A. Pieper: "Music and the Making of Middle-Class Culture"

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Titel
Music and the Making of Middle-Class Culture. A Comparative History of Nineteenth-Century Leipzig and Birmingham


Autor(en)
Pieper, Antje
Erschienen
Houndmills 2008: Palgrave Macmillan
Anzahl Seiten
214 S.
Preis
€ 62,09
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Dorothea Trebesius, Institut für Kulturwissenschaften, Universität Leipzig

Antje Pieper untersucht die Rezeption von Musik in Großbritannien und Deutschland im 19. Jahrhundert und fragt, wie dabei die kulturelle Identität der „Mittelklassen“ konstruiert und durchgesetzt wurde. Pieper fokussiert auf zwei musikalische Institutionen des bürgerlichen Konzerts: das Gewandhaus in Leipzig und das Triennial-Festival in Birmingham (gegründet 1784). Sie beschreibt deren Entstehung und Entwicklung bis in das Jahr 1914 und fragt, wie sie die bürgerliche Kultur repräsentierten und bedingten, sowie auf ästhetische, soziale und kulturelle Herausforderungen reagierten. Beide Institutionen dominierten, so Pieper, im 19. Jahrhundert das öffentliche Musikleben und repräsentierten die jeweilige Elitekultur. Zugleich stehen Birmingham und Leipzig als pars pro toto für die jeweilige Nation (S. xviii), womit die Autorin nicht nur lokale, sondern nationale Entwicklungen vergleichen will.

Durchaus innovativ kombiniert Pieper Ansätze aus der Geschichte des Konzertes mit Arbeiten zur Geschichte der Musikästhetik und Geistesgeschichte, der Sozial- und Kulturgeschichtliche des Bürgertums und der Mittelklassen, mit soziologischen Theorien zur Öffentlichkeit und sozialen und kulturellen Distinktion. Besonderes Augenmerk legt die Autorin auf die Verbindung von Sozial- und Kulturgeschichte mit der Geschichte ästhetischer Ideen, religiöser Werte und kultureller Normen. Das führt dazu, dass sie sich manchmal zu stark auf die Ideengeschichte konzentriert und die historischen Akteure aus dem Blick verliert. Die Studie basiert auf der Auswertung von Musikkritiken verschiedener musikalischer Zeitschriften, ergänzt um Archivmaterialien, die das jeweilige Funktionieren der Institution erhellen.

Im ersten Kapitel vergleicht die Autorin Leipzig und Birmingham hinsichtlich ihrer politischen, sozialen und wirtschaftlichen Lage im 19. Jahrhundert, charakterisiert die jeweiligen Mittelklassen und stellt die Entstehung des Gewandhauses und des Triennial-Festivals dar. Sie erarbeitet die unterschiedlichen Funktionen, welche die musikalischen Institutionen abhängig vom sozialen und politischen Kontext erfüllten: in Birmingham sollte die Kultur die sozio-kulturellen Differenzen der Mittelklassen überbrücken, die sich unter anderem in der unterschiedlichen Religiosität der Bewohner manifestierten. Hier wurde die Kultur zudem mit moralischen und philanthropischen Zielen verbunden: Das Triennial-Festival wurde zu dem Zweck gegründet, Spenden für das örtliche Hospital zu sammeln.

Die soziale Kohäsion des Leipziger Bürgertums war vergleichsweise hoch, Kultur sollte eher unterhalten und zerstreuen und weniger politische und religiöse Differenzen überbrücken (S. 16). Allerdings überschätzt die Autorin wahrscheinlich die Homogenität in Leipzig, denn religiösen Minderheiten wie den Hugenotten, die sie auch auf Seite sechs erwähnt, war die politische Partizipation zumindest im frühen 19. Jahrhundert nicht möglich. Für sie spielte gerade die Kultur eine wichtige Rolle für die soziale und dann auch politische Integration.

Das zweite Kapitel über den „Aufstieg kultureller Diversität“ untersucht für die Zeit von 1750 bis 1820 die Mittelklassenkulturen anhand der Frage, welche Normen, Werte und Ideen sie über Kunst und Kultur entwickelten. In den Mittelpunkt stellt Pieper die Aufklärung, deren philosophische und ästhetische Ideen dem jeweils nationalen politischen und ökonomischen Kontext angepasst und verändert wurden. Dabei kristallisiert sie zwei Grundhaltungen gegenüber Kunst in Deutschland und England heraus: Kunst sollte in England Gefühle, moralischen Anstand und sozialen Nutzen hervorrufen, während die Kunst in Deutschland den eher allgemeinen Anspruch der Erhebung des Individuums erfüllen sollte. Im Verhältnis zu anderen gesellschaftlichen Sphären wurde sie als „autonom“ und separiert konzipiert, in England hingegen mit dem alltäglichen Leben verbunden.

Die Institutionalisierung, Standardisierung und Formalisierung dieser ästhetischen Vorstellungen verdeutlicht Pieper an der musikalischen Presse Leipzigs und Birminghams. Die Allgemeine Musikalische Zeitung (AMZ) propagierte ein Kunstideal, das auf dem Kant’schen Ideal der Universalität der Gefühle basierte. Mit diesem Kunstverständnis konnte die AMZ später den neuen romantischen Ideen, welche die Individualität des Empfindens betonten, nicht folgen und so wurde im Jahr 1834 die Neue Zeitschrift für Musik (NZfM) als Gegeninstitution gegründet. Diese propagierte Komponisten wie Berlioz, Schubert, Liszt und Chopin (S. 48), die im Gewandhaus selten gespielt wurden. In Birmingham existierte bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts keine musikalische Presse, Musikkritiken erschienen in Londoner Zeitschriften, die Birminghams musikalische Kultur eher kritisch betrachteten.

Pieper betont, dass die englische Presse weniger instruierend gewirkt habe. Oft sprachen die Kritiker nicht über Musik, sondern erzählten den Text der in Birmingham zahlreich aufgeführten Oratorien und Opern nach. Die kulturelle Homogenisierung leistete die Religion, die in diesen Gattungen ausgedrückt wurde. Sie galt für alle verbindlich, da sie keiner spezifischen Konfession zugeordnet wurde. Interessant am englischen Fall ist die frühe Verbindung von „Kunst“ und „Kommerz“, bzw. „Philanthropie“. Die Zeitungen veröffentlichten nicht nur die Musikkritiken, sondern gleichzeitig auch die Höhe der eingenommenen Profite.

Das dritte Kapitel beschreibt die Zeit vom späten 18. Jahrhundert bis zum Jahr 1847 und zeigt die Herausbildung des bürgerlichen Konzerts anhand des Repertoires, der Rolle der Künstler und der Architektur der Konzertsäle. Die Musikkultur in Leipzig kanonisierte sich um Ludwig von Beethoven und festigte damit ein Konzept von bürgerlicher (Musik)kultur, das sich am Ideal des Klassizismus orientierte und apolitisch war. In Birmingham wurden die Oratorien von Georg Friedrich Händel bevorzugt. Sie boten moralische Lektionen und riefen beim Publikum patriotische Gefühle hervor.

Einen besonderen Schwerpunkt legt die Autorin auf das Wirken Mendelssohns in den beiden Städten. Er sei als Vertreter für die jeweilige nationale Kultur angesehen worden: in Leipzig als klassizistischer Komponist in der Tradition Beethovens, in Birmingham als ein Komponist, der es verstand, Kunst und Kommerz zu vereinen. An dieser Stelle fällt ein methodisches Problem der Arbeit noch einmal deutlich ins Gewicht: die Autorin hat weder die Literatur zum historischen Vergleich noch die Debatten über das Verhältnis von Vergleich und Transfergeschichte zur Kenntnis genommen und stellt wohl aus diesem Grund ihre Vergleichsfälle allzu kontrastiv gegenüber, ohne nach möglichen Gemeinsamkeiten oder Wechselbeziehungen zu forschen. Spätestens am Beispiel Mendelssohn fragt man sich, warum die Autorin die Chance nicht nutzt, eine „musikalische Beziehungsgeschichte“ zu schreiben. So wäre es durchaus vorstellbar, dass Mendelssohn auch einige Elemente des „deutschen“ Kulturverständnisses nach Birmingham transferierte und den musikalischen Kontext dort veränderte.

In den letzten beiden Kapiteln vergleicht die Autorin die Musikkulturen bis zu Beginn des Ersten Weltkriegs weiter. Insgesamt entwickelt sie ein eher statisches und schematisches Konzept von „bürgerlicher Kultur“, dessen soziale und kulturelle Praktiken in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelt und in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts konsolidiert wurden.

Den Herausforderungen durch den Historismus, ästhetischen Relativismus und die Avantgardekultur begegneten die Städte unterschiedlich erfolgreich. In Leipzig ermöglichte die Assoziation der bürgerlichen Kultur mit nicht-weltlichen und letztlich nicht exakt definierbaren Werten, dass die bürgerliche Musikkultur diese Herausforderungen relativ unbeschadet überstand. Die enge Verbindung des Triennial-Festivals mit Religion, Moral und Philanthropie – Werten, die im 18. Jahrhundert entwickelt worden waren und im 19. Jahrhundert in dieser Form an Bedeutung verloren – führte dazu, dass das Festival im Jahr 1915 eingestellt wurde.

Antje Pieper hat eine gut lesbare und knappe Darstellung der Bedeutung von Musik in zwei unterschiedlichen Gesellschaften und ihrer Umsetzung in bürgerliche Praktiken geschrieben. Damit ist ihr Buch eine interessante Lektüre für die Disziplinen, die sich mit Musik als „sozialer“ und „kultureller“ Praxis beschäftigen.

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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/