J. Brunner: Politische Leidenschaften

Cover
Titel
Politische Leidenschaften. Zur Verknüpfung von Macht, Emotion und Vernunft in Deutschland


Herausgeber
Brunner, José
Reihe
Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 38
Erschienen
Göttingen 2010: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
316 S.
Preis
€ 38,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Nina Verheyen, Institut für Geschichte, Universität Wien

Politik ist nicht unbedingt ein schmutziges, aber mit Sicherheit ein emotionales Geschäft. Das war schon in der Antike bekannt, ist in den Sozialwissenschaften des 20. Jahrhunderts jedoch immer wieder vergessen worden – und findet dort nun umso stärkere Beachtung. Dabei geht es weniger um die Verunreinigung von Politik durch Emotion im Sinne einer unvermeidbaren Kontamination rationalen Handelns durch vermeintlich irrationale Gefühle. Gefragt wird vielmehr, inwiefern Politik von vornherein auf Emotionen angewiesen ist und von diesen gestaltet wird. Gefühle treten damit nicht nur negativ als Störfaktor, sondern auch und gerade positiv als unverzichtbares Element politischer Prozesse in Erscheinung.1 Wie produktiv diese Forschungsperspektive für die Analyse der deutschen Geschichte vom späten 18. bis ins frühe 21. Jahrhundert sein kann, lässt das „Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 38 (2010)“ erahnen. Unter der Herausgeberschaft von José Brunner vereinigt es fünfzehn Aufsätze aus Geschichte, Germanistik, Soziologie und Politologie über „Politische Leidenschaften. Zur Verknüpfung von Macht, Emotion und Vernunft in Deutschland“.

Die für den Titel gewählte Formel der „politischen Leidenschaften“ soll deutlich machen, so José Brunner im Editorial, dass es dem Jahrbuch nicht um „die rezeptive emotionale Seite historischer Erfahrung“ gehe, sondern um „jene Emotionen, die in einem politischen Rahmen als Handlungsmotive entscheidend wirken“ (S. 9). Damit steht der Band in einer Reihe mit einigen jüngeren geschichtswissenschaftlichen Publikationen, die dem „Handeln mit Gefühl“ (Daniela Saxer) auf die Spur zu kommen versuchen.2 Das gilt ebenso für den Anspruch, Emotionen und Vernunft nicht als einander ausschließende Größen, sondern in ihrer Verwobenheit zu untersuchen. Der Herausgeber setzt sich von jüngsten Forschungstrends aber auch ab. So warnt er vor einem konsequent historisierenden und konstruktivistischen Verständnis von Gefühlen. Zwar würden vor allem die im öffentlichen Raum zum Tragen kommenden Leidenschaften von der jüngeren deutschen Geschichtsschreibung als „kulturell konstruierte oder medial inszenierte Phänomene“ (S. 10f.) interpretiert. Aber es müsse doch „etwas vorausgesetzt werden“, um beispielsweise „Angst“ über die Jahrhunderte hinweg „stets als solche zu erkennen“ (S. 12). Um dieses zeitlose Substrat von Emotionen zu erfassen, das nach Brunner in neurophysiologischen, -psychologischen und -biologischen Mechanismen lagert, seien die Erkenntnisse der Neurowissenschaften zu berücksichtigen. Nur dann könnten Historiker/innen „in ihren Arbeiten den Leidenschaften eine signifikante Rolle zuschreiben“ (S. 12). Wie eine neurowissenschaftlich informierte historische Emotionsforschung aussehen könnte, zeigt das Jahrbuch allerdings nicht, denn kein einziger Beitrag stützt sich auf neurowissenschaftliche Literatur. Zudem plädieren mittlerweile auch Hirnforscher und Kognitionspsychologen dafür, Emotionen als erlernt und kulturell variabel zu fassen.3

Die in ihren methodischen Prämissen und ihrer Qualität sehr unterschiedlichen Aufsätze sind in vier Gruppen gebündelt. Zu Beginn geht es unter dem Titel „Historische Kausalitäten“ darum, wie sich Historiker mit der Rolle von Leidenschaften auseinandersetzen und wie historische Akteure von Leidenschaften beeinflusst wurden. Während Eva Horn die erste Frage bearbeitet, indem sie nach Narrativen des Gefühls in den einschlägigen Hitler-Biographien von Joachim Fest und Ian Kershaw fragt, widmet sich Birgit Aschmann den historischen Akteuren selbst. Sie sieht in der Verletzung von Ehre ein entscheidendes Motiv für die Kriegserklärung Friedrich Wilhelms III. an Frankreich 1806. Dabei will sie das „Ehrgefühl“ des Königs nicht als eine „individuelle Gefühlswallung“ (S. 24) verstanden wissen, sondern als eine in öffentlichen Diskursen modellierte und von sozialen Erwartungen gestaltete Leidenschaft. Die westlich-moderne Dichotomisierung von Vernunft und Gefühl wird von Aschmann gleichwohl fortgeschrieben, wenn sie etwa dem preußischen König attestiert, „alles andere als ein von Leidenschaften Getriebener“ gewesen zu sein, auch weil ihn seine Erzieher stets „zu vernunftgeleitetem Handeln angehalten“ hätten (S. 25).

Der zweite Abschnitt zum Thema „Demokratische Pädagogik“ umschifft solche methodischen Tücken weitgehend. Am Beispiel von Max Weber, Theodor W. Adorno und Arnold Zweig wird gezeigt, wie deutsche Schriftsteller und Wissenschaftler Emotionen in ihrem Werk konturierten. Insbesondere das Œuvre Max Webers erscheint nach der Lektüre in einem neuen Licht, denn sowohl Volker Heins als auch Rainer Schützeichel zeigen mit Nachdruck, dass Gefühlen in Webers Soziologie ein weit größerer und vor allem auch positiverer Stellenwert zukam als in der Regel angenommen. Weber, argumentiert Schützeichel, klammerte zwar die kurzfristigen, vor allem als passive Reizreaktionen gedachten „Affekte“ aus seiner Soziologie weitgehend aus beziehungsweise wies ihnen den Status eines Störfaktors rationalen Handelns zu. Das galt aber nicht für die als langfristig und stärker aktiv gedachten „Leidenschaften“, welche nach Weber das wert- und zweckrationale Handeln eines Individuums ermöglichten und motivational unterfütterten. Weniger das Problem der Affektkontrolle sei daher Webers Sorge gewesen, sondern das der Mobilisierung von Leidenschaften im okzidentalen Rationalismus. Das bestätigen die Beobachtungen von Volker Heins, der Weber und Adorno als Protagonisten einer öffentlichen Erziehung der Gefühle liest. Während sich Weber nach dem Ersten Weltkrieg allerdings um die gezielte Kultivierung und Kanalisierung politischer Leidenschaften bemühte, versuchte Adorno nach dem Zweiten Weltkrieg, die Deutschen mit dem Grauen des Holocaust zu konfrontieren und sie „ganz ohne Trost mit dem Gefühl der Sinnlosigkeit gleichsam allein zu lassen“ (S. 128).

Der dritte Abschnitt über „Imaginäre Inszenierungen“ schließt an solch pädagogische Ambitionen an und zeigt anhand mehrerer Fallstudien, wie die Grenze zwischen vermeintlich guten und vermeintlich schlechten Leidenschaften immer wieder neu gezogen und mit politischem Sinn gefüllt wurde. So legt Martina Kessel dar, warum westdeutsche Heimatfilme wie „Grün ist die Heide“ und „Waldwinter“ beim Publikum der 1950er-Jahre großen Anklang fanden, während der von der Kritik gelobte Spielfilm „Mamitschka“ floppte. Die erfolgreichen Heimatfilme verhandelten soziale und politische Ordnungen über die „angeblich rein privaten emotionalen Beziehungen zwischen Akteuren“ (S. 183) und boten der jungen Bundesrepublik dabei positive Identifikationsangebote. Nach den Jahren emotional aufgeladener Apelle setzten sie auf männlicher wie weiblicher Seite eine kontrollierte Gefühlsfähigkeit in Szene. Solche Ausgewogenheit konterkarierte dagegen die Satire „Mamitschka“, in der eine emotional enthemmte Flüchtlingsfamilie auf gefühlskalte Einheimische stieß – und scheiterte.

Der letzte Abschnitt über „Diskursive Manöver“ wendet sich dann dem Ausdruck und auch der Zuschreibung von Leidenschaften in politischen Auseinandersetzungen zu. Es geht unter anderem um den „Angstdiskurs in der westdeutschen Friedensbewegung“ (Judith Michel) oder die Funktionen von Neid- und Gierzuschreibungen in jüngeren deutschen Sozialstaatsdebatten (Frank Nullmeier). Doron Avraham dagegen richtet den Blick auf das 19. Jahrhundert und versucht, die gefühlsschwangere Rhetorik des deutschen Konservatismus vom Verdikt bloßen politischen Kalküls zu befreien. Vielmehr sei die Wertschätzung der Gefühle einer vom christlichen Konzept der „Liebe“ durchdrungenen konservativen Weltanschauung unmittelbar inhärent gewesen.

Insgesamt demonstriert das Jahrbuch nachdrücklich die Relevanz einer systematischen Verschränkung von Emotionen und Politik. Es verdeutlicht aber auch, wie problematisch solche Analysen werden können, sobald sie die Ebene der ideengeschichtlichen Rekonstruktion verlassen. Nicht zufällig bleibt die zentrale Frage des Bandes, wie Gefühle politisch handlungswirksam wurden, eher unterbelichtet. Denn um diese Frage überhaupt operationalisieren zu können, helfen weder Anleihen bei den Neurowissenschaften noch ahistorische Prämissen. Die Geschichtswissenschaft wird sich eher auf sich selbst besinnen müssen, was eben doch heißt: Gefühle konsequent zu historisieren.

Anmerkungen:
1 Vgl. den Forschungsüberblick von Florian Weber, Von den klassischen Affektenlehren zur Neurowissenschaft und zurück. Wege der Emotionsforschung in den Geistes- und Sozialwissenschaften, in: Neue Politische Literatur 53 (2008), S. 21-42.
2 Siehe einführend Daniela Saxer, Mit Gefühl handeln. Ansätze der Emotionsgeschichte, in: Traverse. Zeitschrift für Geschichte / Revue d’histoire 14, Nr. 2 (2007), S. 15-29.
3 Fay C. M. Geisler / Hannelore Weber, Sozial-konstruktivistischer Ansatz der Emotionspsychologie, in: Veronika Brandstätter / Jürgen H. Otto (Hrsg.), Handbuch der Allgemeinen Psychologie, Bd. 1, Göttingen 2009, S. 456-462.

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