S. Salzborn: Antisemitismus als negative Leitidee der Moderne

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Titel
Antisemitismus als negative Leitidee der Moderne. Sozialwissenschaftliche Theorien im Vergleich


Autor(en)
Salzborn, Samuel
Erschienen
Frankfurt am Main 2010: Campus Verlag
Anzahl Seiten
378 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Regina Schleicher, Institut für Romanistik, Universität Leizig

Samuel Salzborn verfolgt mit seiner Studie das Anliegen, „theoretische und empirische Erkenntnisse über Antisemitismus zu integrieren“ (S. 11). Dementsprechend ist die Arbeit nach der Einleitung in zwei große Teile untergliedert: eine ausführliche Darstellung verschiedener sozialwissenschaftlicher Theorien über Antisemitismus von Sigmund Freud bis Klaus Holz und der empirischen Prüfung der theoretischen Annahmen. Beides soll im Schlussteil in eine „Theorie des modernen Antisemitismus“ münden.

Wie von Salzborn in seiner Einleitung dargelegt, sieht er Antisemitismus als „negative Leitidee der Moderne“ an. Damit unterstreicht er seine Arbeitshypothese, die zugleich die Auswahl der hier untersuchten sozialwissenschaftlichen Theorien bestimmt, dass Antisemitismus „Produkt und Bestandteil der modernen, bürgerlichen Gesellschaft“ sei (S. 18). Indem Salzborn sich ausschließlich mit Theorien befasst, die nach seiner Einschätzung Antisemitismus nicht nur als „geschlossenes Denksystem“, sondern auch als „Mega-Schlüssel zum Verständnis moderner Vergesellschaftung“ (S. 33) verstehen, geht er bereits von der genannten Arbeitshypothese zur These einer genuinen Verbindung von Antisemitismus und bürgerlicher Gesellschaft über. In kurzen, zum Großteil sehr prägnanten Darstellungen der Theorien widmet sich Salzborn neben psychoanalytischen Erklärungsansätzen von Sigmund Freud, Ernst Simmel und Béla Grunberger sowie den Theoretikern der Kritischen Theorie wie Max Horkheimer, Theodor W. Adorno und Detlev Claussen auch ausgesprochen differenten Erklärungsmodellen von Talcott Parson, Jean-Paul Sartre, Hannah Arendt, Shulamit Volkov, Moishe Postone, Zygmunt Bauman und Klaus Holz. Der Autor bemüht sich dabei um eine Differenzierung in korrespondenztheoretische Ansätze, die einen Zusammenhang zwischen Antisemitismus und dem „Verhalten, Denken oder Glauben von Jüdinnen und Juden“ sehen, und gesellschaftskritische Ansätze (S. 42-43).

Während sich Salzborn bei allen anderen Autorinnen und Autoren sehr stark um eine differenzierte Reflexion der Widersprüche und möglichen Verknüpfungen der verschiedenen theoretischen Ansätze bemüht, verwirft er Zygmunt Baumans Theorie fast vollständig, auch wegen dessen von Salzborn zu Recht als trivial titulierter Garten-Metaphorik, in der die moderne Kultur als Gartenkultur und jegliche Eingriffe in sie als gärtnerische Tätigkeit begriffen werden. Er kommt zu dem Schluss, dass Baumans, leider von Salzborn nicht näher definierter, „situationistisch-funktionalistischer“ Ansatz konkrete Verantwortlichkeiten zum Verschwinden bringe und fasst seine Kritik an Bauman schließlich in Topoi einer Kritik an der Postmoderne: „Es geht Bauman […] um die als ‚antirationalistische Revolte‘ (Beyme 1991: 161) daherkommende postmoderne Sehnsucht nach einer Kritik an der Moderne, bei der sich Struktur und Individuum wechselseitig entlasten, so dass am Ende überhaupt niemand oder etwas mehr verantwortlich ist und Geschichte wie Gesellschaft in Beliebigkeit aufgelöst sind.“ (S. 177)

Den empirischen Teil leiten Zusammenfassungen vorangegangener, auch quantitativer Untersuchungen und ausführliche Darlegungen zu seinem „Design“ ein. In der Reflexion des empirischen Zusammenhangs zwischen „klassischem“ Antisemitismus, unter dem er sowohl religiösen als auch rassistischen Antisemitismus versteht, und sekundären Antisemitismus geht Salzborn davon aus, dass sich im sekundären Antisemitismus zwar die Form, das Projektionsfeld von antisemitischen Ressentiments, nicht jedoch „der antisemitische Inhalt“ geändert habe. Antisemitische Einstellungen „klassischer“ Art wie beispielsweise „Juden haben zu viel Einfluss/Macht“ würden demnach beispielsweise in einen antizionistischen Antisemitismus transformiert (S. 221). Dabei stellt sich meines Erachtens die Frage, ob nicht Schuldabwehr oder antizionistische Elemente als neue Inhalte angesehen werden könnten bzw. neue Formen des Antisemitismus nicht zwangsläufig auch auf die Inhalte rückwirken müssten.

Als empirisches Problem bei der Untersuchung des sekundären Antisemitismus sieht Salzborn die „Kommunikationslatenz“ der ProbandInnen aufgrund eines „Kommunikationstabus für antisemitische Einstellungen“ an (S. 222-223). Dem könne in einer qualitativen Untersuchung begegnet werden, indem Antisemitismus oder Juden nicht ausdrücklich angesprochen würden. Als Zusatzstudie zu dem GMF-Survey 2005 wurden in Rückgriff auf das Konzept der Data Triangulation Tiefeninterviews durchgeführt.1 Von denjenigen, die bereits bei der Beantwortung des Fragebogens mittlere bis höhere Werte bezüglich des Schuldabwehr-Antisemitismus gezeigt hatten und zu einem zusätzlichen Interview bereit waren, wurden nach dem Zufallsprinzip 19 Personen ausgewählt, jedoch nur sieben Interviews in die Auswertung aufgenommen.

In seinem Verfahren gelingt es Salzborn sehr gut, in die Auswertung der Interviews Versatzstücke aus den behandelten theoretischen Ansätzen zu integrieren, nicht jedoch, auf dieser Grundlage tatsächlich zu einer „Theorie des modernen Antisemitismus“ (Titel des Schlussteils) zu kommen. Dies misslingt weniger wegen der schmalen Basis von nur sieben Interviews, sondern vor allem weil sein methodisches Vorgehen eine Fokussierung auf individuelle Aussagen impliziert, die sich zwar sehr gut mit Elementen der vorgestellten Theorien in Zusammenhang bringen lassen, jedoch zu einer Ausblendung struktureller Faktoren und politischer Kontexte tendiert. Salzborn versteht in Anlehnung an Adorno und Horkheimer eine politische Theorie des Antisemitismus als „Theorie der bürgerlichen Gesellschaft selbst“ (S. 317), verzichtet jedoch leider darauf, die gegenwärtigen gesellschaftlichen und Strukturen und politischen Zusammenhänge näher zu beschreiben, und damit auf eine Aktualisierung der vorgestellten Theorien insgesamt.

Anmerkung:
1 Es handelt sich um eine unter dem Begriff „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ (GMF) durchgeführten Datenerhebung per Telefoninterview im Rahmen des DFG-Graduiertenkollegs unter Leitung von Ulrich Wagner und Wilhelm Heitmeyer.

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