S. Grüner: Geplantes "Wirtschaftswunder"?

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Titel
Geplantes "Wirtschaftswunder"?. Industrie- und Strukturpolitik in Bayern 1945 bis 1973


Autor(en)
Grüner, Stefan
Reihe
Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte Bd. 58/Bayern im Bund Bd. 7
Erschienen
München 2009: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
493 S.
Preis
€ 39,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christoph Nonn, Historisches Seminar, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Im Jahr nach der größten Rezession in der Geschichte der Bundesrepublik redet niemand mehr von "Wirtschaftswundern", und zwei Jahrzehnte nach dem Ende der DDR scheint Industrie- und Strukturpolitik endgültig auch kein Thema mehr. Doch so scheint es wohl nur – denn im Zeitalter milliardenschwerer "Rettungsaktionen" für angeschlagene Banken und ebensolcher Steuergeschenke für einzelne Dienstleistungsbranchen haben sich, dem "Strukturwandel" entsprechend, zwar die Objekte, aber nicht die Natur der Strukturpolitik verändert. Deren Praxis aus historischer Perspektive zu untersuchen, kann daher umso aufschlussreicher sein.

Stefan Grüner versucht in seiner Augsburger Habilitationsschrift, "politische Ansätze zur Veränderung der bayerischen Wirtschaftsstruktur seit Kriegsende in zeitlichem Zusammenhang und auch mit Blick auf die Stellung Bayerns in der Bundesrepublik darzustellen" (S. 7). Bekanntlich ist Bayern im Vergleich mit anderen Bundesländern seit den späten 1950er-Jahren gelungen, was die DDR gegenüber der BRD immer erfolglos anstrebte: nämlich ein "Einholen und Überholen". War das Land der Weißwürste am Ende des Zweiten Weltkriegs noch ein agrarisch geprägtes Armenhaus Westdeutschlands, so wandelte es sich in den folgenden Jahrzehnten mit weit überdurchschnittlichen Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts zur industriellen Führungsregion. Das geschah zudem unter auf den ersten Blick denkbar ungünstigen Bedingungen. Denn das Niedergehen des "Eisernen Vorhangs" rückte Bayern noch mehr in eine ökonomisch ungünstige Randlage, als das Land sie bisher schon innegehabt hatte. Und der zunächst überproportionale Anteil von Vertriebenen an der Bevölkerung erschien ebenfalls als Belastung.

In einer durch die zwei Zäsuren von 1949/50 und 1958/59 dreigeteilten Darstellung zeigt Grüner, wie aus dem ländlichen Aschenputtel dennoch eine strahlende Prinzessin wurde. Dazu trugen, nachdem sich die politischen Eliten von den ursprünglichen Agrarstaatsideen der unmittelbaren Nachkriegszeit abgewandt hatten, vor allem eine aktive Strategie dezentraler Industrialisierung nach württembergischen Vorbild und massive Kredithilfen insbesondere für Vertriebenenunternehmer bei. Begünstigt wurde die bayerische Strukturpolitik dabei von dem Umstand, dass die Attraktivität der alten industriellen Ballungsräume angesichts der 1955 erreichten Vollbeschäftigung sank und Unternehmer von dort nun verstärkt in ländlichen Entwicklungsräumen wie Bayern investierten. Auch die Wiederbewaffnung leistete dem Projekt der bayerischen Industrialisierung Schützenhilfe. Die Energiewende von der Kohle zum leichter transportierbaren Öl beseitigte die aus der Randlage erwachsenen Nachteile, wobei die regionale Politik diesen Umstand durch aktives Engagement, etwa beim Pipelinebau aus Italien, nach Kräften ausnutzte.

Nicht zuletzt profitierte die Entwicklung Bayerns aber seit 1950 auch von Bundeszuweisungen aus dem Länderfinanzausgleich und der Regionalförderung. Dazu nutzten insbesondere CSU-Politiker alle Möglichkeiten, die sich in den 1950er- und 1960er-Jahren aus ihrer starken Stellung in Bonn ergaben. Die Position Bayerns als größter Empfänger von Bundeshilfen wurde aber auch durch den Prozess der europäischen Integration und die Neuorientierung der Strukturpolitik seitens der Bonner sozialliberalen Koalition seit 1969 nicht in Frage gestellt. Allerdings liegt der Schwerpunkt der Arbeit ohnehin mehr auf der Zeit bis 1958; mit der folgenden Zeit bis zur ersten Ölkrise 1973 befasst sich nur noch ein knappes Viertel des Textes.

Grüner hat die bisherige Forschung zur Kenntnis genommen, seine sehr materialreiche Darstellung aber vor allem breit in den zeitgenössischen Quellen verankert. Die Aktenüberlieferung der wichtigsten Münchner Ministerien ist ebenso berücksichtigt worden wie die der wichtigsten Bundesbehörden, daneben auch Akten einiger bayerischer Regierungsbezirke, mit denen hier und da Fallstudien illustriert werden. Nachlässe, Protokolle des bayerischen Landtages und seiner Ausschüsse, Fraktionsakten von CSU und SPD, Unterlagen aus dem bayerischen Wirtschaftsarchiv und eine Masse von gedrucktem Material runden diese solide Quellenbasis ab. Der methodisch-theoretische Ansatz ist undogmatisch, die sprachliche Präsentation meist eingängig, nur gelegentlich färbt das Amtsdeutsch der Akten ein wenig auf die Wissenschaftsprosa ab. Ein Sachregister fehlt, anders als Personen- und Ortsregister, leider.

Am Ende der Darstellung heißt es etwas lapidar, die "Verschränkung von Planung und Pragmatik" sei eines der "wesentlichen Erfolgsrezepte" der bayerischen Industrie- und Strukturpolitik gewesen. Hier hätte ich mir, wie überhaupt öfter im Text, eine etwas deutlichere Verortung des Autors in den Forschungsdiskussionen gewünscht. Die Planungseuphorie der 1960er- und frühen 1970er-Jahre etwa, die in den letzten Jahren vielfach historiographisch untersucht worden ist, stand ja in einem eigenartigen Spannungsverhältnis zu den Demokratisierungstendenzen der Epoche. Andererseits war die Alternative zu dem Versuch, Politik durch Planung zu objektivieren, die klassische Klientelwirtschaft. Diese ist hier überraschend abwesend, und nur ganz beiläufig wird etwa zur Kenntnis genommen, dass zentrale Aktenbestände zu sensiblen Fragen und Zeitabschnitten in der Parteiüberlieferung fehlen (S. 359). Welche Interessen mit Strukturpolitik durchgesetzt wurden, und auf wessen Kosten das geschah, bleibt in Grüners Darstellung recht blass. Es wäre zu hoffen, dass künftige Arbeiten hier noch tiefer bohren. Ein solider Grundstein dafür ist mit dieser Studie jedenfalls gelegt.

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