B. Niven u.a. (Hrsg.): Memorialization in Germany since 1945

Cover
Titel
Memorialization in Germany since 1945.


Herausgeber
Niven, Bill; Paver, Chloe
Erschienen
Basingstoke 2010: Palgrave Macmillan
Anzahl Seiten
XV, 421 S.
Preis
£ 65.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stephan Scholz, Institut für Geschichte, Carl von Ossietzky-Universität Oldenburg

„Je weiter sich die Ereignisse des Zweiten Weltkrieges von uns entfernen, desto näher rücken die Denkmäler“, schrieb James E. Young vor einigen Jahren.1 Man möchte dem sofort zustimmen, wenn man den Sammelband von Bill Niven und Chloe Paver in die Hand nimmt. 37 Beiträge sind hier versammelt, in denen es um die deutsche Gedenkkultur seit 1945 geht. Die beiden Herausgeber zielen dabei vor allem auf räumliche und zeitliche Orte ab, die bewusst und intentional als Gedenkorte geschaffen oder gestaltet wurden. Sie gehen damit ausdrücklich auf Distanz zum weiter gefassten Konzept der Erinnerungsorte, wie es zunächst von Pierre Nora und dann für Deutschland von Etienne François und Hagen Schulze entwickelt worden ist. Nimmt die Erforschung von Erinnerungsorten tendenziell alles in den Blick, worum sich kollektive Erinnerungen kristallisieren, wählen Niven und Paver eine enger gefasste Perspektive. Konzeptuell erinnert ihr Ansatz an Peter Reichels Analyse von „topographischen und kalendarischen Gedächtnisorten“ der „offiziellen Memorialkultur“2 – Reichel wird allerdings nicht genannt. Auch seine Konzentration auf das Gedenken an die nationalsozialistische Vergangenheit findet eine Entsprechung, beziehen sich doch die meisten Beiträge ebenfalls auf Gedenkorte, die an den Nationalsozialismus oder den Zweiten Weltkrieg erinnern. Allerdings geht der Sammelband von Niven und Paver hier noch weiter.

Ziel der Herausgeber ist es nämlich, anhand von Schlüsselbeispielen die ganze Breite des Spektrums deutscher Gedenkkultur nach 1945 aufzuzeigen, ohne dabei einen enzyklopädischen Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. Angesichts der konstatierten „messiness of memorial activity“ (S. 8) wirkt das Ganze eher kaleidoskopartig, und eine sinnvolle Gliederung der Beiträge ist offenbar nicht leichtgefallen. Die Herausgeber haben sich für eine Aufteilung in fünf etwa gleich lange Teile mit je sieben bis acht Aufsätzen entschieden.

Der erste Teil behandelt das Gedenken an die deutschen Kriegs- und Kriegsfolgenopfer, womit an eine frühere Publikation von Bill Niven angeknüpft wird.3 Die Dominanz der deutschen Opfer im Gedenken der 1950er-Jahre und die Wiederkehr dieser Perspektive (schon) seit den 1980er-Jahren zeigen sich unter anderem an der großen Zahl der Vertriebenendenkmäler, die in diesen beiden Jahrzehnten errichtet worden sind, wie der Beitrag von Hans Hesse und Elke Purpus belegt. Die hier festgestellte Verlagerung des Erinnerungszwecks von territorialen Revisionsansprüchen hin zu einem Opferdiskurs seit den 1990er-Jahren wird in Dagmar Kifts Beitrag über drei jüngere Ausstellungen zu Flucht und Vertreibungen bestätigt. Dass die Herkunft der Vertriebenen in der DDR nicht so pauschal tabuisiert war wie oft angenommen, zeigt Christian Lotz’ vergleichende Analyse von Straßennamen in Dresden und Mainz, die auf ehemals von Deutschen bewohnte Gebiete im Osten verweisen. Während Daniela Sandler in einer Untersuchung von Dauerausstellungen in Kirchen eine historische Dekontextualisierung der Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg beklagt, die zum deutschen Opfernarrativ beitrage, kritisiert Jörg Arnold den funktionalistischen Zugang, der sich auf die Frage nach einer gelungenen Vergangenheitsbewältigung konzentriere. Er fordert stattdessen eine stärkere Berücksichtigung der Bedeutung öffentlichen Gedenkens für die Bewältigung von individuellem Verlust und Schmerz, kann das in seinem eigenen Beitrag zum Gedenken an die deutschen Bombenopfer aber selbst nur bedingt einlösen. Alexandra Kaiser und David Livingstone schließlich verweisen auf die problematische Rolle des Volksbunds Deutsche Kriegsgräberfürsorge für die bundesdeutsche Gedenkpraxis, insbesondere im Hinblick auf die Vermischung von deutschen Kriegs- und NS-Opfern.

Das Gedenken an verschiedene Gruppen von NS-Opfern und NS-Tätern ist das Thema des zweiten Teils. Susanne C. Knittel und Thomas O. Haakenson erläutern im Hinblick auf Gedenkorte für „Euthanasie“-Opfer und Homosexuelle die Verbindung historischen Gedenkens mit dem Anliegen, aktuelle Diskriminierungen abzubauen. Während sich Jens Nagel mit den unterschiedlichen Hintergründen der Tabuisierung sowjetischer und italienischer Kriegsgefangener in beiden deutschen Teilstaaten beschäftigt, untersucht Katie Rickard die Gründe für die positive Memorialisierung der Widerstandsgruppe der „Weißen Rose“ in der Bundesrepublik. Caroline Pearce und Markus Urban betonen anhand unterschiedlicher Fallbeispiele die Eignung und Bedeutung von Täterorten insbesondere für die politische Bildung, während Ulrike Dittrich Probleme in der privaten und touristischen Aneignung dieser Orte sieht. Dieter K. Buse schließlich nimmt die Landeszentralen für politische Bildung als Akteure in den Blick, die seit den 1980er-Jahren eine wichtige und von ihm äußerst positiv bewertete Rolle im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus einnehmen.

Der dritte Teil beschäftigt sich mit dem Gedenken an die jüdischen NS-Opfer. Während Harold Marcuse auf eine lang andauernde Vernachlässigung jüdischer Opfer in KZ-Gedenkstätten der Bundesrepublik hinweist, relativiert Bill Niven das pauschale Urteil, die jüdischen Opfer seien in der DDR verschwiegen worden. Hilary Potter untersucht den Gedenkort Rosenstraße in Berlin, Michael Imort erläutert den Erfolg der „Stolpersteine“ als einer dezentralen Denkmalform, und Corinna Tomberger analysiert zwei bekannte Gegendenkmäler in Hamburg und Kassel im Hinblick auf ihre Gender-Perspektiven. Während Brigitte Sion kritisiert, dass das Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin kaum eine Wirkung als Gedenkort entfalte und dass diese vielmehr auf das angehängte Dokumentationszentrum übergegangen sei, konstatiert Chloe Paver generell ein Verschwimmen der Grenzen zwischen Denkmälern und Ausstellungen. Eine Ausweitung des Denkmalbegriffs nimmt Laura Jockusch vor, die einer frühen Sammlung von Erinnerungen jüdischer Displaced Persons einen Denkmalcharakter zuspricht.

Der vierte Teil umfasst Beiträge zum sozialistischen Gedenken in der DDR und dem Gedenken an den Sozialismus im vereinigten Deutschland. Während Susanne Scharnowski den Heroismus von Denkmälern in der DDR herausstellt, der auf Kosten der Opfer des Nationalsozialismus gegangen sei, konstatiert Lynne Fallwell in ihrer Analyse von DDR-Reiseführern für ausländische Touristen eine Entwicklung vom Opfernarrativ, in das der Holocaust integriert gewesen sei, hin zum heroischen Narrativ, in dem die jüdischen Opfer keine Rolle mehr spielten. Riccardo Bavaj und Anna Saunders untersuchen Berliner Initiativen für ein Rosa-Luxemburg-Denkmal einerseits und für ein Denkmal für die Opfer des 17. Juni 1953 andererseits. Mia Lee beleuchtet den Umgang mit DDR-Denkmälern in Berlin nach 1990. Gert Knischewski und Ulla Spittler analysieren Gedenkstätten an der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze. Andrew H. Beattie schließlich zeigt den schwierigen Umgang mit der ‚doppelten’ deutschen Vergangenheit am Beispiel Torgaus, wo am selben Ort sowohl der Opfer der Wehrmachtsjustiz als auch der Opfer eines sowjetischen Speziallagers gedacht wird.

Der fünfte Teil widmet sich dem öffentlichen Gedenken unterschiedlicher Gegenstände, Ereignisse oder Phasen aus der deutschen Geschichte vor 1933. Im Rahmen des deutsch-deutschen Systemgegensatzes untersuchen hier vergleichend Ulrike Zitzlsperger die Funktionalisierung Martin Luthers, Arne Segelke den Umgang mit der Novemberrevolution von 1918 und Bill Niven die Umdeutung von Denkmälern des Kaiserreiches. Die (Um-)Nutzung von Kolonialdenkmälern nach 1945 zeigt Jason Verber auf. Sebastian Ullrich analysiert das angespannte Verhältnis der Bundesrepublik zur Negativfolie der Weimarer Republik. Jörg Echternkamp gibt einen kurzen Überblick zur Gedenkkultur der Bundeswehr sowie zu bundesdeutschen Gedenkorten für deutsche Soldaten. Georg Götz schließlich beschreibt mit dem Gedenken der Stadt Wilhelmshaven an die Skagerrak-Schlacht ein Beispiel lokaler Identitätsbildung, das nationale Bedeutung in Anspruch nimmt.

Die Bandbreite und Heterogenität der hier versammelten Beiträge ist groß. Die Grenze zum Konzept der Erinnerungsorte ist in der Durchführung nicht immer wirklich trennscharf. Der Sammelband bietet aber einen wertvollen Fundus neuerer Einsichten in die deutsche Gedenkkultur nach 1945.

Anmerkungen:
1 James E. Young, Formen des Erinnerns. Gedenkstätten des Holocaust, Wien 1997, S. 27.
2 Peter Reichel, Politik mit der Erinnerung. Gedächtnisorte im Streit um die nationalsozialistische Vergangenheit, überarb. Ausg. Frankfurt am Main 1999, S. 13, S. 20.
3 Bill Niven (Hrsg.), Germans as Victims. Remembering the Past in Contemporary Germany, Basingstoke 2006 (rezensiert von Krijn Thijs, in: H-Soz-u-Kult, 16.04.2007, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2007-2-031> (02.07.2010)).