F.-W. Kersting u.a. (Hrsg.): Die zweite Gründung der Bundesrepublik

Cover
Titel
Die zweite Gründung der Bundesrepublik. Generationswechsel und intellektuelle Wortergreifungen 1955-1975


Herausgeber
Kersting, Franz-Werner; Reulecke, Jürgen; Thamer, Hans-Ulrich
Reihe
Nassauer Gespräche der Freiherr vom Stein-Gesellschaft 8
Erschienen
Stuttgart 2010: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
288 S.
Preis
€ 44,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christina von Hodenberg, Department of History, Queen Mary University of London

Der bereits seit einem Jahrzehnt diskutierte Begriff einer „zweiten Gründung der Bundesrepublik“ während der „langen“ 1960er-Jahre erfährt in diesem Sammelband neue Unterstützung. Die Herausgeber sehen die Veränderungsdynamik der späten 1950er- bis frühen 1970er-Jahre positiv, als „Durchsetzung einer pluralistisch-demokratischen politischen Kultur“ und „gesellschaftlich-kulturelle Verwestlichung“ der Bundesrepublik (S. 8). Das besondere Ziel dieses Bandes ist es, solche Prozesse der Pluralisierung und Verwestlichung aus der Perspektive der Intellectual History zu beschreiben. Dabei stehen einmal nicht die Soziologen, Philosophen oder Professoren anderer Art im Mittelpunkt, sondern vielmehr Intellektuelle in bisher weniger gut erforschten Bereichen: Akteure in Funkhäusern und Zeitungen, Parteien und Meinungsforschungsinstituten, Kirchen und Kabaretts. Auch auf Malerei und Literatur wird ein Blick geworfen.

Zwei in der Einleitung umrissene Annahmen verleihen den Beiträgen dieses Bandes einen gewissen Zusammenhalt. Die erste lautet, dass sich die intellektuelle zweite Gründung der Republik auf zwei parallele Gründungskerne zurückführen lasse: zum einen die Frankfurter Schule (wie von Clemens Albrecht und anderen bereits 1999 reklamiert), zum anderen die liberalkonservative „Philosophie der Bürgerlichkeit“ (wie von Jens Hacke 2006 beschrieben).1 Die zweite Annahme, und der eigentliche Leitfaden des Bandes, ist die Frage nach der Bedeutung des Generationenwechsels für den politischen und kulturellen Aufbruch während der „langen“ 1960er-Jahre. Fast alle Aufsätze beschäftigen sich daher damit, ob die gängigen generationellen Etiketten der „45er“ und „68er“ geeignet sind, die Dynamik der Wandlungsprozesse zu erklären.2 Im Ergebnis zeichnen die Beiträge ein vielschichtiges, bisweilen auch widersprüchliches Bild. Deutlich wird vor allem, dass die historischen Befunde komplizierter sind, als es ein starres 45er/68er-Schema suggerieren würde, und dass das Tempo und die Bedeutung des Generationenwechsels je nach gesellschaftlichem Bereich stark variierten.

So macht etwa Christoph Hilgert in seinem Beitrag zu Aufklärungstendenzen im Jugendfunk der 1950er- und frühen 1960er-Jahre geradezu paradigmatische „45er“ unter den Redakteuren aus, deren demokratisierungspädagogischen Impetus er von der Haltung der „heranwachsenden 68er“ im Funk abhebt. Auch Detlef Briesen betont in seinem Essay zum politischen Kabarett, eine Riege von in den 1920er-Jahren Geborenen habe das westdeutsche Kabarett der 1950er- und 1960er-Jahre geprägt und über Funk und Fernsehen in die Breite gewirkt. Briesens Ergebnisse fügen sich bruchlos in das etablierte „45er“-Schema, demzufolge „45er“-Intellektuelle sich Demokratisierung auf die Fahnen schrieben, aber vor tiefergehender Systemkritik zurückschreckten. Allerdings ist nicht ganz verständlich, warum der Autor sich an die offensichtlich ungeeignete Generationeneinteilung der US-amerikanischen Geschichte anlehnt (S. 274).

Im Gegensatz dazu mahnen andere Aufsätze zur Vorsicht bei der These vom Generationenwechsel als Antriebskraft der Demokratisierung. Dominik Geppert analysiert das Innenleben und den Zerfall der „Gruppe 47“ im Spiegel einer faszinierenden Quelle: des bislang noch nie ausgewerteten, offenherzigen Tagebuchs Hans Werner Richters. Geppert warnt vor einer schlichten Zuschreibung zeitgenössischer Akteure zu „45ern“ und „68ern“: Schließlich hätten die älteren, vor 1920 geborenen Schriftsteller noch eine wichtige Rolle gespielt, und viele der „45er“-Jahrgänge hätten sich stark für die Ziele der Außerparlamentarischen Opposition engagiert. Als entscheidende Bruchlinie, die den Zerfall der „Gruppe 47“ mit bedingt habe, stellt Geppert nicht den Generationenkonflikt dar, sondern die auseinandergehenden Auffassungen über die Rolle des Intellektuellen in der Politik: Pragmatische, SPD-nahe Reformer seien gegen revolutionäre Utopisten angetreten.

Auch der Beitrag von Marcus M. Payk geht in diese Richtung. Payk untersucht interne Richtungskämpfe in den drei großen konservativen Blättern „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (FAZ), „Die Welt“ sowie „Christ und Welt“ im Zeitraum von 1957 bis 1967. Nicht der Generationenwechsel habe die Konflikte befeuert, sondern die Rivalität von Politik- und Feuilletonressort in der „FAZ“, der Auflagenrückgang bei „Christ und Welt“ und die internen Krisen der „Welt“ nach dem Kursschwenk des Verlegers. Payk argumentiert differenziert: Generationalität sei eine „zentrale Komponente“ der zeitgenössischen Auseinandersetzungen gewesen, weil Selbstzuschreibungen generationeller Identität die Debatten der Zeitgenossen durchzogen hätten. Dies sei aber eher Symptom als Ursache des Wandels gewesen; die eigentliche Dynamik der Entwicklung gehe vielmehr zurück auf die Expansion und Politisierung des Medienmarktes und das Bröckeln der Idee redaktioneller Vergemeinschaftung, die an den Weimarer Jungkonservatismus anknüpfte.

Ähnlich stellt Daniel Schmidt in einem Beitrag zur Reaktion der CDU auf die Herausforderung von „1968“ fest, dass pragmatische „45er“ in der Partei sich mit „alternativen 68ern“ aus dem RCDS und der Jungen Union verbündet hätten, um der CDU ein neues, modernisiertes Profil zu geben. Besonders aufschlussreich ist Schmidts Interpretationsangebot eines „Alternativ-68er“-Typus und seine Beschreibung konservativer Jungakademiker und Parteitechnokraten.

Nicht alle Beiträge des Bandes können an dieser Stelle angemessen gewürdigt werden. Hervorgehoben seien noch die Aufsätze Maria Daldrups und Klaus Große Krachts. Daldrup untersucht Demokratisierungstendenzen im Deutschen Journalisten-Verband, wobei sie sich vor allem der „Vergangenheitsbewältigung“ des Berufsstandes widmet und die entscheidende Zäsur erst in den 1980er-Jahren ansetzt. Große Kracht beleuchtet „Wandlungen im Sendungsbewusstsein katholischer Intellektueller“ zwischen 1945 und 1960. Er betont, die Ergebnisse zögen Helmut Schelskys These von der „skeptischen Generation“ in Zweifel, ohne sich allerdings inhaltlich mit den neueren Thesen zur „45er“-Generation (etwa von Dirk Moses) auseinanderzusetzen. Weitere Beiträge widmen sich der Demoskopie (Peter Hoeres), der „Politisierung der Religion um 1968“ (Pascal Eitler) oder einzelbiographischen Fragestellungen – so Tobias Freimüller zum Sozialpsychologen Alexander Mitscherlich, Alexander Gallus zum Publizisten Kurt Hiller und Anne Fuchs zum Schriftsteller Ludwig Harig. Am letzteren Beitrag, wie auch an Christian Spies’ Aufsatz zur Malerei der 1950er-Jahre und Detlef Briesens Artikel zum Kabarett der Zeit, zeigt sich leider, dass ein echter interdisziplinärer Dialog in der Praxis oft an Grenzen stößt. Diese Beiträge reflektieren nicht den Stand der historischen Forschung und gehen nicht auf die in der Einleitung umrissenen Fragestellungen ein. Zwischen Geschichts- und Literaturwissenschaft bzw. Kunstgeschichte scheinen weiterhin manch tiefe Gräben zu verlaufen, was umso mehr zu bedauern ist, als die Beiträge zeigen, welches Potenzial in einem wirklichen Dialog der Disziplinen über diese Fragestellungen stecken würde.

Anmerkungen:
1 Clemens Albrecht u.a., Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule, Frankfurt am Main 1999; Jens Hacke, Philosophie der Bürgerlichkeit. Die liberalkonservative Begründung der Bundesrepublik, Göttingen 2006.
2 Entsprechende Thesen finden sich bei A. Dirk Moses, German Intellectuals and the Nazi Past, Cambridge 2007, und Christina von Hodenberg, Konsens und Krise. Eine Geschichte der westdeutschen Medienöffentlichkeit 1945–1973, Göttingen 2006.