Titel
Projekte der Europäisierung. Kulturanthropologische Forschungsperspektiven


Herausgeber
Welz, Gisela; Annina Lottermann
Reihe
Kulturanthropologie Notizen 78
Anzahl Seiten
302 S.
Preis
€ 22,50
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Jürgen Mittag, Institut für soziale Bewegungen, Ruhr-Universität Bochum

Der Begriff „Europäisierung“ hat seit den 1990er-Jahren nicht nur Einzug in den allgemeinen Sprachgebrauch gehalten, sondern er wird in zunehmendem Maße auch seitens der Wissenschaft als analytische Kategorie verwendet. Die Reichweite des Begriffs und seine analytische Qualität variieren zwischen den einzelnen akademischen Disziplinen indes beträchtlich. Während die sozial- und rechtswissenschaftliche Forschung insbesondere dem anhaltenden Transfer nationalstaatlicher Kompetenzen auf die europäische Ebene Beachtung schenkt und dabei nicht nur die Auswirkungen dieses Prozesses auf die politischen Strukturen der Europäischen Union, sondern auch auf einzelne Mitgliedstaaten − einschließlich ihrer Rückwirkungen auf die europäische Ebene − näher untersucht, verfolgen andere Disziplinen einen umfassenderen, zugleich aber auch unspezifischeren Zugriff. So werden seitens der Geschichtswissenschaft − ohne gleichermaßen auf eine eingehende theoriegeleitete Debatte wie die Sozialwissenschaften zu rekurrieren − über politisch-institutionelle Aspekte hinaus gesellschaftliche Transfer- und Verflechtungsprozesse, soziale und ökonomische Konvergenzen bzw. Divergenzen sowie Identifikation stiftende Raumerfahrungen und Abgrenzungen gegenüber anderen (Groß-)Regionen der Welt einbezogen. Einhergehend mit dem Begriffsverständnis in weiteren Gesellschaftswissenschaften wird Europäisierung in diesem Zusammenhang vielfach auch synonym für die Bezeichnungen „Verwestlichung“ und „Transnationalisierung“ verwendet.

Angesichts dieser begrifflichen Vielfalt bzw. der vorherrschenden semantischen und analytischen Unklarheit erscheint es ebenso relevant wie Erkenntnis versprechend, die Zugänge zum Europäisierungsbegriff in anderen Disziplinen ebenfalls verstärkt in den Blick zu nehmen. Der hier zu besprechende Sammelband bietet vor allem für die Geschichtswissenschaft einen interessanten Anknüpfungspunkt. Er versammelt insgesamt 15 Beiträge von vorwiegend jüngeren Autoren aus dem Umfeld des Frankfurter Instituts für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie. Die von der dort lehrenden Professorin Gisela Welz und der am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen tätigen Annina Lottermann herausgegebenen Aufsätze basieren in der Regel auf entsprechenden Qualifikationsarbeiten der Autorinnen und Autoren. Als verbindender konzeptioneller Zugang liegt ihnen die Annahme zugrunde, Europäisierung als kulturelle Dimension des europäischen Integrationsprozesses zu verstehen, die sich primär in alltäglichen und sozialen Zusammenhängen widerspiegelt. Untersucht werden vor diesem Hintergrund einzelne „Projekte“ auf lokaler Ebene, mithin situative oder temporäre „Handlungszusammenhänge“, die von den Herausgeberinnen in insgesamt fünf Hauptbereiche unterteilt werden.

In der ersten Sektion zur europäischen Kulturpolitik verdeutlichen drei Beiträge das Spannungsfeld von europäischen Anregungen und Vorgaben einerseits sowie Interessen und Reaktionen auf lokaler bzw. regionaler Ebene andererseits, die sowohl ein beträchtliches Mobilisierungspotenzial als auch hoch gesteckte Erwartungen und ebensolche Enttäuschungen zum Ausdruck gebracht haben. So zeigt Annina Lottermann, dass der (gescheiterte) gemeinsame Bewerbungsprozess von Görlitz und Zgorzelec zur Kür als Kulturhauptstadt 2010 eine Fülle von Erwartungen geweckt hat, bei denen die europäischen Anregungen im Rahmen von Anpassungs- und Kommunikationsprozessen auf lokaler Ebene gewissermaßen neu verhandelt und somit neu ausgeformt wurden. Als Resultat sind dabei sowohl Modernisierungserscheinungen als auch neue Konfliktlagen auszumachen, die in dieser Sektion der Publikation auch in Beiträgen über das Projekt einer Kunstbiennale in Nicosia (Katja Seifarth) und die Arbeit des Goethe-Instituts in Barcelona (Katharina Kipp) identifiziert werden.

In einem zweiten Themenblock des Bandes zu Aspekten der Migration und der Grenzregime wird deutlich, welche Auswirkungen ein EU-Beitritt auf einzelne Orte oder Staaten haben kann. Namentlich am Beispiel Zyperns wird hier von Ramona Lenz und Hsin-Yi Li gezeigt, wie sich der Arbeitsalltag von Wanderarbeitern und ausländischen Studierenden durch die EU-Mitgliedschaft verändert hat, wobei die Änderungen sich sowohl auf rechtliche Rahmenbedingungen als auch auf modifizierte Erwartungshaltungen beziehen. Die Beiträge zur Umwelt- und Regionalentwicklung in der dritten Sektion des Bandes unterstreichen die Ausstrahlung der primärrechtlichen Rahmengesetzgebung der EU, die auf lokaler Ebene − sei es in den Bergwerken der Karpaten (Enikö Baga und Aron Buzogány), auf der zypriotischen Halbinsel Akamas (Gisela Welz) oder auf hessischen Bauernhöfen (Catharina Kern) − erhebliche Bedeutung entfalten, aber gleichermaßen auch beträchtlichen Widerstand und neue Oppositionskoalitionen hervorbringen kann.

Die beiden letzten Sektionen des Bandes behandeln kein spezifisches Politikfeld, sondern sind einerseits dem Aspekt der Öffentlichkeit bzw. der Öffentlichkeitsarbeit gewidmet und hinterfragen andererseits die europabezogene Selbst- und Fremdwahrnehmung unterschiedlicher Akteurskreise − von den Mitarbeitern der EU-Agenturen in Lissabon bis hin zu den Einwohnern eines Dorfes in Südkreta. Gezeigt wird in diesem Zusammenhang, dass Europa bzw. die Europäische Union in sehr unterschiedlichen Deutungsprozessen reflektiert, verarbeitet und neu gedeutet werden, so dass die „Aneignung“ Europas äußerst vielschichtig verläuft, da grundlegende Werte, Einstellungen und Denkweisen stets mit lokalen, regionalen oder nationalen Spezifika verknüpft werden.

Zieht man eine Bilanz des Sammelbandes, so liegt sein Wert vor allem in der Fülle von Details der Einzelbeiträge, die mit ähnlichem methodischen Zuschnitt − in erster Linie durch (teilnehmende) Beobachtungen im lebensweltlichen Umfeld der Bürger − die Bandbreite der Prozesse veranschaulichen, die hier als Europäisierung definiert werden. Von erheblicher Relevanz ist dabei der Rekurs auf Staaten wie Zypern, Portugal, Griechenland oder Rumänien, die gemeinhin eher selten im Blickfeld der Europa- und der europäischen Integrationsforschung stehen. Mit den aus der Summe der Einzelbeiträge ableitbaren Schlussfolgerungen, dass eine gewachsene und gesteigerte Sensibilität für die europäische Ebene und die EU-induzierten Politikprozesse auszumachen ist, dass sich hieraus jedoch keine einheitlichen gesellschaftlichen Reaktions- und Anpassungsmuster ergeben, sondern sich vielmehr − gemäß dem offiziellen Motto der Europäischen Union „in Vielfalt geeint“ − sehr unterschiedliche Legierungen von Europäisierungsprozessen abzeichnen, sind zwei Kernergebnisse des Bandes umrissen, die durchaus auch mit den Analysen aktueller politikwissenschaftlicher und historischer Forschung korrespondieren.

Der überwiegende Teil der Beiträge verzichtet darauf, die ebenso detaillierten wie anregenden empirischen Einzelergebnisse in Bezug zur bisherigen Forschung, vor allem derjenigen in den Nachbardisziplinen zu stellen. Erste Schneisen in die Erforschung einer Europäisierung der Gesellschaft(en) des europäischen Kontinents aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive hat namentlich − der im vorliegenden Sammelband nicht berücksichtigte − Berliner Historiker Hartmut Kaelble geschlagen, der bereits im Jahr 1987 in einer sozialgeschichtlichen Pionierstudie die Entwicklungs- und Konvergenzprozesse europäischer Gesellschaften untersuchte und in der Folge dann einzelnen Facetten der wesentlich von ihm selbst initiierten Fragestellung nachgegangen ist.1 Die in diesem Zusammenhang zu Tage geförderten Erkenntnisse sind in konzeptioneller Hinsicht ebenso wie die Untersuchungsergebnisse von Wilfried Loth oder Wolfram Kaiser 2 − um nur einige Vertreter dieses Forschungsstrangs zu nennen − geeignet, die einzelnen Dimensionen, aber auch die Grenzen der Gesellschaftsbildung in Europa näher aufzuschlüsseln − und damit auch anschlussfähig für den hier besprochenen Sammelband. Mit seinem Zuschnitt liefert der Band stichhaltige Belege für die Notwendigkeit weiterer Forschung, zeigt aber auch die disziplinären und epistemologischen Herausforderungen einer europäischen Gesellschaftsgeschichte.

Anmerkungen:
1 Vgl. Hartmut Kaelble, Auf dem Weg zu einer europäischen Gesellschaft. Eine Sozialgeschichte Westeuropas 1880-1980, München 1987.
2 Vgl. Wilfried Loth (Hrsg.), Europäische Gesellschaft. Grundlagen und Perspektiven, Wiesbaden 2005; Wolfram Kaiser / Peter Starie, Transnational European Union. Towards a Common Political Space, London 2005.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/
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