelt sich laut Gironda um einen asymmetrischen, Italien privilegierenden Vergleich. Im Zentrum steht für ihn die Frage, unter welchen durchaus unterschiedlichen historischen Bedingungen sich zwischen beiden Ländern normative Ähnlichkeiten, nämlich die Betonung des Abstammungsprinzips/ius sanguinis und die Staatsbürgerschaft als Instrument sozialer Abschließung, herausbilden konnten (S. 24f.).

Der Analyse der politischen Rahmenbedingungen und der wirtschaftlichen wie sozialen Entwicklungen widmet sich folglich das Gros der vier Hauptteile, von denen je zwei das Umfeld der Kodifikationen von 1837 in Piemont-Sardinien bzw. 1842 in Preußen und die Gründe für die Novellen des Staatsangehörigkeitsrechts 1912 in Italien bzw. 1913 im Deutschen Reich behandeln. Während das den napoleonischen Code Civil revidierende piemontesische Gesetz von 1837 mit dem ius sanguinis die konfessionell-katholische Einheitlichkeit gegen Protestanten und Juden zu wahren suchte, entstand das preußische Untertanengesetz von 1842 aus dem Bestreben heraus, staatliche Kontrolle über die kommunale Bürgerrechtsverleihung zu gewinnen und angesichts einsetzender Wanderungsbewegungen eine praktikable Regelung der Armenfürsorge zu treffen (S. 52, 70f.). Das unter anderem beim Staatsbürgerschaftserwerb für in Italien geborene Kinder von Ausländern und bei der juridischen Gleichstellung für (ebenfalls insgesamt wenige) Ausländer im Wirtschaftsleben liberal geprägte piemontesische Recht sollte im Königreich Italien nach 1861 die staatliche Integration der von alten territorialen und neueren politischen Spannungslinien (Liberalismus – demokratischer Republikanismus – Katholizismus) durchzogenen Apenninenhalbinsel befördern. Im Deutschen Reich blieb man jedenfalls begrifflich Preuße oder Bayer, Sachse oder Württemberger.

Um 1900 unterschied sich die Situation südlich und nördlich der Alpen erheblich: Italien war Auswanderungsland (1861-1914: 15,8 Millionen!), Preußen-Deutschland per Saldo Einwanderungsland. Italien suchte mit dem Gesetz von 1912, die Auswanderer in ihrem Selbstverständnis als Italiener in den nord- bzw. südamerikanischen Zielländern zu stärken, und nutzte dazu das Abstammungsprinzip. Während sich die von Wirtschaftskreisen favorisierte generelle doppelte Staatsbürgerschaft für Emigranten und Kinder von Emigranten im Gesetz nicht durchsetzte, stipulierte dieses, dass Rückkehrer nach Italien schon binnen zwei Jahren wieder die italienische Staatsbürgerschaft erlangten (S. 160). In dem Ziel der (erleichterten) Beibehaltung deutscher Staatsangehörigkeit für Auswanderer – soweit sie Wehrdienst geleistet und nicht fremde Staatsbürger geworden waren – glich das Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz von 1913 der italienischen „legge“. In der zweiten Zielrichtung, dem Ausschluss nichtdeutscher Einwanderer polnisch-russisch-jüdischer Herkunft, war es stark jahrzehntelanger preußischer Anti-Polenpolitik und neudeutschem Nationalismus verhaftet. Das Abstammungsprinzip diente der Exklusion osteuropäischer Saisonarbeiter und jüdischer Immigranten. Sozialökonomische Integration und (nachfolgende) staatsbürgerliche Inklusion nach westeuropäischem Vorbild erstrebten Sozialdemokratie und Linksliberale, aber sie konnten sich gegen Regierung und nationalistischen Zeitgeist nicht durchsetzen (S. 208ff.).

Im letzten Kapitel betrachtet Gironda zunächst die zwischen 1861 und 1911 gleich bleibend wenigen 60.000-80.000 Ausländer in Italien sozialstrukturell und rekonstruiert – auch anhand skizzierter Einzelfälle – eine wirtschaftliche Erfolgsgeschichte dieser zu drei Vierteln gut ausgebildeten, in Professionen oder eigenen Unternehmen tätigen Immigranten. Für die ökonomische Entwicklung Italiens erwünscht, erlegte man dieser Gruppe keine Restriktionen bei ihren wirtschaftlichen Aktivitäten auf und bürgerte sie auch ein. Dabei achteten die liberalen Regierungen Italiens weit mehr auf bürgerliche Respektabilität als auf nationale Zugehörigkeitsmerkmale. Hingegen bestand ein ethno-kulturelles Nationsverständnis gegenüber „italiani non regnicoli“, also den Einwanderern aus dem schweizerischen Tessin und den österreichischen Gebieten Trentino und Istrien-Dalmatien; sie wurden aufgrund ihrer Herkunft großzügig eingebürgert. Insgesamt sieht Gironda in Italien nicht die nationale oder konfessionelle Zugehörigkeit, sondern das sozial exklusive Bürgergesellschaftsmodell (S. 310) als primäres Kriterium für Einbürgerungen. Dass ein auf Mindestqualifikationen von Bildung und Besitz gegründetes evolutionäres Modell die Kriterien lieferte, entsprach ganz dem liberal – aber, wie die neuere Historiographie stets betont, oligarchisch-bürgerlich, nicht demokratisch – regierten Italien, das in der Praxis somit zwischen französischem ius soli und deutschem ius sanguinis stand. Gegen die – jedenfalls von ihm so perzipierte – Lesart transnationaler Historiographie, nach der die Entwicklungspfade von der Erfahrung einer zunehmend globalisierten Welt geprägt wurden, beharrt Gironda für die realhistorische Ausformung von Staatsbürgerschaft auf dem Primat endogener nationalstaatlicher Prozesse in Politik und Wirtschaft (S. 317).

Da Gironda die erste (deutschsprachige) Monographie zur Staatsbürgerschaft in Italien vorlegt, bleibt es künftigen Forschern überlassen, seine Thesen zu akzeptieren oder zu modifizieren. Er wiederholt sie im Text jenseits der selbstverständlich sinnvollen Kapitelzusammenfassungen für den Geschmack des Rezensenten etwas zu häufig. Der Satzbau erscheint nicht selten mit Terminologie und Substantiven überladen, wenngleich für den Nicht-Muttersprachler natürlich viel Nachsicht am Platze ist und in Qualifikationsarbeiten generell allzu häufig der jeweils modische akademische Jargon wuchert. Gemäß seiner Hypothese holt Gironda bei der Nachzeichnung sozialökonomischer Basisprozesse (beispielsweise Statistik der Millionäre in Mailand 1862-90) sehr weit aus, fügt aber keine konzentrierte, konzise Darlegung der jeweiligen Gesetzesbestimmungen über Staatsbürgerschaft ein. Dies ist gerade bei Zugrundelegung von Girondas Maximen – verkürzt: Fakten statt politisch korrekter Theorie-Gebäude – ein wirkliches Manko. Damit bleiben wichtige Fragen offen, zum Beispiel nach dem Verlust von Staatsbürgerschaft oder dem Rechtszustand für die Kolonien Italiens. Das zu Recht herausgestellte linksliberal-sozialdemokratische Gegenmodell einer offenen Staatsbürgerschaft in Deutschland firmiert unter der unglücklichen Überschrift „liberale Teilöffentlichkeiten“. Weder Korrekturlesern noch Verlag fielen die zahlreichen Schreibfehler im Literaturverzeichnis auf. Generell sei allen Herausgebern von Reihen ans Herz gelegt, einer unschönen Tendenz in vielen heutigen Dissertationsdrucken entgegenzutreten, nämlich Literaturnachweise in Anmerkungen ohne Seitenzahlen zu führen. Da wissenschaftlicher Analyse mit „name dropping“ kaum gedient ist, vielmehr die Auseinandersetzung mit den stärksten Argumenten anderer Autoren akademischer Redlichkeit entspricht, sollten konkrete Seitenzahlen üblicher Standard sein, zumal wenn (vermeintliche und kritisierte) Hauptthesen bisheriger Forschung rekapituliert werden.

Summa summarum: Gironda hat ein breit recherchiertes Buch mit plausiblen Thesen zu Italien vorgelegt; sein Postulat bezüglich nötiger Einbettung des Themas Staatsbürgerschaft in die konkreten politisch-sozialen Kontexte und die Folgerung, dass damit nur ein Indikator für Integrationsfähigkeit und Liberalität politischer Systeme betrachtet wird, erscheinen vor dem Hintergrund der bundesdeutschen Erfahrungen des letzten Jahrzehnts nur zu berechtigt; Italien bildete offenbar eine spezifische Variante aus, die bei vergleichender Perspektive einbezogen zu werden verdient. Mit Girondas Werk ist eine gute Grundlage dafür gelegt.