St. Blaschke: Unternehmen und Gemeinde

Titel
Unternehmen und Gemeinde. Das Bayerwerk im Raum Leverkusen 1891-1914


Autor(en)
Blaschke, Stefan
Erschienen
Köln 1999: SH-Verlag
Anzahl Seiten
191 S.
Preis
€ 15,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Carsten Thieme, Lehrstuhl f. Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Universität Tübingen

Das Aufkommen von Großunternehmen zählt zu den herausragenden Merkmalen des sich in den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts beschleunigenden industriellen Konzentrationsprozesses. Zwischen 1882 und 1907 hatte sich der Anteil der in Großbetrieben mit mehr als 1000 Mitarbeitern Beschäftigten aus Industrie und Handwerk mehr als verdoppelt. Schwerindustrielle oder chemische Betriebe integrierten zunehmend vor- oder nachgelagerte Produktionsstufen. Elektrokonzerne diversifizierten ihre Angebotspaletten durch Erschließung immer neuer Produktbereiche. Durch ihre Größe konnten solche Firmen Markt- und Konjunkturrisiken schmälern, die Kostenvorteile der Großproduktion ausnutzen, erhebliche Mittel für den Forschungs- und Innovationsprozeß bereitstellen, aber auch ihre Finanzierungsmöglichkeiten den Banken gegenüber verbessern.
Das Größenwachstum der Betriebe ging selbstverständlich nicht an ihren Standorten vorbei. Großunternehmen benötigten günstige Bedingungen vor Ort: genügend Raum für die Produktion, zahlreiche und qualifizierte Arbeitskräfte sowie zuverlässige und kostengünstige Transport- und Infrastruktureinrichtungen. Zugleich erlangten sie als Arbeitgeber und Steuerzahler, als Grundbesitzer und Vermieter jeweils eine besondere Bedeutung in den Gemeinden. In welchen Formen sich die Beziehungen zwischen Unternehmen und "ihren" Gemeinden gestalteten und welche handlungsleitenden Motive beide Seiten bewegten, das ist bisher nur vereinzelt untersucht worden. Im Mittelpunkt steht das bedeutende große Unternehmen, das den lokalen Raum mehr oder weniger dominierte; ein Umstand, der von der in solchem Fall oft günstigen Quellenlage bestimmt wird. Nachdem unlängst H. Berghoff in seiner breit angelegten Studie über Hohner bewiesen hat, welchen Erkenntnisgewinn die Untersuchung des Beziehungsnetzes zwischen Unternehmen und Gemeinde ermöglicht 1, erscheint nun die Untersuchung von Stefan Blaschke über das Bayerwerk im Raum Leverkusen zwischen 1891 und 1914, die auf seiner Magisterarbeit basiert.

Der Autor verschreibt sich einer umfassenden Betrachtungsweise und stellt folgende Leitfragen heraus: "Wie veränderte sich die Gemeinde insbesondere unter dem Einfluß des Unternehmens? Inwieweit waren die Angehörigen des Unternehmens in die Gemeinde integriert, wie reagierten die 'Alteingesessenen' auf sie? Beteiligte sich das Unternehmen an der Kommunalpolitik, und wenn ja, warum und mit welchen Mitteln?" (15) Das Konzept führt im ersten Drittel des Textes von der Entwicklung der chemischen Industrie über die allgemeine Geschichte der Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co hin zum Werk Leverkusen. Danach entfaltet Blaschke im Hauptteil der Arbeit das Beziehungsnetz zwischen Bayerwerk und dem Standort Wiesdorf am Rhein, späterer Ortsteil der Stadt Leverkusen, in neun Themenkomplexen, die ganz unterschiedliche Problemfelder ansprechen. Er bezieht wirtschaftliche Fragen wie die kommunalen Finanzen und Investitionen, den Ausbau der technischen Versorgungssysteme und das Verkehrswesen ebenso ein, wie er sich politischen, sozialen und kulturellen Themen zuwendet. Es gelingt ihm, hieraus eine ganze Reihe beachtenswerter Befunde abzuleiten.

Mit Wiesdorf entschied sich Bayer für einen Standort, der das wichtigste bot, was das expandierende Großunternehmen dringend benötigte: Raum, um die verschiedenen Produktionsstufen integrieren zu können. Zugleich wich das Unternehmen mit diesem Schritt nachhaltigen Protesten aus, die es durch seine umweltbelastende Produktion in Elberfeld auf sich gezogen hatte. Als größter Arbeitgeber war Bayer in Wiesdorf weit geringeren Anfeindungen ausgesetzt. Bayers soziale Unternehmenspolitik, deren Vision in der "Bayer-Familie" bestand, konterkarierte die Einbindung der Bayer-Werker in die Gemeinde. Die Stammbelegschaft wohnte überwiegend in Werkskolonien, organisierte sich in Werksvereinen, konnte im fabrikeigenen Kaufhaus einkaufen, in der fabrikeigenen Gastwirtschaft einkehren und die Werksbibliothek benutzen. So wundert es nicht, daß sich die soziale und politische Integration der Bayer-Beschäftigten in den Gemeindeverband längere Zeit hinzog. Am Ende des Untersuchungszeitraumes aber hatte sich nicht nur in der Gemeinde, sondern auch im Gemeinderat das zahlenmäßige Verhältnis von Werksangehörigen und "Nicht-Werksangehörigen" umgekehrt. Der Industriestandort Wiesdorf mit 7400 Bayer-Beschäftigten im Jahr 1915 und dem Mehrfachen an Familienangehörigen hatte kaum noch etwas mit der 2500-Seelen-Gemeinde von 1891 gemein.

Des Weiteren kann Blaschke zeigen, wie das Unternehmen seine spezifischen Standortinteressen innerhalb und mit der Gemeinde verfolgte und daß unternehmerische Partikularinteressen nur selten auf kommunale Opposition stießen. So führten notwendige Verbesserungen der Infrastruktur Bayer und Wiesdorf immer wieder in eine Koalition. Dazu bedurfte es nicht der formalen Präsenz der Spitzenmanager in den Gemeindegremien. Die auf dem ökonomischen Gewicht des Unternehmens aufbauende Verhandlungsposition und die zahlreichen informellen Kommunikationskanäle genügten offenbar. Dennoch wirkten im Gemeinderat zunehmend Angehörige des mittleren Managements mit, die der Gemeinde ihr Spezialwissen zur Verfügung stellten und zugleich im Sinne des Werkes agierten und entschieden.
Für Wiesdorf ergaben sich aus der raschen Expansion des Werkes allerdings zahlreiche Probleme, die sich Bayer keineswegs zu eigen machte. Schnell stiegen die Ausgaben für notwendige kommunale Einrichtungen wie Schulen und Verwaltungsgebäude. Sie trieben die Schulden der Gemeinde trotz hoher Steuereinnahmen in die Höhe. Bayer beteiligte sich jedoch auf Bitten der Gemeinde immer wieder mit Sonderbeträgen an den wichtigsten Projekten.
Blaschke entwirft insgesamt ein facettenreiches Bild der Beziehungen von Unternehmen und Gemeinde und weist nach, wie weit der Einfluß von Bayer im lokalen Raum reichte, auf welche Weise das Unternehmen seine Interessen aktiv verfolgte und bei welchen Problemen es sich weniger mit den Folgen seiner Wirtschaftstätigkeit auseinandersetzte.

Dennoch seien drei kritische Anmerkungen erlaubt, die nicht übergangen werden können.
1. Die Arbeit hätte einen aufmerksamen Lektor verdient gehabt, der mit wenig Aufwand die störende Vielzahl der Druckfehler hätte ausmerzen können.
2. Der Autor umgeht die Selbstverständigung über die Begrenzung seiner Fragestellungen und über sein methodisches Vorgehen. Dies bleibt nicht ohne Folgen. Indem er sich auf die Standortpolitik des Werkes Leverkusen beschränkt, muß deren Funktion und Rang im Zusammenhang der gesamten Unternehmensstrategie von Bayer zwangsläufig in den Hintergrund treten. Damit kann aber die wichtige Frage, welcher Stellenwert dem jeweiligen Standort für den Unternehmenserfolg zukommt, nicht beantwortet werden. Auf der anderen Seite verstellt der Ansatz den Blick auf weitere dynamische Faktoren im lokalen Raum jenseits des Bayerwerkes. Diese "wunde Stelle" weitet sich bei der Klärung der Begriffe Unternehmen und Gemeinde aus. Hier hätte sich die Chance geboten, die sich stark unterscheidenden Sozialsysteme konsequent nach ihren Schnitt- und Berührungspunkten abzuklopfen und von daher einen methodischen Zugang abzuleiten. So aber fehlt seinem Konzept die eigentliche Klammer. Dies wird zum einen im Abschnitt über das Werk Leverkusen deutlich. Die hier erörterte Standortentscheidung für Wiesdorf, die durch Abwässer und Emissionen hervorgerufenen Umweltbelästigungen und auch die soziale Unternehmenspolitik stehen unverbunden neben dem eigentlichen Zentrum der Arbeit, obwohl alle drei Themen die unternehmerische Standortpolitik berührten und die Auswirkungen in den Gemeinden nicht zu übersehen waren.

Mehr noch fällt die mangelnde Strukturierung der Standortprobleme im Hauptteil der Arbeit ins Gewicht. Weder die Auswahlkriterien noch der innere Bezug der neun Themenfelder werden hinlänglich deutlich. Denkbar wäre die Einbindung von Standortfragen in das Gesamtkonzept des Unternehmens, dessen Ziele und Strategien gewesen. So hätte die Unterscheidung zwischen unmittelbaren und mittelbaren Folgen der Präsenz des Unternehmens eine mögliche analytische Kategorie hergegeben. Eine Alternative wäre die Trennung zwischen der auf den Unternehmenszweck und die Werksgemeinschaft bezogenen Standortpolitik einerseits und der fraglos damit korrespondierenden, "sekundären" Gemeindepolitik andererseits gewesen. So aber bleibt trotz mancher anerkennenswerter Teilergebnisse der Eindruck eines collageartigen, aus dem Zufall der Quellenüberlieferung resultierenden Gesamtkonzepts.
3. Schließlich fordert Blaschkes methodischer Stil dazu heraus, darüber nachzudenken, ob es den mikrohistorischen Ansatz befördert, wenn er quasi von oben nach unten geschrieben wird. Ohnehin kommt der Mehrwert dieser Arbeit in der Untersuchung des Mikrokosmos vor Ort zur Geltung, von wo aus sich genügend Anknüpfungspunkte an umfassendere Probleme bieten. Meines Erachtens verdrängt der hier wiederholt praktizierte Argumentationsgang vom Allgemeinen (Verwaltungs-, Finanz-, Schulgeschichte) zum besonderen (kommunale Verwaltung, Finanzen, Schulwesen) die lokalen Spezifika in den Rang des beispielhaft-anekdotischen. Damit aber läuft der Autor Gefahr, der Stoßkraft der Mikrogeschichte die Spitze zu brechen.

Anmerkung:
1 Hartmut Berghoff: Zwischen Kleinstadt und Weltmarkt. Hohner und die Harmonika 1857-1961. Unternehmensgeschichte als Gesellschaftsgeschichte, Paderborn u.a. 1997.

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