E. Mai: Die deutschen Kunstakademien im 19. Jahrhundert

Titel
Die deutschen Kunstakademien im 19. Jahrhundert. Künstlerausbildung zwischen Tradition und Avantgarde


Autor(en)
Mai, Ekkehard
Erschienen
Köln 2010: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
480 S.
Preis
€ 59,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sandra Mühlenberend, Sammlung, Stiftung Deutsches Hygiene-Museum Dresden

Jüngst konnte am Disput um die Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst verfolgt werden, in welchem Dilemma Hochschulen stecken und stecken können, wenn es darum geht, die Ausrichtung einer Kunsthochschule zu bestimmen, zu definieren und in vielerlei Hinsicht auch zu legitimieren. Die heftigen Auseinandersetzungen zwischen zum Teil an Kunstakademien im Osten Deutschlands ausgebildeten Professoren und Dozenten und ihren westlich sozialisierten Kollegen sind nicht nur Zeichen künstlerischer Eitelkeiten, sondern symptomatisch für einen Streit um Hoheiten, Kompetenzen, Berufsbiografien und Methoden der künstlerischen Aneignung. Wirken nach außen hin die Leipziger „Grabenkämpfe“ destruktiv geführt, so zeigt das neue Buch von Ekkehard Mai, „Die deutschen Kunstakademien im 19. Jahrhundert“, dass gerade jene Streitpunkte historisch begründet und den Kunsthochschulen noch immer immanent sind. Es ist ein stetiger und zum Teil von innen heraus formulierter Reformwille – von der Entstehung deutscher Kunstakademien im 18. Jahrhundert bis zu den Kunstschulen der Moderne und darüber hinaus – der die künstlerischen Ausbildungsstätten befördert und verändert hat. Und auch jetzt, im Spannungsfeld von Kunst, Markt und Kommerz, kommt die Organisation der Künstlerausbildung in ihren Grundsätzen, Methoden und tragenden Personen auf den Prüfstand, soweit, dass selbst Ekkehard Mai nicht umhin kommt, seine Monografie mit einer Darstellung über den heutigen Diskurs der Künstlerausbildung zu eröffnen und für jenen pointiert Zeichen einer Aktualität der „Institution Kunstakademie“ auszumachen (S. 21). Dies ist ihm als wissendem Beobachter und profundem Kenner ihrer geschichtlichen Entwicklung, die er nun in einer längst überfälligen Studie veröffentlicht hat, ein Leichtes.

Mai nennt sie einen Versuch, wegen der Komplexität des Gegenstandes, der unübersehbar erscheinenden Quellenlage und der Vielschichtigkeit eingreifender kultureller, politischer, soziologischer und auch psychologischer Aspekte. Wenn es jemandem gelingen kann, dies zu bewältigen, dann ist es Ekkehard Mai, der schon in der Vergangenheit mit Einzelstudien zur Erschließung des umfassenden Themas beigetragen hat und nun methodisch geschickt Charakter, Bedeutungszusammenhänge und Brennpunkte dieser wechselvollen, zum Teil dramatischen Institutionsgeschichte in einer Gesamtanalyse begreifbar macht.

Die Aufarbeitung und geistige Durchdringung von über zweihundert Jahren Künstlerausbildung an deutschen Kunstakademien hinsichtlich der „Entwicklungslinien und deren Knotenpunkte“, der „Vergleiche und Wechselwirkungen“, der „Netzwerke der Künstler selbst“ und der „personen- und zeitgeprägte[n] Verlaufsgeschichten“ (S. 25), hier besonders im 19. Jahrhundert, ist, um Fontane zu bemühen, zwar „ein weites Feld“ und ein ehrgeiziges Unternehmen, jedoch gelingt es Ekkehard Mai das Thema mittels dreier Leitfäden anschaulich vorzustellen und gleichermaßen sorgsam auszuwerten: Als tragenden Aspekt verfolgt der Autor die chronologische Entwicklungsgeschichte, in die die „an einzelne Künstler und Kunstanschauungen geknüpfte[n] Geschichte der Ideen und Inhalte der Künstlerausbildung“ eingebunden ist, um des Weiteren „Rang und Bedeutung einzelner Akademien zu ihrer jeweiligen Zeit“ vorzustellen (S. 24).

Nach der Einführung über den Stand der Kunsthochschulen heute und dem Stand und Ziel der Arbeit setzt das Buch mit der Entstehung der Kunstakademien im 18. Jahrhundert ein: im Speziellen mit dem französischen Vorbild, der „Académie Royale de Peinture et Sculpture“, als Muster für die Organisationsform von Kunstakademien und den Frühformen akademischer Kunstschulen wie denjenigen in Augsburg, Nürnberg, Wien und Berlin als Wegbereiter klassischer Ausbildungsstätten, im Allgemeinen mit der Geisteshaltung und den Geistesgrößen des Klassizismus als Katalysatoren für den Aufbau deutscher Akademien (S. 27-77). Schon hier offenbart sich der kunstwissenschaftliche Nutzen von Mais Methode der Verknüpfung der Leitfäden hin zu einer anschaulichen Wirkungsgeschichte, die in Nikolaus Pevsners bis heute grundlegendem Werk „Die Geschichte der Kunstakademien“1 oftmals durch die Aufzählung von Großereignissen verloren geht. Erfahrbar wird, wie stark die Regeln der Kunst, der Kanon für Formen und Gestaltungsweisen und zugehörige Theoreme die neu gegründeten Kunstakademien in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts formten und die Lehr- und Lernbarkeit von Kunst überhaupt außer Frage stellten. Hier liegt das Fundament für die Legitimation der Akademien, die Geschmackserziehung, Wissenschaft und Pädagogik für Jahrzehnte in Besitz nahmen. Das zugehörige Regelwerk und die Organisationsstruktur selbst können unter anderem an der von Johann Georg Sulzer gegebenen Definition der „Academien“ in seiner „Allgemeinen Theorie der Schönen Künste“2 abgelesen werden, die die Zeichenkunst als wesentlichen Teil der Malerei, Bildhauerei und auch des Kupferstechens favorisiert und die Grundzüge der Ausbildung hinsichtlich einer genauen Kenntnis des menschlichen Körpers qua Aneignung der Anatomie und der Wissenschaft der Perspektive festlegt. In welchem Maße dies den praktischen Unterricht beeinflusste, macht noch heute die an der Hochschule für Bildende Künste Dresden befindliche, in ihrem Umfang einzigartige historisch anatomische Lehrsammlung deutlich, die Sulzers „akademische Vorratshaltung“ an Mustern schöner Ohren, Nasen, Formen en detail bis zu Ganzfiguren spiegelt.3 Jene Sammlung von Gipsen nach der und über die Natur, von anatomischen Modellen in Wachs und Bänderskeletten im Gestus antiker Bildwerke fand für das hilfswissenschaftliche Fach Anatomie, für das Antikenstudium, den Zeichenunterricht und das Aktstudium bis zur Zeit um 1900 Verwendung und große Aufmerksamkeit. Hier kristallisiert sich ein Zeichen für die Widersprüchlichkeit des im 19. Jahrhundert vielfältig formulierten Reformwillens, der parallel zu künstlerischen, politischen und ökonomischen Entwicklungen außerhalb der Akademien steht, sich aber nicht immer unbedingt in der Praxis – speziell des ‚Grundstudiums‘ – manifestierte.

Im dritten Kapitel konzentriert sich Mai auf die Darstellung des Paradigmenwechsels von einer Institutionalisierung und Verwissenschaftlichung der Kunst als Grundfeste wirtschaftlicher und höfischer Gegebenheiten hin zur Individualisierung des Künstlers über selbst gestellte Kunstentwürfe. Das Ringen darum und der Einfluss auf die Kunstakademien werden anhand des Künstlers Jakob Asmus Cartens und an den Aktivitäten der Akademien München, Düsseldorf und Berlin deutlich, wenngleich durch die Ausdifferenzierung der Sparten eine so genannte Akademisierung von Kunst im Organisatorischen vorangetrieben wurde (S. 79-120). Belebend wirkten jedoch die Etablierung von Meisterateliers, Ausstellungen, Markt und Handel sowie Auslandstipendien, Wettbewerbe und persönliche Förderungen. Inwieweit die Internationalität, speziell in den Düsseldorfer und Münchner Akademien, durch ausländische Studenten Einzug hielt und inwieweit diese in ihrer Unterschiedlichkeit zu Hauptschulen aufstiegen, rekonstruiert Mai mit etlichen Exkursen im vierten Kapitel (S. 121-173), um in den folgenden Kapiteln – wiederum beispielhaft an einzelnen Protagonisten und Akademien – die Ausbildungsentwicklungen und -formen vor dem Hintergrund der Herausforderungen eines gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandels, unter dem Druck enormer Schülerzuwächse, der Folgen des freien Markts und wachsender Konkurrenz zwischen akademischen und freien Künstlern bis hin zur Jahrhundertwende detailliert und quellenreich zu beleuchten. Spannungsreich und um eine These bereichert kommt Ekkehard Mai nach dem achten Kapitel über Sezession und Angewandte Kunst (S. 303-353) in seinem letzten Kapitel (S. 355-379) zum Verlust der Lehrhoheit der Akademien und ihres Kunstbegriffs durch Kunstgewerbebewegung, neue Künstlertheorien und Reformpädagogik sowie Selbstbewusstsein und Unabhängigkeit einzelner Künstler – letztlich durch die Individualisierung der Kunst. Hier formuliert Ekkehard Mai nicht wie oft üblich das „Bauhaus“ als Neubeginn, sondern als Ende einer Entwicklung, welche die in den Akademien und Kunstgewerbeschulen Ende des 19. Jahrhunderts gestellten Forderungen nach Einheit und freieren Unterrichtsmodellen systematisch und schöpferisch zusammengefasst hat. „Revolutionär war das Bauhaus nicht, es wurde erst zur Besonderheit durch die darin berufenen Meister und deren persönliche Lehrmethoden und Schülerkreise.“ (S. 370)

Dies könnte heute für die Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst ein Orientierungspunkt sein – für die eigene Reform im Spannungsfeld von Authentizität und Nachhaltigkeit. Auch unter diesem Aspekt ist Ekkehard Mais Buch mit Genuss zu lesen – bezüglich eines ausgesprochen interessanten Wettstreits der Künste, der andauert.

Letztlich darf man dem Buch den Rang eines Standardwerkes zur Geschichte der deutschen Kunstakademien von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert hinein zuerkennen.

Anmerkungen:
1 Nikolaus Pevsner, Academies of Art. Past and Present, Cambridge 1940.
2 Johann Georg Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Leipzig 1771/1774.
3 Sandra Mühlenberend, Surrogate der Natur. Die historische Akademiesammlung der Kunstakademie Dresden, München 2007.