Titel
Die gefährdete Republik. Von Bonn nach Berlin 1949 - 1989 - 2009


Autor(en)
Lucke, Albrecht von
Erschienen
Anzahl Seiten
96 S.
Preis
€ 9,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Frauke Schacht, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

Die doppelte Staatsgründung liegt 60 Jahre zurück, der Geburtstag des Grundgesetzes wird gefeiert und der Fall der Mauer jährt sich zum 20. Mal. Im Gedenkjahr 2009 macht sich Albrecht von Lucke, Jurist und Politikwissenschaftler, daran, den gegenwärtigen Zustand Deutschlands kritisch zu betrachten. In seinem Essay verdeutlicht er in zehn knappen Kapiteln, die von der Gründung 1949 bis zur gegenwärtigen Finanzkrise reichen, die Unterschiede zwischen der Bonner und der Berliner Republik. Sein Ausgangspunkt ist dabei die Frage: "Bonn war nicht Weimar – was ist Berlin?" (S. 7). Zu den Vorzügen und Leistungen der alten BRD und ihrer Bürger zählt er unter anderem soziale Durchlässigkeit, Debattierfreudigkeit, lang anhaltende Friedfertigkeit und vielfältige politische Partizipation der Bürger. Daraus ergibt sich folgerichtig die Frage nach den „größten Veränderungen in der Berliner Republik“ (S. 12) Von Lucke möchte so Denkanstöße für neue nationale Diskurse bieten. Ihre „Erfolgsgeschichte“ könne nicht fortgeschrieben werden, wenn die Bedingungen für eben diesen Erfolg nicht mehr beachtet würden.

Mit dem Wandel von einem republikanisch geprägten Staatsverständnis zu einem nationalstaatlichen, verkörpert durch den Begriff „Deutschland“, werde die Veränderung innerhalb der Gesellschaft deutlich – „Nahezu unbemerkt scheint aus der Republik die Nation geworden zu sein.“ (S. 15) Dieser Wechsel berge die Gefahr einer falsch verstandenen „Normalisierung“ in sich, wenn damit unweigerlich ein Primat der Außenpolitik einschließlich Kriegsführung verbunden sei. Der Gründungsmythos des „Nie wieder“ der Bonner Republik, der zunächst auf den Krieg, später auch auf Auschwitz bezogen worden sei, fehle nach der Wiedervereinigung zur Sinnstiftung. Als Lückenfüller werde sich des patriotischen Pathos bedient oder dies zumindest versucht. Diese „mentale Aufrüstung“ (S. 39) gelinge aber nur begrenzt, denn weder Gerhard Schröder noch Angela Merkel zeichneten sich durch einen pathetischen Stil aus.

Die Bonner Republik als „dezidiert antischmittianisches Projekt“ (S. 28-29), dass sich nicht von Freund-Feind-Denken bestimmen ließ, war vom Primat der Innenpolitik bestimmt. Öffentliche Debatten, oftmals von engagierten Intellektuellen angeregt, prägten das Leben in der alten Republik. Diese Kultur der Kommunikation habe es den Bürgern ermöglicht, Alternativen zu erkennen und diesen ihre Stimme zu geben. Die heutige Nischengesellschaft sei dem gegenüberzustellen – der Rückzug in das Private und der Wunsch nach persönlichem Fortkommen bestimme das Leben derjenigen, die aufgrund ihres Bildungshorizontes und gesicherter finanzieller Situation der Elite zuzurechnen seien.

Von Lucke übergeht weitestgehend, dass viele seiner Thesen bereits für die Zeit vor 1989 zutreffen. So ist der Befund, dass angeblich nur „Abstammung und Herkunft statt Talent und Befähigung“ (S. 64) über das gesellschaftliche Fortkommen in der Bundesrepublik entscheiden, zwar alles andere als beruhigend, aber eben nicht neu. Der in dem Essay mehrfach zitierte, vor kurzem verstorbene Ralf Dahrendorf beschrieb dieses Phänomen bereits in seiner 1965 erschienenen Studie „Gesellschaft und Demokratie in Deutschland“. Diese Gegenüberstellung von gelungener Bonner und noch nicht bewährter Berliner Republik lässt von Lucke teilweise zu einer überzogenen Dichotomie neigen. Beispielsweise ist die Integration der Gastarbeiter, die von Lucke als Leistung der alten Republik rühmt und dem neuen „Freund-Feind-Denken“ diametral gegenüberstellt, das durch die Ereignisse des 11. September 2001 ausgelöst worden sei, wohl nicht so uneingeschränkt gelungen, wie hier behauptet wird. Schon der Begriff „Gastarbeiter“ lässt Rückschlüsse auf den Charakter der Beziehung zwischen Bonner Republik und den angeworbenen Arbeitskräften zu. Auch weil eine systematische Integrationspolitik fehlte, fand eine Einbeziehung in das politische und kulturelle Leben lange Zeit kaum statt. Die Klage, dass der Typus des gesellschaftspolitisch engagierten Bürgers demjenigen des Konsumenten das Feld geräumt habe, wurde von Jürgen Habermas bereits in der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre geführt. Die in diesem Zusammenhang einschneidende Einführung des Privatfernsehens 1984 und des Internets wird erwähnt, aber vor allem letzteres im Hinblick auf die Veränderung der Öffentlichkeit nicht näher untersucht.

Die Stabilität der Bonner Republik gründete nach von Lucke vor allem auf der wirtschaftlichen Prosperität, welche die sozialen Unterschiede zwar nicht beseitigte, aber durch das „Aufstiegsparadigma“ – den so genannten Fahrstuhleffekt, von dem auch die weniger gut Verdienenden profitieren sollten – eine Befriedung herbeiführte. Dieses Prinzip konnte nicht auf die gesamtdeutsche Republik übertragen werden, sodass im Osten Deutschlands vielfach eine Verklärung der DDR stattfindet. Von Lucke stellt die Frage, ob die Demokratie in Deutschland auf ebenso festen Füßen stehe, wenn Wohlstand und wirtschaftliches Wachstum zurückgehen. Die beiden großen Parteien, die der Autor als "Noch-Volksparteien" bezeichnet, näherten sich zunehmend an. Deshalb gebe es keine klare politische Alternative mehr, sondern nur noch Ausweichmöglichkeiten in radikalere Richtungen. Mangels differenzierter Programme seien politische Debatten kaum möglich, aber dringend erforderlich, um die wachsenden Probleme der Bundesrepublik zu lösen.

Das Buch ist vor allem im Hinblick auf die statische Argumentation nicht unproblematisch. Zum einen lässt sich die vierzigjährige Geschichte der „alten“ Bundesrepublik kaum auf einen einheitlichen (positiven) Nenner bringen. Zum anderen wird auch die Dynamik, die von den gewandelten Konstellationen nach 1989/90 ausging, kaum berücksichtigt, obwohl der Autor feststellt, dass der Erfolg der Bonner Republik, insbesondere der ihr bescheinigte gesellschaftliche Frieden „aus einer spezifisch historischen Situation erwuchs“ (S. 66).

Auch wenn von Luckes Ausführungen bisweilen etwas zu plakativ ausfallen, finden sich doch interessante Denkanstöße. Eine größere Vielfalt der politischen Programme und Alternativen, gerade auch der Volksparteien, wäre sicherlich wünschenswert. Damit verbunden ist auch die Notwendigkeit, ein stärkeres gesellschaftliches Engagement der Bürger zu erreichen. Dies könnte laut von Lucke durch die Einmischung kritischer Intellektueller und öffentlicher Diskurse erreicht werden, wie es seit den späten 1950er-Jahren in der alten Bundesrepublik praktiziert wurde. Auch aufgrund der guten Lesbarkeit und komprimierten Darstellung bietet das knappe Buch trotz der Kritik eine interessante Lektüre.

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