E. Papazian: Manufacturing Truth

Cover
Titel
Manufacturing Truth. The Documentary Moment in Early Soviet Culture


Autor(en)
Papazian, Elizabeth Astrid
Anzahl Seiten
282 S.
Preis
€ 28,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christine Engel, Institut für Slawistik, Universität Innsbruck

Dokumentarische Strömungen haben einen essenziellen Beitrag geleistet, um die russische Literatur und Kunst in eine sowjetische Spielart zu transformieren. Der doppelte Status von dokumentarischem Material als Evidenz einer vorgefundenen Realität (Faktum) und als Diskurs über die Realität (Artefakt) eröffnete Möglichkeiten für die Produktion von ideologisch erwünschten „Wahrheiten“. Folgerichtig rückte der Dokumentarismus in den 1920er-Jahren in allen Medien von seiner Randständigkeit ins Zentrum vor, und war schließlich maßgeblich an der Herausbildung des sozialistischen Realismus beteiligt. Das sind in Kürze die Eckpunkte, die den Ausführungen von Elizabeth Papazian, Professorin an der University of Maryland, zugrunde liegen. Die Verfasserin stellt fest, dass der Trend zu dokumentarischem Herangehen im Laufe der 1920er-Jahre Fahrt aufnahm, und das nicht nur bei der Avantgarde, die ihn initiierte, sondern auch in anderen künstlerischen Bewegungen, quer durch das politische und stilistische Spektrum und quer durch alle Medien. Diese Breite in verschiedenen Facetten darzustellen, ist das erklärte Ziel der Studie.

Papazian verfolgt in ihrem Buch die Verschränkungen der Ästhetik des sowjetischen Dokumentarismus mit theoretischen und politischen Tendenzen zwischen 1921 und 1934, also zwischen dem Ende des Bürgerkriegs und dem Ersten Schriftstellerkongress. Die Krise der Repräsentation, die mit einer Erschütterung der unangefochtenen Position des Autors als Instanz einherging, führte in ganz Europa zu einer Bevorzugung von dokumentarischen Verfahren und Genres. Als Spezifik der frühen Sowjetunion kam der nachrevolutionäre Legitimationsdruck für Literatur und Kunst hinzu: Es stand die Frage im Raum, welchen Beitrag die Künste zum Aufbau der neuen Gesellschaft leisten könnten. Ein ästhetischer Ansatz, der die Konzeption eines Autors als Produzent (von Text und dokumentarischer Realität) vertrat, leistete in dieser Konstellation gute Dienste, und versprach aktive Hilfe bei der Erschaffung des Neuen Menschen. Die damit verbundenen pädagogischen Intentionen betrafen nicht nur den Leser, sondern auch den Schriftsteller, ja nährten sogar die Hoffnung, dass der neue Typ des kollektiven Schriftstellers ein Ineinanderfließen von Text und Realität bewerkstelligen könne: „At the same time, the documentary impulse tendered a promise of a more direct relationship between author and reader, between author and hero, between text and reality“ (S. 18; kursiv im Original). Für die Präsentation ihrer Überlegungen wählt Papazian den Weg von Fallstudien. Nach einem einführenden Kapitel von 25 Seiten widmet sie vier bekannten Kunstschaffenden je ein umfangreiches Kapitel: Sergei Tretjakow, Dsiga Wertow, Maxim Gorki und Michail Soschtschenko.

Den dokumentarischen Zugang von Sergei Tretjakow bezeichnet die Verfasserin als operativen Modus (‚operative mode‘), wobei sie aus dem breit gefächerten Œuvre dieses Multitalents und Theoretikers der linken Avantgarde eine sorgfältige Auswahl trifft, die die Entwicklung seiner Positionen anschaulich vor Augen führt. Von seinen frühen Werken behandelt sie den programmatischen Artikel „Woher und wohin“ (1923) sowie das Theaterstück „Gasmasken“ (1923), das in einer Fabrik aufgeführt wurde und dessen Stoff-Vorlage aus der Zeitung „Prawda“ stammt. Die Rolle der Zeitung nimmt dann über die Jahre an Bedeutung zu, bis Tretjakow in seinem programmatischen Artikel „Der neue Lew Tolstoi“ (1927) die Zeitung als den Roman der neuen Zeit apostrophiert: verfasst von einer anonymen Masse, in der Zeit voranschreitend und jeden Tag eine neue Seite. Anhand seiner Reisereportagen aus China sowie der Essaysammlung „Die Herausforderung. Essays über eine Kolchose“ (1930) wird vor Augen geführt, wie ein „operativer“ Schriftsteller nicht nur den Leser transformiert, sondern auch die repräsentierte Realität: Tretjakow als Autor entwickelt sich in diesen Texten vom neutralen Beobachter zum teilnehmenden Beobachter und letztlich zum Produzenten der gewünschten Realität, so dass Dokumentarisches und Fiktionales in eins zusammenfallen.

Anhand der Positionen und Werke von Dsiga Wertow, dessen Dokumentarismus als technischer Modus (‚technological mode‘) bezeichnet wird, kann die Verfasserin Grundlegendes für den Dokumentarfilm herausarbeiten. Dabei konzentriert sie sich auf zwei Schwerpunkte: Der eine ist das „Wertowsche Paradox“, das heißt die strikte Ablehnung eines auktorialen Eingriffs in das Material des Films bei gleichzeitiger bewusster Organisation des Materials durch Montage (ein Problem, das, nebenbei bemerkt, für den Dokumentarfilm insgesamt gilt). Der zweite Schwerpunkt ist das Problem der Überwachung, dessen Entwicklung die Verfasserin durch einen Vergleich der Filme „Der Mann mit der Kamera“ (1929) und „Drei Lieder über Lenin“ (1934) aufzeigt: Im ersten Film wird deutlich, dass Wertow und seine Gruppe „kinoki“ ihr Ideal darin sehen, mithilfe von Kameras und Berichterstattern, die über das ganze Land verstreut sind – und auf der Leinwand auch zu sehen sind –, jederzeit den aktuellen Stand der erfolgreichen Entwicklung des Landes vermitteln zu können. Im zweiten Film dagegen verschwimmen die Ideen von Teilhabe und kollektiver Autorschaft und entwickeln sich in Richtung einer diffusen Überwachung, die den gesamten Alltag durchdringt.

Maxim Gorki wird unter dem Aspekt des „realistischen Modus“ (‚realist mode‘) behandelt, wobei die Verfasserin vor allem die Fragestellung interessiert, wie ein vorrevolutionärer realistischer Autor seine Kunst so umwandeln konnte, dass sie den sowjetischen Staat, insbesondere auch die von Gorki eigentlich ungeliebten Bolschewiki, unterstützte. Diesbezüglich werden mehrere Berührungspunkte angesprochen: Erstens ist Gorki überzeugt, dass Literatur die Aufgabe habe, Realität nicht nur widerzuspiegeln, sondern auch zu beeinflussen. Er steht zweitens auf dem Standpunkt, dass es zwei Wahrheiten gebe, wobei die Wahrheit der Vergangenheit kritisch dargestellt werden solle, während die Wahrheit der Zukunft positiv bestätigt werden müsse. Und drittens liegt ihm das Transformationsprojekt zum Neuen Menschen am Herzen. Die Bestrebungen Gorkis, diese Ziele zu realisieren und dabei einen neuen Massenleser sowie eine kollektive Autorschaft herauszubilden, wird anhand seiner Zeitschriften „Literaturkunde“ und „Unsere Errungenschaften“ – mit dem berüchtigten positiven Essay über das Arbeitslager Solowki (1929) – nachvollzogen. Der Endpunkt der Entwicklung in den 1930er-Jahren wird anhand der Buchreihe „Geschichte der Fabriken und Werke“ nachgezeichnet, in der auch der Band „Der Stalin-Weißmeer-Ostsee-Kanal“ (1934) erschienen ist, in dem 36 namhafte Schriftsteller (darunter auch Gorki und Soschtschenko) ein Loblied auf diese Großbaustelle anstimmen, und die unmenschlichen Bedingungen der Strafgefangenen, die dort arbeiten, herunterspielen und als erfolgreiche Maßnahme zur „Umschmiedung“ zum „Neuen Menschen“ darstellen. An diesem Endpunkt ist der Schriftsteller nunmehr selber umerzogen, und die Entscheidungsinstanz ist vom Autor an den „Herausgeber“ übergegangen – also an denjenigen, der die Montage vornimmt, das heißt im gegebenen Fall an den Geheimdienst.

Das vierte Kapitel ist dem Satiriker Michail Soschtschenko mit seinem „ironischen Modus“ (‚ironic mode‘) gewidmet – auch er ein Autor als Produzent. Papazian unterscheidet in seiner Entwicklung drei Etappen in der zur Diskussion stehenden Zeitspanne: (1) Der Autor parodiert mit seinen Gawrila-Feuilletons den erwünschten proletarischen Schriftsteller, um im Leser ein Bewusstsein über noch bestehende Unzulänglichkeiten zu wecken; (2) Soschtschenko positioniert sich mit seinem Buch „Briefe an den Schriftsteller“ (1929) selber als eine Art Lehrer für seinen Massenleser; (3) der Schriftsteller wird zum „Ingenieur“, zum Herausgeber und Überwacher des Transformationsprozesses sowohl seines Lesers als auch seiner selbst. Diese Etappe wird anhand seines Beitrages zum erwähnten Sammelband über den Weißmeerkanal veranschaulicht, einer Geschichte über eine „gelungene Umerziehung“ mit dem Titel „Die Geschichte eines Lebens“ (1934).

Vieles, worüber Papazian schreibt, ist bereits bekannt aus den zahlreichen, schon bisher erschienenen kritischen Studien zur Avantgarde, zum sozialistischen Realismus, aus Einzeldarstellungen über Schriftsteller und Künstler, aus Ausführungen zum Konzept der Schriftsteller als Ingenieure der Seele oder zur Stalinzeit im Allgemeinen. Der Verfasserin gelingt es aber dennoch, einen weiteren relevanten Beitrag zu leisten, denn ihre Ausführungen sind konsequent auf das Thema des Dokumentarischen gerichtet, und es gelingt ihr, die Dynamik des dokumentarischen Impetus im Kontext seiner Zeit herauszuarbeiten. Das Ästhetische als Grundlage der Argumentation verliert sie dabei nie aus dem Blick, und widmet auch dem Grenzbereich, wo dokumentarische Ästhetik in Realität umschlägt, ihre Aufmerksamkeit. Was man sich allerdings noch wünschen würde, wäre eine ausführlichere und breitere theoretische Diskussion über den Dokumentarismus, die nicht nur aus der Binnenlogik der sowjetischen 1920- und 1930er-Jahre entwickelt wird. Positiv ist anzumerken, dass der Aufbau des Textes sehr klar ist und die Argumentation gut nachvollziehbar – nicht umsonst wurde das Buch von der AATSSEEL (American Associatoin of Teachers of Slavic and East European Languages) mit einem Preis in der Rubrik „Best Book in Literary/Cultural Studies“ ausgezeichnet.

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