J.M. Bak u.a. (Hrsg.): Gebrauch und Missbrauch des Mittelalters

Cover
Titel
Gebrauch und Missbrauch des Mittelalters, 19.-21. Jahrhundert. Uses and Abuses of the Middle Ages: 19th-21st Century; Usages et Mésusages du Moyen-Age du XIXe au XXIe siècle


Herausgeber
Bak, János M.; Jarnut, Jörg; Monnet, Pierre; Schneidmüller, Bernd
Reihe
Mittelalter Studien 17
Erschienen
München 2009: Wilhelm Fink Verlag
Anzahl Seiten
365 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sabine Reichert, Historisches Seminar, Universität Mainz

Die Umdeutung des Mittelalters ist ein seit der Romantik hinlänglich bekanntes Phänomen. Dass Interpretation und Instrumentalisierung dieser Epoche dabei kein rein westeuropäisches Phänomen ist, zeigt der vorliegende Band. Sein Ursprung liegt in einer Arbeitstagung und einem Sommerkurs für Graduierte an der Central European University Budapest (CEU), die sich dem Thema besonders mit dem Blick auf Osteuropa zu nähern suchte. Die ersten Ergebnisse deuteten auf eine Vereinnahmung und Instrumentalisierung des Mittelalters hin, die János M. Bak in seinem Vorwort als „in vielerlei Hinsicht erschreckend“ (S. 10) zusammenfasst – Anlass genug, um im Frühjahr 2005 Historiker aus über einem Dutzend verschiedener Länder in Budapest zusammenzubringen. Zwar sind nicht alle auf der Tagung gehaltenen Vorträge zur Druckfassung gelangt, doch bietet der Band einen breiten Querschnitt der dort diskutierten Themen. 25 Beiträge sind in dem vorliegenden Buch vereint, so dass im Folgenden nicht auf alle einzeln eingegangen werden kann, so spannend die Beiträge auch sind.

Während es für einige der Autoren das erste Mal war, ein solches Thema aufzugreifen und sich mit Gebrauch und Missbrauch des Mittelalters ihrer jeweiligen Nation auseinanderzusetzen, macht mit Otto Gerhard Oexle ein ausgewiesener Experte den Auftakt. In seinem Beitrag „Das Mittelalter – Bilder gedeuteter Geschichte“ fasst er seine bisherigen Überlegungen zu diesem Themenkomplex nicht nur zusammen, sondern entwickelt sie stringent weiter. Im Kern seines Beitrages rekurriert Oexle auf die verschiedenen Deutungsmuster, die der Epoche „Mittelalter“ gegenüberstehen. Statt des „entzweiten Mittelalters“1, welches er bereits vor einigen Jahren postuliert hat, systematisiert Oexle in mittlerweile fünf Deutungen. In der ersten gilt das Mittelalter als ein für allemal und glücklich überwunden. Mit dieser Deutung eng verbunden ist die ihr genau entgegengesetzte: das Mittelalter als eine Zeit der Ganzheit, der Ordnung und der Gemeinschaft, die nicht als überwunden, sondern als endgültig verloren postuliert wird. Die dritte wäre die Idee eines Neuen Mittelalters, in der anstelle der alten Trias Antike – Mittelalter – Moderne die Trias Mittelalter – Moderne – Neues Mittelalter tritt. Entgegen der beschriebenen Deutung des Mittelalters als Einheitskultur existiert eine vierte Deutung, die genau diese Einheitskultur ablehnt und stattdessen seine Varietät und die daraus resultierende Dynamik betont. Entsprechend seinem Ausblick zur Visualisierung bringt Oexle noch einen fünften Punkt an, der uns in Bildern und Bauten entgegentritt.

Nach diesen einleitenden Artikeln folgt der Einstieg in die Betrachtung unterschiedlicher nationaler Deutungsmuster. Leider sind die einzelnen Tagungssektionen in ihrer thematischen Ausrichtung nicht als Gliederungshilfe in den Sammelband übernommen worden. Im Folgenden soll der Verständlichkeit halber aber auf sie rekurriert werden. Die erste Sektion der Tagung begann mit einem Round-Table-Gespräch zum Thema „Benutztes Mittelalter überall“ und bot mit seiner regionalen Breite einen gelungenen Einstieg. Denn gerade der erste Beitrag verblüfft, indem er mit den USA ein Land thematisiert, welches eben kein eigenes Mittelalter vorweisen kann. Doch Gabrielle M. Spiegel („The Changing Faces of American Medievalism“) gelingt es überzeugend zu zeigen, dass gerade das Fehlen einer eigenständigen Epoche einen anderen Umgang mit ihr hervorbringen konnte: „In America, however, the paradox of presence and absence common to Medieval Studies generally is incommensurably more acute, giving greater space for the play of projective fantasies, needs and aspirations than elsewhere.“ (S. 45) Spiegel knüpft damit an die Vorüberlegungen Oexles an und verdeutlicht, wie stark die Geschichtswissenschaft eines Landes von ihrer eigenen Umgebung geprägt ist. Einen ähnlichen Effekt erreicht der Aufsatz von Bert G. Fragner. Sein Blick auf den iranischen Kulturraum zeigt, wie stark das eigentliche Konzept vom Mittelalter innerhalb der europäischen Geschichte entstanden und daraufhin erst außereuropäischen Phänomenen aufgezwungen worden ist. Zum Beispiel wurde die Vorstellung von einer arabischen Vergangenheit erst im 19. Jahrhundert unter dem Einfluss westeuropäischer Historiker und Orientalisten entwickelt und dann prägend für den kulturellen Vergleich (S. 72).

In der zweiten Sektion „Nationalbewusstsein und Mittelalter“ erfolgte der Blick auf das eigene, westeuropäisch geprägte kulturelle Umfeld, namentlich Frankreich (Bonnie Effros, Jean-Marie Moeglin), die Schweiz (Guy P. Marchal) und Bulgarien (Dmitry I. Polyviannyi). Hatte Oexle in seinem einleitenden Aufsatz bereits verschiedenen Medien der Visualisierung angesprochen, folgen zwei aus der Sektion „Kunst, Film, Literatur“ hervorgegangene Beiträge zum Thema Film. Stuart Airlie wirft mit „Visions of the Vikings: Sagas, Cinema and History“ den Blick auf Nordeuropa, der erwartungsgemäß von der unterschiedlichen Darstellung der Wikinger beherrscht wird. Während Airlie mit „Der 13. Krieger“ einen bekannten Hollywood-Film mit einem Stummfilm des Jahres 1928 vergleicht, widmet sich der zweite Beitrag nur einem Medium, ebenfalls einem Stummfilm: Pavlína Rychterová „Mittelalterliche Hagiographie auf der Leinwand: Der Film Svatý Václav (1929) als gescheiterter Versuch, ein Nationaldenkmal zu konstruieren“. Um die künstlerische Darstellung und Ausdeutung der Vergangenheit bemüht sich auch ein fast zum Schluss des Sammelbandes stehender Aufsatz von Giedrė Mickūnaitė: „Disguised Nationhood: Imagined Middle Ages in the Arts of the Soviet Lithuania“. Das ursprüngliche Tagungsprogramm ging weiter mit „Lebendigen (und gefährlichen) Mythen“, und es wurden neben weiteren Beiträgen zu Frankreich (Philippe Contamine) und Deutschland (Peter Raedts) zwei weitere Gruppen bzw. Regionen angesprochen. Hier ist zu nennen der Aufsatz von Dejan Djokić „Whose Myth? Which Nation? The Serbian Kosovo Myth Revisted“ und der Beitrag von Michael Toch zum Bild der mittelalterlichen Juden und seiner modernen Deutung vor allem durch die jüdische Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts selbst.

Neben der Visualisierung und der Lebendigkeit von Mittelalter-Mythen wurde auch deren Vermarktung und Politisierung thematisiert. Aus dieser Sektion hat es allerdings nur der Beitrag von Segrei A. Ivanow in den Sammelband geschafft. Ivanow kommt zu dem Schluss: „Yet, the easiness with which the historical events can be reshuffled proves very clearly the nation identity-crisis in Russia. The country with an unpredictable past is unable to build a solid historical mythology.“ (S. 239) Bei den folgenden sieben Aufsätzen handelt es sich um Beiträge, die nicht auf der Tagung gehalten wurden, deren Autoren aber für ein abschließendes Round-Table-Gespräch geladen waren. Es war eine gute Entscheidung, ihnen die Abfassung der Beiträge zu ermöglichen, bieten sie doch einen breiten Querschnitt zur Mittelalterdeutung im osteuropäischen Raum. Neben Kroatien (Neven Budak), Tschechien (Christian-Frederik Felskau), Polen (Ryszard Grzesik) und Rumänien (Andrei Pippidi) gibt es den Beitrag von Mikhail Kizilov: „Autochthonous Population, Ethnic Conflicts an Abuse of the Middle Ages in Ukraine and the Autonomous Republic of Crimea“. Damit zeigt sich die deutliche Ausrichtung des Bandes in den osteuropäischen Raum. Zu Bedauern ist neben dem etwas zu kurz gekommenen Nordeuropa besonders das Fehlen des Mittelmeerraumes, ein Manko, das bereits im Vorwort von Bak eingeräumt wird. Denn gerade dort findet sich eine Deutung des Mittelalters, die „so durchpolitisiert (und ‚missbraucht‘) worden ist, wie sonst kaum in Europa“ (S. 11). Dennoch bietet der Band gerade durch seine Konzentration auf die östlichen Gebiete eine neue Sichtweise auf „Gebrauch und Missbrauch“ des Mittelalters. Während die nationale Deutung des Mittelalters in Westeuropa ihre Blütezeit mit dem 19. Jahrhundert scheinbar hinter sich gelassen hat und sich zu einer populären Eventkultur entwickelt, wird es in Osteuropa stärker zur nationalen Identifikation genutzt. Bei der Frage nach „Gebrauch und Missbrauch des Mittelalters“ handelt es sich nicht um einen abgeschlossenen Prozess. Entsprechend fasst Bernd Schneidmüller in seinem abschließenden Beitrag zusammen: „Die Auflösung der europäischen Erklärungsmuster, vor allem der westlichen Vorstellungen von Kausalität und Entwicklung, vielleicht sogar die Verwandlung der Wissenschaftskulturen beiderseits des Atlantiks werden die ethischen Fragen im Umgang mit der Vergangenheit ganz neu stellen.“ (S. 343)

Anmerkung:
1 Otto Gerhard Oexle, Das entzweite Mittelalter, in: Gerd Althoff (Hrsg.), Die Deutschen und ihr Mittelalter. Themen und Funktionen moderner Geschichtsbilder vom Mittelalter, Darmstadt 1992, S. 7-28, hier S. 11.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension