M. Steinkühler: Der deutsch-französische Vertrag von 1963

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Titel
Der deutsch-französische Vertrag von 1963. Entstehung, diplomatische Anwendung und politische Bedeutung in den Jahren von 1958-1969


Autor(en)
Steinkühler, Manfred
Reihe
Zeitgeschichtliche Forschungen 14
Erschienen
Anzahl Seiten
212 S.
Preis
€ 18,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Henning Türk M.A., Fachbereich I, Abteilung Geschichte des 19. und 20. Jh., Universität Gesamthochschule Essen

Der deutsch-französische Vertrag von 1963 stellte die Beziehungen der beiden ehemals verfeindeten Nachbarstaaten auf eine völlig neue Grundlage. Vereinbart wurden regelmäßige Konsultationen in den Bereichen der Außenpolitik, der Verteidigung, der Erziehungs- und Jugendfragen mit dem Ziel, vor allem in der Außenpolitik „so weit wie möglich zu einer gleichgerichteten Haltung zu gelangen“1.

Die Bedeutung dieses Vertrages ist bisher kaum untersucht worden. Während die deutsch-französischen Beziehungen zwischen 1949 und 1963 durch das kürzliche erschienene Werk Ulrich Lappenküpers 2 detailliert beleuchtet worden sind, ist über die Geschichte des deutsch-französischen Vertrag zwischen 1963 und 1969 erst eine politikwissenschaftliche Dissertation erschienen 3, die 1980 veröffentlicht worden ist und daher nur auf bis dahin veröffentlichtem Quellenmaterial beruht, aber bei Steinkühler erstaunlicherweise keine Berücksichtigung findet. Ansonsten sind die deutsch-französischen Beziehungen in den 1960er Jahren zwar bereits unter verschiedenen Blickwinkeln untersucht worden; eine den heutigen Wissenstand reflektierende Monographie der Geschichte des deutsch-französischen Vertrages in diesem Zeitraum ist aber noch nicht veröffentlicht worden. Diese Lücke versucht Steinkühler zu schließen mit einem Schwerpunkt auf der Frage „nach dem Verhältnis zwischen dem deutsch-französischen Vertrag und der Atlantischen Allianz sowie dem europäischen Integrationsprozeß"(S. 10). Auch die Bedeutung des Vertrages im Ost-West-Konflikt und für die Politik der Wiedervereinigung soll untersucht werden (S. 10).

Der Autor stützt sich dabei überwiegend auf veröffentlichtes Quellenmaterial. Grundlage seiner Analyse sind die Gesprächsprotokolle der Gipfeltreffen zwischen dem französischen Staatspräsidenten de Gaulle und den deutschen Bundeskanzlern Adenauer, Erhard und Kiesinger. Diese Protokolle lassen sich zum größten Teil in der Aktenedition des Auswärtigen Amtes „Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland“ (AAPD) finden. Steinkühler vergleicht sie mit den Gesprächsaufzeichnungen und Informationserlassen des Ministère des Affaires Etrangères. Auch die ungedruckten Quellen des Goethe-Instituts Paris wertet er aus. Verwendung finden auch einige Aufzeichnungen des Auswärtigem Amtes, deren Auswahlkriterien aber nicht immer klar sind. Daneben benutzt der Autor die mittlerweile umfangreiche Memoirenliteratur über den Untersuchungszeitraum, zieht wichtige Sekundärliteratur heran und läßt seine Zeitzeugenschaft als ehemaliger Mitarbeiter des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung sowie des Auswärtigen Amtes einfließen.

Zu Beginn seines Buches macht Steinkühler deutlich, daß es aus deutscher Sicht geschrieben ist (S. 8). Das wird auch am chronologischen Aufbau des Buches deutlich, der sich konsequent an den deutschen Regierungswechseln orientiert. Im ersten Kapitel, das sich den deutsch-französischen Beziehungen in der Ära Adenauer widmet, beschreibt Steinkühler vor allem die Entstehung des deutsch-französischen Vertrages und die Voranstellung einer Präambel im Zuge des Ratifikationsverfahrens durch den deutschen Bundestag, die auf die Wichtigkeit der deutsch-amerikanischen Partnerschaft verweist. Dadurch wurden die amerikanischen Bedenken gegen eine exklusive deutsch-französische Zusammenarbeit zwar vermindert; bei de Gaulle jedoch löste die parlamentarische Behandlung des Vertrages in der Bundesrepublik aber „Enttäuschung und Verbitterung“ (S. 69) aus. Zu den Interessen Adenauers und de Gaulles bei Abschluß des Vertrages äußert sich Steinkühler nur indirekt, indem er die Urteile anderer Historiker kommentiert, ohne deutlich zu machen, auf welcher Grundlage seine Kommentare beruhen (S. 72). Er kommt dann zu dem Fazit, daß der deutsch-französische Vertrag in der 130jährigen Verlaufsgeschichte der deutsch-französischen Beziehungen von 1871 bis heute das fehlende bilaterale Bindeglied bilde, „um die fortbestehenden, historisch begründeten unterschiedlichen Sichtweisen zwischen Deutschland und Frankreich im beiderseitigen, aber auch im europäischen und allgemeinen internationalen Interesse nach den dafür vereinbarten diplomatischen Verfahren ausgleichen und annähern zu können.“ (S. 75).

Im zweiten Kapitel schildert Steinkühler die Entwicklung des Vertrages unter der Regierung Erhard. Zwischen 1963 und 1966 verliefen die vertraglich vorgesehenen Konsultationen in einer stark belasteten Atmosphäre, was Steinkühler vor allem auf Bundeskanzler Erhard und Außenminister Schröder zurückführt. Erhard und de Gaulle habe vor allem ihr Verständnis der Macht getrennt (S. 84), wohingegen bei Schröder Überheblichkeit und Provinzialismus eine für deutsche Interessen nachteilige Verbindung eingegangen seien (S. 99).

Im letzten Kapitel seines Hauptteils untersucht Steinkühler die Vertragsgeschichte unter der Regierung der Großen Koalition. Nach einem von großen Erwartungen beider Seiten geprägten Neubeginn (S. 145) verschlechterte sich das deutsch-französische Verhältnis aber zusehends wieder und erreichte einen Tiefpunkt mit de Gaulles „prinzipielle[r] Philippika gegen die deutsche Außenpolitik“ (S. 173) beim deutsch-französischen Gipfeltreffen am 27./28.9.1968 in Bonn, mit der de Gaulle unter anderem der deutschen Ostpolitik eine Mitschuld an der militärischen Niederschlagung des „Prager Frühlings“ durch die UdSSR gab. Beim letzten Gipfeltreffen am 13./14.3.1969 in Paris attestiert Steinkühler nur noch einen „klägliche[n] modus vivendi“ (S. 181).

In seiner Schlußbetrachtung kommt Steinkühler zu einem zwiespältigen Fazit. Einerseits bezeichnet er den Vertrag als „Wende in den bilateralen Beziehungen zwischen den beiden Staaten und Völkern“ (S. 196), stellt andererseits aber fest, daß die beiden Völker sich um die Jahrtausendwende einander fremder geblieben seien als Deutsche und Angelsachsen (S. 201).

So interessant und spannend dieses Buch auf den ersten Blick erscheint, so enttäuschend fällt es doch insgesamt aus. Dafür gibt es mehrere Gründe: Zum einen wird die Herangehensweise Steinkühlers dem Untersuchungsgegenstand nicht gerecht. Es reicht zur Analyse der Anwendung des deutsch-französischen Vertrages nicht aus, sich überwiegend auf die Gesprächsprotokolle der Gipfeltreffen zu stützen, die häufig nur einen allgemeinen Austausch über internationale und bilaterale Fragen wiedergeben. Wichtiger wäre es meines Erachtens, anhand der mittlerweile zugänglichen Quellen zu untersuchen, ob die in den Gesprächen geäußerten Gedanken und Überlegungen in der praktischen Politik umgesetzt wurden oder ob man sich nur gegenseitig eigene Gedanken vortrug, ohne daraus praktische Konsequenzen zu ziehen. Folgt man den Dokumenten des Auswärtigen Amtes, wirkte der deutsch-französische Vertrag Ende 1969 ernüchtert. So fragte der Staatssekretär im Auswärtigem Amt, Duckwitz, in einer Bemerkung am Rande des Gesprächsprotokolls der deutsch-französischen Direktorenbesprechung vom 10.11.1969: „Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß die Ergebnisse unserer Konsultationen immer magerer und die Gespräche selbst immer steriler werden. Wo ist - bei den wichtigen Fragen - eigentlich noch Übereinstimmung oder Zusammenarbeit?“4 Diese negative Einschätzung beruht aber nicht, wie Steinkühler immer wieder suggeriert, auf einer aus der Zeit des Nationalsozialismus herrührenden Frankophobie wichtiger Beamter des Auswärtigen Amtes, sondern auf beiderseitigen Enttäuschungen, die sich über Jahre hinweg summierten und deutlich machten, daß der jeweilige Partner die Erwartungen, die man in ihn setzte, nicht erfüllen konnte, weil man jenseits einer gemeinsamen Gipfelrhetorik über die großen Ziele der Politik doch unterschiedliche Interessen verfolgte. Das wird bei Steinkühler nicht deutlich, da er immer nur aus den Gesprächsprotokollen referiert und dadurch wichtige Entwicklungen der deutsch-französischen Beziehungen ausblendet, die in den Gesprächsprotokollen nicht oder nur am Rande erwähnt werden, das deutsch-französische Verhältnis und damit die Funktionsweise des Vertrages aber stark belasteten. Steinkühler läßt zum Beispiel die für die negative Entwicklung des deutsch-französischen Verhältnisses in der Regierungszeit der Großen Koalition mitentscheidende Bonner Währungskonferenz, bei der sich die Bundesregierung im November 1968 den französischen Aufwertungswünschen der D-Mark widersetzte, fast völlig außer Acht 5. Überhaupt nicht erwähnt wird das Debakel um den gescheiterten Verkauf von Anteilen der Gelsenberg AG an ein französisches Konsortium Anfang 1969 6. Auch die „Ravensburger Affäre“ um eine von dpa falsch übermittelte Rede Brandts, auf die de Gaulle heftig reagierte, wird in Steinkühlers Werk nicht behandelt, ebensowenig wie die „Soames-Affäre“, bei der de Gaulle im Februar 1969 der britischen Regierung über Botschafter Soames ein geheimes Gesprächsangebot über Fragen der NATO und der europäischen Einigung zukommen ließ und damit seine deutschen Partner brüskierte.7

Als weiteres Manko erweist sich der vom Titel her nicht zu erwartende Schwerpunkt des Buches auf der NS-Vergangenheit der deutschen Regierungsmitglieder und von Angehörigen des Auswärtigen Amtes. So wichtig eine Auseinandersetzung mit der Rolle des Auswärtigem Amtes im Nationalsozialismus und der Kontinuität seiner Tradition in der Nachkriegszeit auch ist, erscheint sie doch in einem Werk über den deutsch-französischen Vertrag in einem solchen Umfang deplaziert.

So bleibt die historische Darstellung und Analyse der Wirkungen des deutsch-französischen Vertrages von 1963-1969 weiterhin eine Forschungslücke, deren Schließung eine lohnenswerte Aufgabe ist.

Anmerkungen:
1 Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland: Dokumente von 1949 bis 1994, hrsg. vom Auswärtigen Amt, Köln 1995, S. 276.
2 Lappenküper, Ulrich: Die deutsch-französischen Beziehungen 1949-1963. Von der „Erbfeindschaft“ zur „Entente élementaire“, 2 Bände, München 2001 (= Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, Bd. 49).
3 Bauer, Johannes: Die deutsch-französischen Beziehungen 1963-1969. Aspekte der Entwicklung nach Abschluß des Vertrages vom 22. Januar 1963, Diss., Bonn 1980.
4Randbemerkung Duckwitz‘ auf der Aufzeichnung der Abteilung I des Auswärtigen Amtes vom 10.11.1969 betreffend Konsultationen der Leiter der politischen Abteilungen des deutschen und des französischen Außenministeriums am 10. November 1969 in Bonn, Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Bestand 21, Bd. 719.
5 Siehe hierzu u.a. aus französischer Sicht: Seydoux, François: Botschafter in Deutschland. Meine zweite Mission 1965 bis 1970, Frankfurt 1978, S. 151f.
6 Siehe hierzu: Ebd., S. 151f. und den Artikel „Bonn sagt nein zur Forderung de Gaulles nach Verkauf des Gelsenberg-Pakets. Wieder Belastungsprobe für deutsch-französisches Verhältnis“, Die Welt vom 8.1.1969, S. 9.
7 Zur „Ravensburger Affäre“ siehe u.a.: Bauer, Johannes, a.a.O., S. 486 ff. und zur „Soames-Affäre“ siehe u.a.: Bossuat, Gérard: De Gaulle et la seconde candidature britannique aux Communautés européennes (1966-1969), in: Loth, Wilfried (Hrsg.): Crises and Compromises: The European Project 1963-1969, Baden-Baden 2001 (= Veröffentlichungen der Historiker-Verbindungsgruppe bei der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Bd. 8), S. 529 ff.

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