B. Gorshkov: Russia’s Factory Children

Titel
Russia’s Factory Children. State, Society, and Law, 1800-1917


Autor(en)
Gorshkov, Boris B.
Reihe
Pitt Series in Russian and East European Studies
Erschienen
Anzahl Seiten
216 S.
Preis
€ 51,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Katharina Kucher, Institut für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde, Universität Tübingen

Kinderarbeit war ein fester Bestandteil der Industrialisierung. Insofern ist es naheliegend, dass Historiker ihr Augenmerk auch auf diesen Aspekt der Geschichte richten. Für die Industrienationen England, Frankreich, Deutschland oder Nordamerika ist dies geschehen. Erstaunlicherweise blieb die industrielle Kinderarbeit für Russland weitgehend unerforscht, obgleich die Arbeiterbewegung zu den zentralen Themen der sowjetischen und internationalen Historiographie gehört.

Boris Gorshkov hat es sich zur Aufgabe gesetzt, diese Lücke zu schließen. Seine Studie ist als „Sozialgeschichte der industriellen Kinderarbeit“ (S. 5) vom späten 18. Jahrhundert bis zur Revolution 1917 angelegt und eröffnet, so der Autor, „neue Perspektiven für das Verständnis der Gesellschaft des späten Zarenreiches“. Er möchte sowohl analysieren, welche Auswirkungen die Industrialisierung auf die Kinderarbeit hatte als auch beleuchten, „was Kinderarbeit in ökonomischer und sozialer Hinsicht kennzeichnete“ (S. 4). Dabei geht es ihm nicht nur darum, die Diskussionen um die verschiedenen Aspekte der industriellen Kinderarbeit nachzuzeichnen, sondern auch aufzuzeigen, inwiefern diese Debatten die Sozialgesetzgebung vor 1917 beeinflusst haben und wie effektiv deren Umsetzung war.

Das schmale Buch mit 180 Seiten Text ist neben Einleitung und Schluss in vier Kapitel unterteilt. Der erste Abschnitt behandelt die Ursprünge, das zweite Kapitel die demographischen und sozialen Kontexte von Kinderarbeit. Im dritten Kapitel geht es um öffentliche Debatten und gesetzgeberische Bemühungen und im vierten wird die Durchsetzung von Gesetzen zum Schutz der in der Industrie arbeitenden Kinder einschließlich der Themen Schulbildung und Einbeziehung von Kindern in politische Aktivitäten der Arbeiter beschrieben.

Zu Beginn des ersten Kapitels hebt Gorshkov hervor, dass Kinderarbeit vor der Industrialisierung in der bäuerlichen Wirtschaft sowie in der Guts- und Staatsindustrie nicht nur eine ökonomischen Notwendigkeit war, sondern auch als Ausbildung und Vorbereitung auf das Erwachsenendasein verstanden wurde. Für den Grad der Einbeziehung der Kinder in den Arbeitsprozess waren regionale, ökonomische und demographische Faktoren ausschlaggebend. Mit der Einbindung der Kinder in den industriellen Produktionsprozess wurde die Arbeitsbelastung für sie höher, wobei in diesem Zusammenhang der Ausbildungsaspekt noch immer eine große Rolle spielte. Die Kinder, die häufig zusammen mit ihren Familien in den Fabriken arbeiteten, konnten mit Erlaubnis der Eltern ab zehn Jahren zu Hilfsarbeiten herangezogen werden, wobei sie „entsprechend ihres Alters und ihrer Kraft“ (S. 28) eingesetzt werden sollten. Auch wenn genaue Statistiken für diese Zeit fehlen, steht es außer Frage, dass viele Kinder, darunter auch Waisen, hart arbeiten mussten und ausgenutzt wurden, was allerdings zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch wenig Protest hervorrief. 1845 wurde immerhin die Arbeit von Kindern unter zwölf Jahren zwischen Mitternacht und sechs Uhr morgens verboten, wobei die Umsetzung des Gesetzes lokalen Behörden und Fabrikeigentümern überlassen wurde. Generell existierte in Russland – wie auch in vielen anderen Industrienationen – zu dieser Zeit keine einheitliche Fabrikgesetzgebung, sondern lediglich Regelungen, die auf „bestimmte Industrien oder Kategorien von Arbeitern“ abzielten (S. 44). Der Autor unterstreicht in diesem Zusammenhang, dass ausgehend von den Bemühungen zum Schutz der Kinder die industrielle Arbeit und ihre Akteure zur Angelegenheit von staatlichen Behörden und Sozialreformern wurden.

Im zweiten Kapitel befasst sich der Autor mit den Ausprägungen der Kinderarbeit im Zuge der Industrialisierung des russischen Kaiserreiches. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts und verstärkt seit der Aufhebung der Leibeigenschaft 1861 strömten die Menschen, darunter zahlreiche Kinder, in die Fabriken. Besonders viele Kinder waren in der Textilindustrie beschäftigt und die Zahl der dort arbeitenden Kinder stieg kontinuierlich, in der Petersburger Textilindustrie beispielsweise von 8,8% 1859 auf 16,5% im Jahr 1878. In den Fabriken waren mehr Jungen als Mädchen beschäftigt, da letztere häufig auf dem Land blieben oder als Hausangestellte arbeiteten. Die Gründe für die verstärkte Beschäftigung von Kindern lagen in den „dramatischen ökonomischen und sozialen Veränderungen auf dem Land in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts“ (S. 56) bei gleichzeitigem hohen Arbeitskräftebedarf der wachsenden Industrie mit mechanisierten Arbeitsplätzen, die weder spezifische Kenntnisse noch hohen Krafteinsatz erforderten.

Die Arbeitsbedingungen für Kinder konnten stark gesundheitsschädigend sein, der Lohn war nicht zuletzt aufgrund der vielen verfügbaren Kinder niedrig und häufig musste ein großer Teil davon noch für Verpflegung, Unterkunft oder produzierten Ausschuss abgeben werden. Kinder waren deutlich anfälliger für Arbeitsunfälle als Erwachsene. Gorshkov macht den Hauptunterschied zwischen den Arbeitsbedingungen für Kinder vor und nach der Industrialisierung darin aus, dass die Arbeit in der Industrie gesundheitsschädlicher und gefährlicher war als ihr Einsatz in der Landwirtschaft.

Wie Gorshkov im dritten Kapitel zeigt, wuchs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Kritik an den Arbeitsbedingungen der Kinder. Speziell eingesetzte staatliche Kommissionen unterbreiteten regelmäßig Vorschläge zur Regulierung der Kinderarbeit, die von der Einrichtung von Fabrikschulen, der Begrenzung der Arbeitszeit bis hin zur Vorstellung, die Arbeit für unter Zwölfjährige in den Fabriken generell auszusetzen, reichten. Auch wurden Forderungen nach staatlichen Fabrikinspektoren laut. Gesetzlich umgesetzt wurden die Vorschläge aufgrund des Widerstandes vieler Industrieller nicht. Interessant ist, dass deren Vertretung, der Industriellenrat, in der Lage war, die Interessen seiner Mitglieder durchzusetzen und staatliche Entscheidungen zu beeinflussen. 1870 wurde eine neue Kommission mit dem Ziel der Schaffung eines Arbeitsgesetzes ins Leben gerufen. Dies geschah vor dem Hintergrund wachsender Arbeiterproteste und Streiks sowie eines zumindest partiell verstärkten sozialen Bewusstseins. Neben Vertretern von Staat und Industrie wurden nun auch Mediziner, Pädagogen und Mitglieder der „zemstva“, der Organe lokaler Selbstverwaltung, in die Kommissionsarbeit einbezogen und öffentliche Debatten schufen ein „rezeptives Klima“ (S. 120) für die Einführung von Arbeitsschutzgesetzen, auch wenn diese noch keine greifbaren Formen annahmen. Die Relevanz des Themas belegen die immer zahlreicher erscheinenden Artikel in medizinischen Fachorganen und politisch-literarischen Zeitschriften ebenso wie das Aufgreifen von Kinderarbeit in der Literatur.

In seinem letzen Kapitel widmet sich Gorshkov den Auswirkungen der seit 1882 veränderten Gesetzeslage. Verboten war seitdem die Beschäftigung von Kindern unter 12 Jahren. Zwölf- bis Fünfzehnjährige durften nicht mehr als acht Stunden täglich und vier Stunden durchgehend arbeiten; außerdem war es nicht erlaubt, Kinder in „für die Gesundheit schädlichen Industrien“ (S. 129) einzusetzen und Arbeitgeber wurden verpflichtet, die Kinder und Jugendlichen für den Schulunterricht freizustellen. Zur Kontrolle wurden Fabrikinspektoren eingesetzt. Die Unternehmer standen dem Gesetz im Allgemeinen kooperativ gegenüber. Die Gründe dafür liegen nicht zuletzt in der Tatsache, dass die Wirtschaftskrise am Ende des 19. Jahrhunderts den Abbau von Arbeitskräften erforderlich machte. In den folgenden Jahren wurden weitere Gesetze zur Verbesserung der Situation der Kinder verabschiedet. Parallel dazu wurde die allgemeine Fabrikgesetzgebung vorangetrieben und 1913 – von der historischen Forschung unbemerkt, wie Gorshkov hervorhebt – eine Sammlung der existierenden Fabrikgesetze publiziert. Die vielbeschworene Rückständigkeit Russlands, so Gorshkov, sei in Bezug auf die Fabrikgesetzgebung mehr „diskursive Strategie“ (S. 146) als Tatsache, da in Russland die Industrialisierung zwar später einsetzt habe, die Gesetzgebung aber konform mit der europäischen Entwicklung ging und in Russland tatsächlich im erforderlichen Moment, auf dem Höhepunkt der industriellen Entwicklung, zum Tragen kam. Die Arbeitsbedingungen der Kinder schienen sich in der Folge der eingeführten Gesetze zumindest partiell verbessert zu haben, die Zahl der in der Industrie arbeitenden Zwölf- bis Fünfzehnjährigen nahm bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges ab. Nach der russischen Revolution von 1917 ging die Kinderarbeit stark zurück – dafür waren die neuen Machthaber nach dem Ende des Bürgerkrieges mit Heerscharen von obdachlosen Kindern, den sogenannten „besprizorniki“, konfrontiert.

Die vorliegende Studie, die über weite Strecken auf publizierten Quellen basiert, bietet einen kompakten Überblick über die Regulierung der Kinderarbeit im russischen Kaiserreich. Es ist allerdings bedauerlich, dass die Arbeit an vielen Stellen an der Oberfläche bleibt und der Autor nicht die Chance ergriffen hat, seinen Gegenstand an Hand einzelner Fallbeispiele unterschiedlicher Branchen und Regionen zu bearbeiten. Diese Vorgehensweise hätte die Ausprägungen und Konsequenzen der Interaktion zwischen Staat und gesellschaftlichen Akteuren stärker beleuchtet und damit – wie von Gorshkov intendiert – nachhaltig zu einem neuen Verständnis des späten Zarenreiches beitragen können.