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Titel
Armes Russland. Bettler und Notleidende in der russischen Geschichte vom Mittelalter bis in die Gegenwart


Autor(en)
Jahn, Hubertus F.
Erschienen
Paderborn 2010: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
250 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hans-Christian Petersen, Historisches Seminar, Abteilung für Osteuropäische Geschichte, Johannes Gutenberg-Universität Mainz

„Reichtum vergeht, aber Armut lebt fort.“ Dieses russische Sprichwort, das dem hier zu besprechenden Buch voran gestellt ist, benennt die Kontinuität von Armut als einen fortwährenden Bestandteil menschlicher Gesellschaften und stellt auch für die Zukunft keine Besserung in Aussicht. So wenig erfreulich diese Einschätzung ist, so verweist sie doch zugleich auf die Bedeutung, die dem Thema zukommt, was zu der Annahme verleiten könnte, dass eine entsprechend breite Forschungsliteratur zu Fragen der Erscheinungsformen und Ursachen von Hunger, Kälte und Obdachlosigkeit in der russischen Geschichte existiert. Dem ist jedoch nicht so, und Hubertus Jahn gehört zu einer überschaubaren Zahl von Forschern und Forscherinnen, die sich seit Jahren kontinuierlich mit den häufig als „dunkel“ beschriebenen Aspekten der menschlichen Historie beschäftigen.1 Entsprechend erfreulich ist es, dass die lange erwartete Monographie hierzu, die im Kern auf seiner Habilitationsschrift beruht, nun vor wenigen Monaten erschienen ist.

Der Textteil des Buches ist mit 152 Seiten vergleichsweise kompakt und übersichtlich ausgefallen. Er wird jedoch ergänzt durch einen sehr umfangreichen Anhang, der neben ausführlichen Belegen und Verweisen eine Vielzahl von Daten und Abbildungen enthält, die von der Intensität zeugen, mit welcher der Verfasser sich in die Thematik vertieft hat. In seiner Einleitung macht er deutlich, dass es ihm nicht darum geht, eine Universalgeschichte der Bettelei in Russland zu liefern, was angesichts der Schwierigkeiten, die die Quellenlage mit sich bringt, auch ein hoffnungsloses Unterfangen gewesen wäre. Jahns Aufmerksamkeit gilt stattdessen in erster Linie der Untersuchung von Armut und Bettelei als „Objekte[n] sozialer Imagination“ (S. 16), also der Frage nach der Wahrnehmung, Darstellung und Klassifizierung von Armen in verschiedenen historischen Kontexten. Den zeitlichen Bogen spannt er vom Mittelalter bis zur post-sowjetischen Gegenwart, wobei ein deutlicher Akzent auf der zweiten Hälfte des 19. und dem beginnenden 20. Jahrhundert liegt. Auch geographisch erfolgt eine Schwerpunktsetzung auf Sankt Petersburg, womit Jahn der etablierten Forschungsmeinung folgt, dass sich Veränderungen der Moderne im Russländischen Reich zuerst und am markantesten in der Metropole an der Newa zeigten. Zugleich beschränkt er sich nicht allein auf die Residenzstadt der zarischen Herrschaft, sondern beleuchtet zumindest partiell auch Entwicklungen in anderen Städten und auf dem Land. Dies gelingt ihm vor allem dank der breiten Auswahl verschiedener Quellengattungen, die von mittelalterlichen Chroniken über Archivmaterialien bis hin zu publizistischen, literarischen und bildlichen Darstellungen reichen.

Wie auch bereits andere Autorinnen und Autoren vor ihm konstatiert Jahn für das Mittelalter und die frühe Neuzeit die orthodoxe Tradition der Mildtätigkeit, die für die Einstellung der russischen Gesellschaft gegenüber Armen und Bettlern kennzeichnend war.2 Der Arme galt als edler Mensch und in seinem Leiden als Verkörperung Christi, das Geben von Almosen somit als Ausdruck christlicher Nächstenliebe und zugleich als Voraussetzung für die eigene Erlösung.

Dieses Bild des gottgefälligen Bettlers begann sich mit dem ausgehenden 17. Jahrhundert zu wandeln. Im Zuge des Vordringens rationalistischer Erklärungsmuster wurden Arme zunehmend am Ideal des selbstverantwortlichen und arbeitsfähigen Menschen gemessen, sie mussten sich an bestimmten Orten aufhalten und, wenn irgend möglich, einer Arbeit nachgehen. Wie Jahn summarisch zeigt, dominierte diese zwischen Zwang und Fürsorge schwankende Strategie die Politik des absolutistischen Staates bis ins 19. Jahrhundert, ungeachtet dessen, dass die meisten Maßnahmen, wie etwa ein 1741 erlassenes generelles Verbot der Niederlassung von Bettlern in Sankt Petersburg, mit der Realität wenig zu tun hatten. Das 1837 von Nikolaus I. in der Hauptstadt eingesetzte Bettlerkomitee, dessen erste Aufgabe es war, die Obdachlosen zu klassifizieren, interpretiert er denn auch als Eingeständnis, dass sich die soziale Realität nicht per Ukas ändern ließ und man sich nun darum bemühte, die Armut zu erfassen und sie zu verwalten.

Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts wurden die städtischen Armutsviertel und ihre Bewohner zu einem Gegenstand öffentlichen Interesses, das von verschiedenen Seiten mit entsprechend grellen Schilderungen bedient wurde. Durch eine vergleichende Lektüre zeitgenössischer Publikationen wird anschaulich deutlich gemacht, wie literarische Typologisierungen von Bettlern entstanden und wie bestimmte, allgemein bekannte Orte wie die Wjasemskaja lawra am Petersburger Heumarkt zur Konstruktion einer „imaginäre[n] Geographie des ‚anderen‘ Petersburgs“ (S. 122) benutzt wurden.

Neben dieser Vermarktung der Armut gab es seitens des Staates das Bedürfnis, einen Überblick über Ausmaß und Ursachen des Bettelns im gesamten Herrschaftsbereich zu erlangen. Durch die Auswertung der Akten einer beim Justizministerium eingesetzten Kommission sowie einer umfangreichen Befragungsaktion russischer Ethnographen um die Jahrhundertwende gelingt es Jahn, die Heterogenität des Imperiums deutlich zu machen; so gab es etwa große Unterschiede zwischen mehrheitlich orthodoxen Gebieten mit ihrer nach wie vor vorhandenen Kultur des Almosengebens sowie muslimisch und lutheranisch geprägten Regionen, in denen keine vergleichbare Tradition des Bettelns existierte.

Im Gegensatz zu diesen eingehenden Analysen fällt die Darstellung der Entwicklung unter sowjetischer Herrschaft sehr knapp aus. Das ist zwar bedauerlich, aber auch leicht erklärbar, wenn man bedenkt, dass es im Selbstverständnis der neuen Machthaber kein Armutsproblem geben durfte und Begriffe wie „nischtschenstwo“ (Bettelei) in der offiziellen Sprache nicht existierten. Dies änderte freilich nichts daran, dass die Straßen der Städte in der Folge von Zwangskollektivierung und forcierter Industriealisierung voll waren mit Menschen, denen es am Überlebensnotwendigsten mangelte. Die Bolschewiki reagierten hierauf 1932 mit der Einführung eines Meldesystems, das für diejenigen, die über keine gültige Registrierung verfügten, die Stigmatisierung als „Parasit“ und damit die Einweisung in ein Arbeitslager oder die direkte Erschießung zur Folge hatte.

Armut und Bettelei sind mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion nicht aus dem russischen Alltag verschwunden, und die Entwicklung seit den 1990er-Jahren gibt auch keinen Anlass zu der Annahme, dass sich dies in absehbarer Zeit ändern würde. Die kulturellen Aspekte dieser „neuen Armut“ sind bisher kaum erforscht, auf Grundlage eigener Beobachtungen sowie einer von Marija Kudrjavceva betreuten anthropologischen Feldstudie am Petersburger Centre for Independent Social Research kann Jahn jedoch zumindest einige interessante Feststellungen treffen. So nahm in der postsowjetischen Zeit nicht nur das öffentliche Betteln insgesamt wieder zu, sondern es konzentriert(e) sich häufig auch an den gleichen Orten wie bis 1917, so etwa in Sankt Petersburg entlang des Newskii Prospekts und rund um den Heumarkt. Ebenso kehrten bestimmte Typen von Bettlern zurück, und auch das Geschäft mit der Armut lebte wieder auf: Die Romane von Krestowskii, Swirskii und anderen wurden neu aufgelegt und teilweise sogar verfilmt.

Helmut Jahn hat ein Buch zu einer wichtigen und hochinteressanten Thematik vorgelegt, das durch inhaltliche Stringenz überzeugt und zudem sehr anregend geschrieben ist. Zugleich bietet es durch seine Begrenzung auf die Beschreibung von Armut und Bettelei als Objekten sozialer Imagination genügend Anknüpfungspunkte für weitere Projekte. So ließe sich etwa an eine Untersuchung der Perspektiven „von unten“ denken, also daran, wie Arme selbst den städtischen Raum, in dem sie sich bewegten, wahrgenommen haben. Lohnenswert wäre zudem eine stärkere Berücksichtigung vergleichender Perspektiven mit entsprechenden Entwicklungen in Westeuropa oder auch in den USA, um das nach wie vor dominierende Bild einer russischen Sonderentwicklung einer Überprüfung zu unterziehen. Für alle zukünftigen Arbeiten zu Armut in der russischen Geschichte wird das Buch von Hubertus Jahn einen unverzichtbaren Bezugspunkt darstellen, mit dem der bisherige Forschungsstand eine deutlich verbesserte Grundlage erhalten hat.

Anmerkungen:
1 Vgl. u.a. die folgenden Aufsätze von Hubertus Jahn: Der St. Petersburger Heumarkt im 19. Jahrhundert. Metamorphosen eines Stadtviertels, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 44 (1996), S. 162-177; Bettler in St. Petersburg. Gedanken zur kulturellen Konstruktion von sozialer Realität, in: Guido Hausmann (Hrsg.), Gesellschaft als lokale Veranstaltung. Selbstverwaltung, Assoziierung und Geselligkeit in den Städten des ausgehenden Zarenreiches, Göttingen 2002, S. 433-445; Health Care and Poor Relief in Russia. 1700-1856, in: Ole Peter Grell u.a. (Hrsg.), Health Care and Poor Relief in 18th and 19th Century Northern Europe, Aldershot 2002, S. 157-171; Das St. Petersburger Bettlerkomitee. 1837-1917, in: Beate Althammer (Hrsg.), Bettler in der europäischen Stadt der Moderne. Zwischen Barmherzigkeit, Repression und Sozialreform, Frankfurt am Main u.a 2007, S. 91-111.
2 Vgl. u.a. Adele Lindenmeyr, Poverty is not a Vice. Charity, Society, and the State in Imperial Russia, Princeton, New Jersey 1996; Irina Pavlova, Social’noe popečenie v Rossii v konce XIX – načale XX veka, Krasnojarsk 2003; Olga Pavlova, Predprinimatel’stvo, prizrenie i blagotvoritel’nost’ v Sankt-Peterburge. Vtoraja polovina XIX - načalo XX vekov, Sankt- Peterburg 2007.

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