F. Ehricht u.a.: Dokumentenkoffer GeschichteN teilen

Titel
GeschichteN teilen. Dokumentenkoffer für eine interkulturelle Pädagogik zum Nationalsozialismus


Autor(en)
Ehricht, Franziska; Grylewski, Elke
Erschienen
Anzahl Seiten
120 S., 10 Themenordner, Begleitheft, CD-Rom
Preis
€ 20,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Murat Akan, Jüdisches Museum Berlin

Pädagogen sehen sich bei der Vermittlung der Geschichte des Nationalsozialismus mit dem Problem konfrontiert, dass die bisherigen Materialen und Ansätze von einer Nationalgeschichte ausgehen. Die Gesellschaft hat sich aber insofern verändert, als dass heutzutage ein Teil der Gesellschaft verschiedene kulturelle oder religiöse Hintergründe hat und sich dadurch eine Identifikation mit der deutschen Geschichte schwierig gestalten kann. So haben bereits Werke wie „Crossover Geschichte“1 und „Konfrontationen“2 das Erfordernis aufgezeigt, in der heterogenen Gesellschaft von heute neue Konzepte zum Umgang mit der Zeit des Nationalsozialismus zu entwickeln.

Wie schafft man es also, Jugendlichen mit Migrationshintergrund die Zeit des Nationalsozialismus näher zu bringen? Zu diesem Zweck und mit der Erkenntnis, dass ein nationalhistorischer Ansatz in der Einwanderungsgesellschaft erweitert werden muss, versucht der Dokumentenkoffer praktische Hilfe für die pädagogische Arbeit zu geben. Die beiden Autorinnen gehören zu zwei Berliner außerschulischen Einrichtungen, Miphgasch/Begegnung e.V. und dem Haus der Wannseekonferenz. Gryglewski und Ehricht sind seit vielen Jahren in der außerschulischen Pädagogik tätig. Gefördert wurde der Koffer durch die Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft. Angesprochen werden ausdrücklich Schüler und Schülerinnen aller Schultypen und kulturellen Hintergründe ab der 9. Klassenstufe.

Als wichtige Prämisse für die pädagogische Arbeit mit Jugendlichen mit Migrationshintergrund gilt, dass sich ein abermaliges Ausgrenzen nur dann vermeiden lässt, wenn man mit ihnen prinzipiell nicht anders umgeht als mit ihren autochthonen Mitschülern. Je besser jemand integriert ist, desto eher beschäftigt sie oder er sich mit der Geschichte des Nationalsozialismus.

Über eine „Pädagogik der Anerkennung“ will der Dokumentenkoffer die Schülerinnen und Schüler ermutigen, eigene Interessen im Themenfeld Nationalsozialismus zu finden, ohne sie automatisch einer Schublade zuzuordnen. Die Materialien sehen sich als Angebot, auf die Interessen der Lernenden einzugehen und ihnen zu signalisieren, dass sie und ihre Mitarbeit geschätzt sind. Diesem Ansatz sind aber auch Grenzen gesetzt:

„[Die] Pädagogik der Anerkennung ist […] nicht mit akzeptierender […] Sozialarbeit zu verwechseln. Sie schließt im Gegenteil auch das Grenzensetzen mit ein. Wenn beispielsweise antisemitische oder andere problematische Äußerungen im Kontext der Beschäftigung mit der Geschichte fallen, sollten die Jugendlichen dahingehend anerkannt werden, dass ihnen sachlich deutlich gemacht wird, warum ihre Aussagen untragbar sind.“ (S. 9)

Das Herzstück des Koffers ist eine Materialsammlung historischer Dokumente, aufbereitet in zehn Themenmappen. Dazu gibt es ein pädagogisches Begleitheft mit didaktischen Anregungen und Hintergrundinformationen. Die beigefügte CD-ROM bietet unter anderem Zusatzdokumente zu den jeweiligen Geschichten und Transkriptionen der Originale, dazu eine interaktive Weltkarte. Der Zugang zu den Geschichten erfolgt über Primärquellen, so dass die Schülerinnen und Schüler zugleich in der historisch-wissenschaftlichen Methode geschult werden.

Die Mappen sind in der Regel so aufgebaut, dass sie die Geschichte eines einzelnen Individuums als Ausgangspunkt wählen, um nach und nach auf ein bestimmtes, größer angelegtes Thema einzugehen. Sie bestehen aus sechs bis dreizehn Blättern, die keiner zwingenden Logik folgen, sondern versuchen verschiedene Aspekte zu beleuchten, die mit dem Sujet verbunden sind. Die Ordner sind in sich thematisch geschlossen und können damit unabhängig voneinander behandelt oder auch kombiniert werden.

Die subjektive Welt der Hauptpersonen wird dem NS-System und seiner Ideologie gegenübergestellt. Auf diese Weise lässt sich das jeweils behandelte Thema aus unterschiedlichen Perspektiven vermitteln. Das Thema Rassenideologie im NS-Staat wird zum Beispiel anhand der Romanze zwischen einem Türken und einer Deutschen behandelt, die mit den Behörden in Konflikt kommen. Beginnend mit dem Runderlass des Reichsministeriums des Inneren zur Frage von Eheschließungen aus dem Jahr 1936 wird Rassenideologie als ein elementares Prinzip des Nationalsozialismus behandelt und zugleich historisiert, so zum Beispiel durch ein rassistisches Gedicht aus dem 19. Jahrhundert, einen Zeitungsartikel aus der Weimarer Zeit und Veröffentlichungen des NS-Systems. In diesem Zusammenhang wird dann der konkrete Fall der Hildegard Morian dargestellt, die über eine Nachfrage ihres Vaters, ob eine Eheschließung mit einem Türken möglich sei, in das Blickfeld der Behörden gerät.

In den Mappen finden sich zahlreiche weitere persönliche Schicksale aus der NS-Zeit: die Zwangssterilisation eines 17-jährigen afrodeutschen Jungen, das Leben und die Ermordung eines Afrikaners im NS-Staat, die Geschichte Isaak Behars, eines türkischen Juden, der wie viele andere türkische Juden seine Staatsangehörigkeit verliert aber als „U-Boot“ in Berlin überlebt, die Besetzung Tunesiens und die Verpflichtung tunesischer Juden zur Zwangsarbeit, die Rettung von Juden auf Rhodos sowie die Rezeption der Hilfeleistungen des damaligen türkischen Botschafters, die Rettung einer jüdischen Familie in Tunesien durch den Araber Khaled Abdelwahhab, muslimische Helfer in Sarajevo, die Verbrechen der SS in Griechenland und die Geschichte von Yoram Arie Wurm, der über die Sowjetunion und den Iran eine Flucht um die halbe Welt antrat.

Sowohl Ansatz als auch Aufbau des Koffers klingen vielversprechend und sind überzeugend: Über eine quellenbezogene Herangehensweise werden zentrale Begriffe vermittelt und sind durch den Zugang über ein konkretes Individuum anschaulich erfahrbar. Dass das Thema Judenverfolgung im behandelten Themenkreis der NS-Geschichte einen großen Raum einnimmt, ist mit der Doppelaufgabe der beiden Herausgeber-Organisationen zu erklären, deren pädagogische Schwerpunkte einerseits im Nationalsozialismus und andererseits im Antisemitismus liegen.

Durch den Umstand, dass die Rettung und Hilfe durch muslimische Personen einen großen Stellenwert in den erzählten Geschichten einnimmt, sticht die im Dokumentenkoffer gewählte Präsentationsweise der Judenverfolgung im NS-Staat insoweit heraus, als die Rolle von muslimischen Helfern in der Shoah erst seit einigen Jahren thematisiert wird.

In diesem umfassenden und praktischen Ansatz liegen meines Erachtens auch die Stärken des Koffers: Er vermittelt durch die Quellenarbeit grundlegende historische Methodik und vermag mit seinen sehr verschiedenen Geschichten, seinem interkulturellen Lernzugang und seinem multiperspektivischen Lernprinzip Interesse zu wecken und zu überraschen.

Die „Pädagogik der Anerkennung“ ist dabei ein richtiger, wenn auch allgemein gültiger Ansatz für das Vermitteln „auf Augenhöhe“, unabhängig von Herkunft oder sozialem Hintergrund der Schülerinnen und Schüler.

Positiv hervorzuheben ist, dass sich durch den Dokumentenkoffer Interdependenzen, Überschneidungen und Zusammenhänge zwischen unterschiedlichen Geschichten erarbeiten lassen. So gehört etwa das dargestellte Massaker von Distomo in Griechenland sowohl zur deutschen Besatzungsgeschichte Europas wie zur Geschichte der griechischen Opfer unter der NS-Besatzung.

Insgesamt ist „GeschichteN Teilen“ eine gelungene Zusammenstellung, die den Fokus der bisherigen Geschichtspädagogik im Hinblick auf die NS-Zeit erweitert, denn sie bezieht jene Gruppen ein, die in der bestehenden Pädagogik neu entdeckt werden.

Insbesondere in der außerschulischen Bildungsarbeit (Workshops etc.) lässt sich ein fruchtbarer Einsatz des Koffers gut vorstellen. Inwiefern das Material an Schulen genutzt werden kann, hängt meines Erachtens mit dem Engagement der jeweiligen Pädagogen zusammen, da die Arbeit mit dem Dokumentenkoffer eine intensive Vorbereitung und Durchführung und somit ein Mehr an Zeit erfordert. Das vorliegende Material kann naturgemäß den herkömmlichen Unterricht nicht ersetzen, ergänzt diesen aber durch seine vielfältigen Themen und aufgezeigten Perspektiven auf sinnvolle und überzeugende Weise.

Anmerkungen:
1 Viola B. Georgi / Rainer Ohliger (Hrsg.), Crossover Geschichte. Historisches Bewusstsein Jugendlicher in der Einwanderungsgesellschaft, Hamburg 2009.
2 Gottfried Kößler u.a., Konfrontationen. Bausteine für die pädagogische Annäherung an Geschichte und Wirkung des Holocaust, 6 Hefte, Frankfurt 2000-2003.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension