M. Buddrus (Bearb.): Mecklenburg im Zweiten Weltkrieg

Cover
Titel
Mecklenburg im Zweiten Weltkrieg. Die Tagungen des Gauleiters Friedrich Hildebrandt mit den NS-Führungsgremien des Gaues Mecklenburg 1939-1945. Eine Edition der Sitzungsprotokolle, bearb. von Michael Buddrus, unter Mitarbeit von Sigrid Fritzlar und Karsten Schröder


Herausgeber
Röpcke, Andreas; Schoebel, Martin
Reihe
Quellen und Studien aus den Landesarchiven Mecklenburgs und Vorpommerns, Bd. 10
Erschienen
Bremen 2009: Edition Temmen
Anzahl Seiten
1100 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Oliver Werner, Historisches Institut, Friedrich-Schiller-Universität Jena

In der zweiten Jahreshälfte 1944 verfügte der Leiter der Parteikanzlei der NSDAP, Martin Bormann, dass sämtliche Unterlagen der Partei spätestens bei Feindberührung zu vernichten seien. Diese Anordnung wurde von den regionalen und lokalen Parteidienststellen in den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs so gründlich ausgeführt, dass wir heute nur eine rudimentäre Überlieferung von NSDAP-Schriftgut der Gau- und Kreisebene haben. Es ist daher tatsächlich „ein kleines Wunder“ (S. 9), dass durch besondere Umstände und über politische Umbrüche hinweg aussagekräftige Dokumente der NSDAP-Gauleitung Mecklenburg(-Lübeck) erhalten geblieben sind, die nun am Institut für Zeitgeschichte München von Michael Buddrus unter Mitarbeit von Sigrid Fritzlar und Karsten Schröder sorgfältig ediert wurden.

Schon die Überlieferungsgeschichte ist bemerkenswert. Friedrich Hildebrandt, seit April 1925 Gauleiter des Gaus Mecklenburg-Lübeck der NSDAP, sammelte ab 1934 Unterlagen aus seiner politischen Tätigkeit in einem separaten Privatarchiv. Die Beweggründe für dieses Vorgehen bleiben unklar, auch wenn die vom Bearbeiter angenommenen Motive – die Schaffung exklusiven Herrschaftswissens sowie später die Bereithaltung entlastenden Materials – durchaus plausibel scheinen. Während die Unterlagen der Gauleitung der NSDAP auch in Mecklenburg weisungsgemäß vernichtet wurden, ließ Hildebrandt Teile der privaten Aktensammlung Anfang Mai 1945 vergraben. Kurz darauf wurde er gefangen genommen, wegen seiner Beteiligung an der Tötung alliierter Kriegsgefangener von einem amerikanischen Militärgericht verurteilt und am 5. November 1948 hingerichtet.

War es ursprünglich geplant gewesen, die „höchst disparate Dokumentensammlung“ (S. 18) nur für wenige Wochen zu verstecken, blieb sie nun fast 45 Jahre unter der Erde. Erst nach dem politischen Umbruch 1989 gelang es den Söhnen Hildebrandts, die vergrabenen, teilweise schon verrotteten Akten aufzuspüren und zu bergen. In den folgenden Jahren wurden die Papiere unsachgemäß in Kellern gelagert, sodass weiteres Material verloren ging. Andere Stücke des Nachlasses wurden an NS-Devotionalienhändler verkauft, sodass die Unterlagen, die schließlich Ende der 1990er-Jahre an das Landeshauptarchiv Schwerin gelangten, nur noch einen Teil der ursprünglichen Sammlung ausmachen.

Die Aussagekraft dieser verbliebenen Dokumente für „das initiale und aktive Handeln der Parteidienststellen“ (S. 21) kann indes gar nicht hoch genug eingeschätzt werden und geht weit über den regionalen Rahmen der Edition hinaus. Die Quellenlage für die Geschichte Mecklenburgs im Dritten Reich ist ausgesprochen schwierig, da viele Akten aus staatlicher Provenienz zum Kriegsende ebenfalls vernichtet wurden. Damit sind für die 1930er- und 1940er-Jahre aussagefähige Unterlagen über das Verhältnis zwischen Staat und NSDAP in Mecklenburg vor allem im Nachlass von Friedrich Hildebrandt erhalten. Des Weiteren erlauben die edierten Dokumente neuartige Einblicke in die Funktionsweise der NS-Gaue, die während des Zweiten Weltkriegs durch Kompetenzzuschreibungen und die Schaffung neuer Regulationsmechanismen deutlich ausgebaut wurden.1

Die Edition stützt sich auf den gewichtigsten Teil des Nachlasses und dokumentiert die Tagungen der Gauamtsleiter und Landräte sowie die Sitzungen des Reichsverteidigungsausschusses Mecklenburg zwischen Oktober 1939 und März 1945. Die ausführliche Einleitung des Bandes legt neben der Überlieferungsgeschichte den persönlichen und politischen Kontext des Gauleiters Friedrich Hildebrandt dar und skizziert die wirtschaftliche Entwicklung des Gaus Mecklenburg während des Zweiten Weltkriegs. Ein ausführliches Personenregister mit über 1300 akribisch zusammengetragenen Kurzbiografien bietet zudem einen Zugang zu den Unterlagen über die einzelnen Funktionsträger. Wenn von Tagungen keine Wortprotokolle vorliegen, zieht der Herausgeber als weitere Quelle Meldungen des NS-Gaudienstes Mecklenburg heran. Diese in Form von Agenturmeldungen erschienenen Nachrichten aus den einzelnen Parteigauen bilden eine bisher in der Forschung nur selten berücksichtigte Quelle, deren Aussagewert die Edition überzeugend unter Beweis stellt.

Ein überlieferungsbedingter Schwerpunkt liegt bei den Akten des nach dem verheerenden Luftangriff auf Rostock Ende April 1942 gebildeten Gaueinsatzstabs, mit dessen Hilfe sich Hildebrandt persönlich um Rettungs- und Bergungsmaßnahmen kümmerte. Er setzte damit ein prägendes Beispiel für die spezifische Aufgabenerweiterung der NSDAP an der Heimatfront unter den Bedingungen des Bombenkriegs, indem sich die Partei mit drakonischen Umverteilungsmaßnahmen als Stütze der „Volksgemeinschaft“ gerierte. Hildebrandt erscheint in den Unterlagen generell als ein engagierter Gauleiter, der sich mit hemdsärmeligem Nachdruck um viele Detailfragen der Kriegswirtschaft und der Lebensumstände der mecklenburgischen Bevölkerung kümmerte. Das mag zum Teil seinem Selbstbild geschuldet sein, das die Auswahl der privaten Dokumentensammlung beeinflusst hat. Als gelernter Landarbeiter und raubeiniger „alter Kämpfer“ nutzte Hildebrandt aber auch die sozialen Affekte der mecklenburgischen Bevölkerung gegen adlige Gutsbesitzer politisch aus und versuchte auf diese Weise, seinen Rückhalt im Gau weiter auszubauen.2

Editionen bedeuten immer einen Kompromiss zwischen Alternativen, die endlos abgewogen werden könnten. Während die Auswahl der Quellen grundsätzlich überzeugt, haben einige Entscheidungen des Bearbeiters dazu geführt, dass die Dokumente in einer unhandlichen, wenig lesefreundlichen Form vorliegen. Das betrifft vor allem den sehr umfangreichen Anmerkungsapparat, für den sich der Bearbeiter ausdrücklich rechtfertigt, da nur „eine Verbindung der überlieferten Protokollnotizen mit zeitgenössischen Konstellationen und Bedingungsgefügen“ (S. 37) das Verständnis der Quellen ermögliche. So einleuchtend das ist, bleibt dennoch ein Widerspruch zwischen dem eher speziellen Interessentenkreis für die edierten Tagungsunterlagen und den Adressaten der sehr umfangreichen Anmerkungen bestehen. Die Erläuterungen seien vor allem für Leser bestimmt, „die nicht unmittelbar in die differenzierten Diskurse einer teilweise hoch spezialisierten Wissenschaftslandschaft eingebunden“ seien, und sollten ihnen „ein tieferes Verständnis und ein Eindringen in das damalige Zeitgeschehen ermöglichen, Zusammenhänge politischer, wirtschaftlicher und militärischer Art deutlich machen und darüber hinaus Anregungen für weiterführende Überlegungen und Forschungen bieten“ (S. 38).

Das ist sehr viel auf einmal, und die Geschichte Mecklenburgs im Zweiten Weltkrieg – nicht weniger verspricht ja der Titel des Buches – verteilt sich durch dieses Vorgehen auf unzählige, zum Teil sehr lange Anmerkungen, die sich nur über den Sachzusammenhang der präsentierten Quellen erschließen. Zugleich werden vielfach allgemeine Erläuterungen mit tatsächlich unverzichtbaren Hintergrundinformationen vermengt. Weiter erscheint der Text in einer ungewöhnlich kleinen Schriftgröße, mit der zwar die gesamte Edition in einem Einzelband erscheinen konnte, wodurch aber auch das Arbeiten mit den Dokumenten erschwert wird. Hier wären andere Lösungen denkbar gewesen – etwa eine zweibändige Ausgabe mit Quellen- und Kommentarband oder die Präsentation der Dokumente in elektronischer Form. Die wissenschaftliche Qualität der Edition mindert dies allerdings in keiner Weise.

Anhand der Protokolle lassen sich charakteristische Tendenzen der Amtsführung Friedrich Hildebrandts herausarbeiten. Seine Bereitschaft, sich mit vielen Detailfragen zu beschäftigen, verstärkte sich noch während des Krieges, und die NSDAP „kollidierte […] dabei nicht selten sowohl auf der Gauebene als auch im Reichsmaßstab mit konkurrierenden staatlichen Behörden, Wehrmachtsdienststellen oder Wirtschaftsverbänden“ (S. 36). In den vielen protokollierten Äußerungen Hildebrandts kommt ein krudes Rechts- und Staatsverständnis zum Ausdruck, in dem der eigene Gestaltungsspielraum ständig ausgeweitet und überschätzt wurde. Im April 1941 etwa äußerte der Gauleiter, dass er auf eine gesetzliche Grundlage seines Vorgehens gegen Gutsbesitzer „pfeife“ (S. 124). Es passiere nichts in seinem Gau, so Hildebrandt im Mai 1942, das er „nicht in einer halben Stunde gemeldet kriege“. Er erscheine dann vor Ort: „Das ist ja meine Tätigkeit als Gauleiter. Dafür hat uns der Führer hier gelassen, dass die übergeordneten Persönlichkeiten die Volksführungsaufgaben erfüllen“ (S. 441). Auffällig ist Hildebrandts anmaßender und immer wieder betont mitleidsloser Duktus. Die häufigen Hinweise auf eine umfassende, durch den Krieg faktisch entgrenzte Kompetenz als Gauleiter können durchaus verschieden interpretiert werden – als Ausdruck eines persönlichen Habitus, als gefälliges Ritual, aber gerade gegen Kriegsende auch als Versuch der Selbstvergewisserung des Gauleiters im Kreis seiner vertrauten Funktionselite.

Tatsächlich korrespondierte der Kompetenzzuwachs auf der Gauebene mit der ab 1943 zunehmenden Fragmentierung der deutschen Kriegswirtschaft. Diese Entwicklung wertete die Gaue als Mittelinstanzen auf, da vor allem sie in der zweiten Kriegshälfte noch über eine kommunikative und regional verlässliche Infrastruktur verfügten. Das Nebeneinander von zusammenbrechenden Reichsstrukturen und einer unverminderten Bestätigung der eigenen Handlungsfähigkeit in den Gauen prägte dabei das Handeln der regionalen Parteieliten.

Dieser Zusammenhang lässt sich mit der vorliegenden Edition gut herausarbeiten. Sie ermöglicht die gezielte Untersuchung der Stellung der NSDAP-Gaue als regionale Mittelinstanzen des nationalsozialistischen Herrschaftssystems. Für die NS-Forschung liegt damit ein unverzichtbarer Beitrag vor, der mit einer Fülle neuen Materials wichtige Anstöße für eine Herrschafts- und Gesellschaftsgeschichte Deutschlands im Zweiten Weltkrieg bietet.

Anmerkungen:
1 Vgl. Jürgen John / Horst Möller / Thomas Schaarschmidt (Hrsg.), Die NS-Gaue. Regionale Mittelinstanzen im zentralistischen „Führerstaat“? Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, München 2007.
2 Vgl. Bernd Kasten, Friedrich Hildebrandt (1898-1948): ein Landarbeiter als Gauleiter und Reichsstatthalter von Mecklenburg und Lübeck, in: Zeitschrift des Vereins für Lübeckische Geschichte und Altertumskunde, 86 (2006), S. 211-227.

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