Th. Bittner: Das westeuropäische Wirtschaftswachstum

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Titel
Das westeuropäische Wirtschaftswachstum nach dem Zweiten Weltkrieg. Eine Analyse unter besonderer Berücksichtigung der Planification und der Sozialen Marktwirtschaft


Autor(en)
Bittner, Thomas
Reihe
Münsteraner Beiträge zur Cliometrie und quantitativen Wirtschaftsgeschichte 9
Erschienen
Münster 2001: LIT Verlag
Anzahl Seiten
188 S.
Preis
€ 35,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gerhard Kling, Wirtschaftswissenschaftliches Seminar, Eberhard-Karls-Universität Tübingen

Das bemerkenswerte Wachstum Westeuropas nach dem zweiten Weltkrieg bis 1973, dem Zeitpunkt der ersten Ölkrise, der das Ende des „golden age“ markiert, ist seit längerem Gegenstand zahlreicher Publikationen. Die ungebrochene Popularität dieses Themas ist vor allem in der Annahme begründet, dass mit einer Identifikation der Faktoren, die das damalige Wachstum hervorriefen, eine Umsetzung in eine wachstumsfördernde Wirtschaftspolitik für die heutige Zeit gelänge. Eine solche erfolgversprechende Politik könnte insbesondere die Transformation ehemaliger Ostblockländer beschleunigen und wäre vielleicht ein Rezept zur Überwindung der aktuellen Wachstumsschwäche in Deutschland. Diese Lehren für einen erfolgreichen Wiederaufbau, die man aus dem „golden age“ ziehen kann, stellen, wie Thomas Bittner zurecht bemerkt, eine wesentliche Motivation dar, sich diesem Thema wissenschaftlich zu nähern.

Aufgrund der zahlreichen vorangegangenen Forschungen besteht eine Fülle von Erklärungsansätzen für das ungewöhnlich hohe Wirtschaftswachstum 1945 bis 1973 in Westeuropa. Durch eine Systematisierung dieser Hypothesen mittels einer Aufteilung in Faktoren, die Westeuropa als Ganzes betroffen haben, und in nationale Erklärungsansätze, die ein besonderes Gewicht auf den institutionellen Rahmen der einzelnen Länder legen, ermöglicht Bittner einen klaren Überblick. Inhaltlich verweist er im Zusammenhang gesamteuropäischer Erklärungsansätze auf die „extensive Aufholhypothese“, die sich stark am neoklassischen Wachstumsmodell nach Solow orientiert. Dabei ist die Kernaussage, dass ein Land, dass kriegsbedingt ein geringes anfängliches Einkommensniveaus besitzt, höhere Wachstumsraten aufweist, als Länder mit höherem Einkommensniveau (Z.B. USA und GB). Dieses Argument einer unbedingten Konvergenz stützt sich auf die Annahme gleicher Sparquoten, gleichem technischen Fortschritt (falls im Modell eingeschlossen) und identischem Bevölkerungswachstum. Demgegenüber stützt sich die „intensive Aufholhypothese“ auf die Übertragung des technischen Fortschritts vom führenden Land (USA) auf Westeuropa. Besonders wichtig ist hier die Bedeutung der Übertragungskanäle von technischem Know-how (z.B. durch amerikanische Direktinvestionen). Konvergenz geschieht nicht automatisch, sondern hängt vom institutionellen Rahmens (z.B. Patentrecht) des Landes ab. Den Abschluss der westeuropäischen Erklärungsansätze bildet die „Rekonstruktionshypothese“. Diese unterstellt einen langfristigen linearen Wachstumstrend des Bruttoinlandsprodukts, zu dem eine Volkswirtschaft hinstrebt. Ein Schock z.B. in Form eines Krieges führt zu einem Abweichen von diesem Wachstumstrend, da erhebliche Teile des Kapitalstocks vernichtet werden bzw. durch Engpässe (z.B. infolge zerstörter Transportwege) ein Großteil des Kapitalstocks nicht genutzt werden kann. Die Aufhebung dieser Engpässe nach einem Krieg führt zu einem raschen Anstieg der Wachstumsraten und zu einem Wiedererreichen des langfristigen Wachstumspfades.

Insbesondere bei der „Strukturbruchhypothese“, die sich in binnenwirtschaftliche (z.B. Zerschlagung von Interessensgruppen durch den Krieg) und außenwirtschaftliche Strukturbrüche (z.B. Bretton-Woods-Abkommen und internationale Institutionen wie z.B. IWF) untergliedert, werden nationale Besonderheiten erkennbar. Deutlich wird dieser Aspekt vor allem an den unterschiedlichen Zeitpunkten, zu denen sich Strukturbrüche beim Import/Einkommensverhältnis bzw. Export/Einkommensverhältnis, das als Maß für Handelsliberalisierung fungiert, in westeuropäischen Ländern ereignen. Dies bedeutet, dass sich die Handelsliberalisierung unterschiedlich auf einzelne Länder und damit auf das Wachstum auswirkt. Diese nationalen Differenzen machen eine Untersuchung hinsichtlich nationaler Erklärungsansätze notwendig, wobei sich Bittner auf den institutionellen Rahmen der sozialen Marktwirtschaft und der „Planification“ in Frankreich konzentriert. Dabei beschreibt Bittner die institutionellen Unterschiede und vergleicht zunächst deskriptiv die deutsche und französische Volkswirtschaft (z.B. Entwicklung der Staatsquote und Zusammenhang zum Wirtschaftswachstum). Diesem deskriptiven Teil schließt sich eine Kointegrationsanalyse des Exportwachstums beider Länder an, wobei insbesondere der Identifikation der Determinanten des Exports eine erhebliche Bedeutung beigemessen wird. So führt Bittner die Unterbewertung der DM an, die positiv auf das deutsche Exportwachstum wirkt, wobei diese Unterbewertung ihre Ursache in der stabilitätsorientierten Geldpolitik der Bundesbank hat. Bittners Analyse kommt zu dem Schluss, dass die stabilitätsorientierte Geldpolitik als Bestandteil des ordnungspolitischen Konzeptes der sozialen Marktwirtschaft für das Exportwachstum in Deutschland im Zeitraum 1951 bis 1973 eine eher untergeordnete Rolle spielt.

Die Frage, welche Hypothesen das erstaunliche Wachstum im „golden age“ erklären können, wird letztendlich nicht vollständig beantwortet. Jedoch geht Bittner auf theoretische und empirische Probleme einzelner Ansätze ein, so steht die schnelle Regeneration von Verbänden und Gewerkschaften in Deutschland (vgl. S.81) in klarem Widerspruch zu Olsens Argument (vgl. S.63), dass durch die kriegsbedingte Zerstörung von Interessensvertretungen, Wachstumshemmnisse nach dem Krieg reduzieren wurden. Bittner zieht letztendlich die Schlussfolgerung, dass weder gesamteuropäische noch nationale Erklärungsansätze alleine das erstaunliche Wachstum im „golden age“ erklären können und regt weitere Forschung in diesem Bereich an.

Neben der umfangreichen Beschreibung der einzelnen Erklärungsansätze, was alleine aufgrund der umfassenden Literaturquellen lesenswert ist, stellt Bittner wiederholt die theoretische Fundierung und die empirische Relevanz der Ansätze heraus, wobei sich bei einigen Hypothesen Zweifel ergeben. So stellt Bittner unter anderem die Rekonstruktionshypothese in Frage, wobei er insbesondere auf die Stabilität des angenommenen linearen Trendverlaufes der Einkommensentwicklung eingeht. Dabei verweist Bittner auf die bedeutende Debatte der Unit-Roots und diskutiert Testmöglichkeiten anhand des Dickey-Fuller Tests und dessen Varianten. Außerdem wird zur Beurteilung der Rekonstruktionshypothese die Unterscheidung zwischen deterministischem und stochastischen Trend vollzogen, wobei die Darstellung unkompliziert und meines Erachtens auch für Leser, die nicht in der Zeitreihenanalyse beheimatet sind, nachvollziehbar bleibt. Darüber hinaus macht Bittner deutlich, dass eine einmalige Abweichung vom Wachstumstrend - ausgelöst durch den zweiten Weltkrieg - einen langfristigen Effekt auf das Wachstum haben sollte, wenn man an der Rekonstruktionshypothese festhält. Dies bedeutet ökonometrisch, dass alte Störungen auf aktuelle Niveaus des Einkommens einen Einfluss haben müssen. An diesem Beispiel wird die generelle Vorgehensweise Bittners deutlich. So werden die Erklärungsansätze eingehend beschrieben, theoretisch erfasst und auf ihren empirischen Gehalt untersucht, wobei neuere ökonometrische Methoden Verwendung finden. Auch in Bittners eigener Analyse bezüglich der Determinanten des Exportwachstums auf Basis einer Kointegrationsanalyse bleibt die Darstellung weitestgehend allgemeinverständlich.

Eine weitere Besonderheit stellt die Anwendung der sogenannten neuen Wachstumstheorie zur theoretischen Fundierung der diskutierten Erklärungsansätze dar. Die Konvergenzresultate (bedingte oder unbedingte in der Erweiterung mit Humankapital als weiterer Akkumulationsfaktor neben dem Sachkapitalstock) der neoklassischen Wachstumstheorie, die insbesondere auf die Annahme abnehmender Grenzerträge beruht, ist wenig geeignet, dauerhafte Einkommensunterscheide zwischen Ländern zu erklären. Demgegenüber versucht die neue Wachstumstheorie den in der neoklassischen Theorie als exogen angenommenen technischen Fortschritt zu endogenisieren und nimmt konstante bzw. fallende Grenzerträge an. Damit kann beispielsweise die Änderung der Sparquote in diesen Modellen im Gegensatz zum neoklassischen Modell, wo nur das Niveau des Einkommens im steady state verändert wird, über die Beeinflussung des technischen Fortschritts einen dauerhaften Einfluss auf das Wirtschaftswachstum ausüben. Nach dieser groben Unterscheidung beider Ansätze stellt Bittner einen scheinbaren Widerspruch zur Rekonstruktionshypothese fest, da bei Annahme konstanter Grenzerträge ein Anstieg der Wachstumsraten nach dem zweiten Weltkrieg nicht zu vermuten ist (vgl. S.38). Demgegenüber lässt eine endogene Modellierung des technischen Fortschritts (vgl. S.40 King-Robson-Modell) Steigerungen der Wachstumsrate zu, da von der kriegsbedingten Zerstörung des Kapitalstocks Investitionsanreize durch Erhöhung des Grenzertrages des Kapitals ausgehen. Diese Anreize steigern die Investitionsquote, was zu einer Erhöhung des technischen Fortschritts führt. Dadurch zeigt Bittner auf, dass die Rekonstruktionshypothese nicht in grundsätzlichem Widerspruch zu Ansätzen der neuen Wachstumstheorie steht. Diese am Beispiel der Rekonstruktionshypothese dargestellte Hinführung des Lesers zu Modellen der neuen Wachstumstheorie und die nachvollziehbare Darstellung sollten auch Lesern ohne explizite Vorkenntnisse einen Einstieg leicht ermöglichen.

Kritik an der Arbeit Bittners ist meines Erachtens vor allem hinsichtlich der äußeren Form der Arbeit angebracht, so ist beispielsweise der Punkt über der Kapitalintensität k (vgl. S.20), der auf die Ableitung der Kapitalintensität nach der Zeit hindeutet, erst auf dem zweiten Blick zu erkennen, was anfangs zu Verwirrung führen kann und die Nachvollziehbarkeit der Argumentation gefährdet. Ebenso ärgerlich sind die teilweise nur schwer erkennbaren Graphiken vor allem auf S.83, wo das Wachstum der realen Stückkosten Italiens vom weißen Hintergrund verschluckt wird. In wieweit diese Mängel der äußeren Form Bittner direkt angelastet werden kann ist allerdings nicht ersichtlich, aber sie trüben das ansonsten positive Gesamtbild in unnötiger Weise.

Ein weiterer Kritikpunkt ist die etwas laxe Handhabung theoretischer und ökonometrischer Modelle, wobei man beispielsweise auf S.54 bzw. S.55 hinweisen könnte. Bei dieser Darstellung deterministischer und stochastischer Trends wäre eine eindeutige Definition des verwendeten Störterms als White Noise-Prozess sicherlich wünschenswert. Man muss allerdings einräumen, dass eine zu stark mathematisierte und formalisierte Darstellung möglicherweise die Zugänglichkeit für Leser ohne explizite Vorkenntnisse aus dem Bereich der Zeitreihenanalyse erschweren könnte.

Ungeachtet der angeführten Kritikpunkte ist die Arbeit Bittners ein wichtiger Beitrag zur Diskussion über die Erklärung des Wachstums im „golden age“, wobei eine breite Literatur bis hin zu technikgeschichtlichen Arbeiten abdeckt wird. Meines Erachtens noch entscheidender allerdings ist die zugängliche Darstellung einer Reihe von Modellen der neuen Wachstumstheorie und neuerer ökonometrischer Methoden wie der Kointegrationsanalyse und die Diskussion um Unit-Roots.

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