Titel
Die Shoah in Belgien.


Autor(en)
Meinen, Insa
Reihe
Veröffentlichungen der Forschungsstelle Ludwigsburg 15
Erschienen
Anzahl Seiten
254 S.
Preis
€ 59,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Alfred Gottwaldt, Deutsches Technikmuseum Berlin

Während der Holocaust in den Ländern Osteuropas mit einer großen Anzahl gewichtiger Studien untersucht wurde, sind wissenschaftliche Bücher über die mörderischen Vorgänge der Shoah im Westen und Süden Europas nur selten anzutreffen. Das hier anzuzeigende Werk von Insa Meinen versteht sich als erste deutschsprachige Darstellung des Themas. Diese bezieht sich auch auf das Projekt „Holocaust und Polykratie in Westeuropa“ von Wolfgang Seibel an der Universität Konstanz. Die Verfasserin ist Historikerin an der Universität Oldenburg und freie Mitarbeiterin der Université libre de Bruxelles. Sie ist durch ein Werk über „Wehrmacht und Prostitution im besetzten Frankreich“ von 2002 sowie durch mehrere Aufsätze zur Judenverfolgung im besetzten Belgien hervorgetreten.

Das beschriebene Defizit an deutscher Darstellung des in Berlin beschlossenen Mordes an Juden aus Belgien mag teilweise mit der scheinbar niedrigen Zahl der Opfer zu tun haben. In dem kleinen neutralen Land wurden auf deutsches Geheiß während des Zweiten Weltkriegs etwa 25 000 Menschen, die Hälfte der registrierten Juden, verhaftet und nach Auschwitz deportiert. Zu einem erheblichen Teil von mehr als 80 Prozent handelte es sich um Immigranten der Vorkriegszeit aus Polen, Deutschland und Österreich. Auch berühmte Namen – wie Jean Améry, Felix Nussbaum oder Paul Spiegel – waren unter den auf belgischem Boden verfolgten Juden. Immerhin hat die Darstellung eines Überfalls auf den Transportzug des XX. Konvoi im besetzten Belgien am 19. April 1943 durch Marion Schreibers Buch „Stille Rebellen“ von 2000 große Beachtung gefunden.

In französischer Sprache sind seit 1980, dem Beginn des Kieler Strafprozesses gegen den früheren SS-Obersturmführer Kurt Asche als „Beauftragter der Sicherheitspolizei und des SD“ in Brüssel, mehrere bedeutende Schriften zum Thema von Maxime Steinberg, Serge Klarsfeld, Lieven Saerens, Jean-Philippe Schreiber und Rudi Van Doorslaer erschienen. Die neue Veröffentlichung setzt demgegenüber nicht mehr auf lexikalische Vollständigkeit, sondern auf Mitteilung ergänzender Forschungsergebnisse: Wie und mit wessen Beihilfe Eichmanns einzelne Statthalter in Brüssel die Juden in ihre Gewalt brachten, bildet einen Leitfaden des Buches. Ein weiterer Schwerpunkt ist den „Rettungsanstrengungen der Juden“ gewidmet, also wie sich die Masse der jüdischen Bevölkerung vor Verhaftung und Deportation zu schützen trachtete. Demgegenüber werden die wirtschaftliche Ausplünderung der Juden, ihre Beteiligung am nationalen Widerstand und die Hilfe von nichtjüdischen Unterstützern bewusst nur gestreift, weil sie als hinreichend beschrieben gelten können.

Die Arbeit von 170 Seiten Textumfang zuzüglich 33 Seiten mit Anmerkungen ist in fünf umfangreiche Kapitel gegliedert. Zunächst werden die Herrschaftsverhältnisse in Belgien sowie die dort ergriffenen formellen Maßnahmen der Judenverfolgung geschildert. Dazu gehören das Verhältnis zwischen einer die meisten Felder beherrschenden Militärverwaltung unter General Alexander von Falkenhausen einerseits und den Beauftragten Himmlers, Heydrichs oder Eichmanns in Brüssel andererseits, ferner ihre nicht immer reibungslose Zusammenarbeit mit den belgischen Behörden. Hier werden immer wieder Unterschiede zum besetzten Frankreich sichtbar.

Der nächste Abschnitt beschreibt die Zwangsvereinigung der belgischen Juden, welche nicht nur als passives Instrument der deutschen Machthaber im Lande angesehen wird. Das dritte Kapitel widmet sich der Frage, wie die Juden in Belgien verhaftet wurden, und kommt zu dem frappierenden Schluss, das hier weniger die bislang zumeist erwähnten „Großrazzien“ mit belgischer Hilfe, sondern vielmehr zahllose Einzelaktionen deutscher Dienststellen zu beobachten waren: Devisenschutzkommandos der Finanzverwaltung und die zur Gestapo zählende Grenzpolizei ergriffen viele Juden insbesondere an den Grenzen zu den Niederlanden oder Frankreich, wenn sie sich der Verhaftung zu entziehen versuchten.

Festnahmekommandos des Judenreferats durchstreiften die großen Städte Belgiens, während eine Mitwirkung belgischer Polizei an den Verhaftungen entgegen bisheriger Erkenntnis wohl weniger bedeutend war. Im vierten Abschnitt wird – gemeinsam mit Ahlrich Meyer – am Beispiel des Konvois XXI vom 31. Juli 1943 aus dem Durchgangslager Malines (Mechelen) nach Auschwitz die Gegenwehr der von Deportation bedrohten Menschen dargestellt. Damit werden Lebensläufe und Strategien nicht nur von Überlebenden der Shoah, sondern eher die am Ende erfolglosen Handlungen einer Gruppe von mehr als 1500 Opfern der Verfolgung betrachtet. Die einzelnen Provenienzen der Herkunft dieser Menschen werden detailliert geschildert, darunter die Herkunftsländer ebenso wie die Merkmale „Geflohene aus früheren Transporten“ oder „Versteckte Kinder“. Im letzten Kapitel schließt sich ein Vergleich der gewonnenen Erkenntnisse mit den „Techniken der Menschenjagd“ im Vorfeld von vier weiteren Transporten während der Jahre 1942 bis 1944 an. Hier wird die jeweils wechselnde Mitwirkung des Brüsseler „Judenreferats“ der Sicherheitspolizei, der Geheimen Feldpolizei, der Feldgendarmerie, der belgischen Polizei und einheimischer Helfershelfer nachgezeichnet. Dabei werden Unterschiede zwischen den Städten Antwerpen, wo die Hälfte der Juden in Belgien lebte, und Brüssel deutlich.

Das benutzte Quellenmaterial belgischer und deutscher Herkunft, trotz signifikanter Lücken bemerkenswert ergiebig, ist mühevoll zusammengetragen und zu weiten Teilen erstmals veröffentlicht. Dies gilt vor allem für das Archiv der Zwangsvereinigung der Juden in Belgien, für reichhaltige Personenkarteien unterschiedlicher Herkunft, für Akten der belgischen Militärgerichtsbarkeit aus Kollaborationsverfahren der Nachkriegszeit und für Personendossiers der belgischen Kriegsopferversorgung. Ein umfänglicher Anhang enthält neben Anmerkungen und Quellenverzeichnis noch eine Karte Belgiens, eine Liste der Transporte nach Auschwitz, zwei Organigramme sowie rund vierzig biografische Skizzen.

Mit ihrer Beobachtung, dass die Mitwirkung der belgischen Polizei an den Deportationen gegenüber der Rolle deutscher Funktionäre bislang erheblich überbewertet wurde, stellt sich Insa Meinen in einen begründeten Gegensatz zu tradierten Forschungsergebnissen. Nach ihrer Feststellung waren Belgier nur an einem Fünftel der Verhaftungen beteiligt, während in Frankreich die Vichy-Polizei eine Mehrzahl der Juden festnahm. Damit liefert sie einen wertvollen Beitrag zur differenzierten Betrachtung der „Handlungsspielräume“ unter den Vertretern von Militär, Besatzungsverwaltung, Polizei und einheimischer Exekutive in den besetzten Ländern Westeuropas.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension