J. Lempp: Die Evolution des Rats der Europäischen Union

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Titel
Die Evolution des Rats der Europäischen Union. Institutionenevolution zwischen Intergouvernementalismus und Supranationalismus


Autor(en)
Lempp, Jakob
Reihe
Studien zum Parlamentarismus 9
Erschienen
Baden-Baden 2009: Nomos Verlag
Anzahl Seiten
560 S.
Preis
€ 69,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jürgen Mittag, Institut für soziale Bewegungen, Ruhr-Universität Bochum

Mit dem anhaltenden Bedeutungszuwachs der Europäischen Union nimmt auch die Zahl wissenschaftlicher Analysen zur europäischen Integration in allen Disziplinen weiter zu. Quantitativ stellen dabei zwar noch immer politikwissenschaftliche und juristische Studien den größten Anteil; eine stärker interdisziplinäre und integrative Sichtweise, die auch die Ergebnisse anderer Fachrichtungen einbezieht, bahnt sich indes zunehmend den Weg. In diesem Kontext ist vor allem in empirischer Hinsicht auch die Studie des Politikwissenschaftlers Jakob Lempp zu verorten. Diese auf seiner Dresdner Dissertation basierende Arbeit rückt mit dem (Minister-)Rat der Europäischen Union das – seit den Römischen Verträgen – wichtigste legislative Organ der Europäischen Gemeinschaften bzw. der EU in den Mittelpunkt. Lempp beleuchtet den Rat nicht allein im Hinblick auf seine gegenwärtigen Strukturen und Funktionen, sondern auch bezüglich seiner institutionellen Entwicklung.

Dieser Zuschnitt der Arbeit ist umso erfreulicher, da bisher zum Rat weder eine politik- noch eine geschichtswissenschaftliche Spezialstudie mit diachroner Perspektive vorlag. Politikwissenschaftliche Überblicksdarstellungen, etwa diejenige von Fiona Hayes-Renshaw und Helen Wallace, rekurrieren zwar auf die Genese des Rats1, nutzen diesen Zugang aber lediglich als Einstieg, um dann ausführlicher auf aktuelle Strukturen einzugehen. In einzelnen geschichtswissenschaftlichen Studien stand der Rat ebenfalls schon im Mittelpunkt, zum Beispiel in der Arbeit von N. Piers Ludlow über die Krise der 1960er-Jahre2; eine Längsschnittanalyse fehlt hier jedoch ebenfalls.

Die Vernachlässigung des Rats erstaunt nicht nur wegen seiner zentralen Bedeutung für die Rechtsetzungsprozesse auf europäischer Ebene, sondern auch deshalb, weil er im institutionellen Geflecht der Europäischen Gemeinschaften bzw. der Europäischen Union eine eigenartige Rolle einnimmt. In seiner Zusammensetzung ist der Rat primär ein Instrument der Mitgliedstaaten, da in ihm – und in seinem organisatorisch-administrativen Unterbau – vor allem Minister bzw. hohe Beamte der Mitgliedstaaten agieren. Der Annahme, der Rat sei ein klassisches intergouvernementales Organ, steht indes die von ihm betriebene Politik gegenüber, die stets auch deutlich supranationale Züge aufgewiesen hat. Mit seinen legislativen Entscheidungen hat der Rat erheblich dazu beigetragen, dass sich in den vergangenen Jahrzehnten ein dichtes Netz von vergemeinschaftetem Sekundärrecht über Europa gelegt hat. Vor diesem Hintergrund bildet die Einordnung und Charakterisierung des Rats für Lempp eine zentrale Leitfrage, die er in seinem ersten Hauptkapitel (S. 35-172) ausführlicher in Beziehung zum theoretischen Ansatz des evolutorischen Institutionalismus stellt.

Für Historiker relevanter – und infolgedessen hier näher zu erwähnen – sind die beiden nachfolgenden Hauptkapitel, in denen die Strukturen, Funktionen und Interaktionsformen des Rats dargestellt und hinsichtlich ihres Wandels beleuchtet werden. Der Eindruck, der sich in diesen Kapiteln vor allem im Hinblick auf die stärker historischen Zeitabschnitte einstellt, ist indes zwiespältig. Auf der einen Seite vermag es Lempp, die Genese des Rats gekonnt in den Ablauf der allgemeinen Integrationsgeschichte einzubetten und dabei eine breite Literaturgrundlage sowie 58 anonymisierte Interviews zu verarbeiten. Auf der anderen Seite belastet Lempp seine Arbeit jedoch immer wieder mit zahlreichen Nebenaspekten – vor allem zur allgemeinen Vertragsentwicklung –, während Kernaspekte nicht zum Tragen kommen und grundlegende Literatur unberücksichtigt bleibt. Ohne angesichts eines eng bedruckten 36-seitigen Literaturverzeichnisses allzu beckmesserisch Kritik zu üben, vermisst man neben der Pionierstudie von Christoph Sasse aus dem Jahr 1975 über den Ministerrat3 auch den zentralen Beitrag von Waldemar Hummer und Walter Obwexer zur Entwicklung der EU-Ratspräsidentschaft4 sowie den Rückgriff auf das eine oder andere Originaldokument – und seien es „nur“ die gedruckt vorliegenden, jährlich vom Generalsekretariat des Rats herausgegebenen „Überblicke über die Tätigkeit des Rats“.

Aus dieser Literatur wäre zu entnehmen, dass bereits Anfang der 1970er-Jahre zahlreiche Reformoptionen zur Arbeitsorganisation des Rats erörtert wurden: von einer Aufwertung der Ständigen Vertreter zu nationalen Staatssekretären bis hin zu einer größeren Öffentlichkeit bei Ratstagungen. Zugleich wäre auch deutlich geworden, dass „die dreimonatige Frist [der EGKS-]Präsidentschaft in eine sechsmonatige Ratspräsidentschaft“ eben nicht einfach „umgewandelt“ wurde (S. 214), sondern dass die dreimonatige EGKS-Präsidentschaft und die sechsmonatige EWG- bzw. Euratom-Präsidentschaft bis zum Inkrafttreten des Fusionsvertrags zunächst parallel nebeneinander liefen. Bei diesen Aspekten handelt es sich zweifellos eher um Nebenstränge, die noch dazu stark auf die ersten Jahre der Ratsentwicklung abheben. Für den (historisch) interessierten Leser einer Studie über die Evolution des Rats sind entsprechende Grundlagen aber nicht unerheblich.

Diesen Monita stehen jedoch auch grundlegende Einblicke in die jüngere Geschichte des Rats und ein breites Spektrum vor allem theoriebezogener Interpretationsofferten gegenüber, mit denen zahlreiche Lücken der bisherigen Forschung über dieses Organ geschlossen werden. Dass dem Rat einerseits eine „supranationale Leitidee“ zugrunde liegt, andererseits seine Evolution in den 1960er-Jahren durch „bestehende Machtstrukturen“ gebremst wurde, überrascht dabei vielleicht weniger als der Hinweis auf den „transformativen äußeren Selektionsdruck“ in den 1990er-Jahren, der zu einer Kompetenzerweiterung und zu strukturellen Reformen des Rats führte (S. 503f.).

Insgesamt hat Jakob Lempp eine hoch reflektierte Studie vorgelegt, die das empirische Wissen über den Rat systematisch aufbereitet und zudem für die politikwissenschaftliche Theoriedebatte zahlreiche weiterführende Interpretationen bietet. Für Historikerinnen und Historiker liefert dieser Band hingegen eher Impulse für vertiefende Analysen, die dringend notwendig sind, um im Sinne der eingangs angesprochenen interdisziplinären und integrativen Sichtweisen zu weiteren Kenntnissen über diese Schlüsselinstitution der europäischen Integration zu gelangen.

Zur Diskussion anregen dürfte im Übrigen auch die Aufnahme dieses Bandes in die Reihe „Studien zum Parlamentarismus“. Sicher spricht vor dem Hintergrund gerade der Erfahrungen des deutschen Exekutivföderalismus einiges dafür, auch die Repräsentation von Exekutiven in einem Organ auf höherer Ebene in einen Bezug zum Parlamentarismus zu stellen. Ob aber gerade dem Rat mit seinen nur gering ausgeprägten gesellschaftlichen Interaktions- und Kommunikationsmechanismen sowie seiner begrenzten Transparenz parlamentarische Qualität zu unterstellen ist, dahinter ist selbst im Sinne der Leitidee eines „weiten Parlamentsbegriffs“ zumindest ein Fragezeichen zu setzen.5

Anmerkungen:
1 Fiona Hayes-Renshaw / Helen Wallace, The Council of Ministers, 2. Aufl. Houndmills 2006.
2 N. Piers Ludlow, The European Community and the Crisis of the 1960s. Negotiating the Gaullist Challenge, London 2006.
3 Christoph Sasse, Regierungen, Parlamente, Ministerrat. Entscheidungsprozesse in der Europäischen Gemeinschaft, Bonn 1975.
4 Waldemar Hummer / Walter Obwexer, Die „EU-Präsidentschaft“. Entwicklung, Rechtsgrundlagen, Funktionen und Aufgaben sowie künftige Ausgestaltung der „Präsidentschaft“ des Rates der Europäischen Union, in: Europarecht 4 (1999), S. 409-451.
5 Siehe als anregenden weiterführenden Diskussionsbeitrag Werner J. Patzelt, Vom Nutzen eines weiten Parlamentsbegriffs. Leitideen und institutionelle Formen des Parlamentarismus, in: ders. / Martin Sebaldt / Uwe Kranenpohl (Hrsg.), Res publica semper reformanda. Wissenschaft und politische Bildung im Dienste des Gemeinwohls, Wiesbaden 2008, S. 224-239.

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