E. Hörandner u.a. (Hrsg.): Alltagsbewältigung in der Steiermark

Titel
"Durch die Jahre ist es immer besser geworden". Alltagsbewältigung in der Steiermark 1945-55


Herausgeber
Hörandner, Editha; Karner, Stefan Benedik
Reihe
Volkskunde 13
Erschienen
Berlin 2007: LIT Verlag
Anzahl Seiten
392 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wolfgang Göderle, Graz

Der vorliegende Sammelband ist, wie die inzwischen verstorbene Mitherausgeberin Editha Hörandner in der Einleitung ausführt, ein „Darstellungsmix“(S. 11), der nicht nur verschiedene Perspektiven zusammenführt sondern auch Beiträger/innen verschiedenster Provenienz, die offensichtlich alle eine Nähe zum Institut für Volkskunde und Kulturanthropologie der Karl-Franzens-Universität Graz aufweisen, woraus ein sehr heterogenes Werk hervorgeht. Die insgesamt 14 Autor/innen decken ein breites Spektrum hinsichtlich ihrer persönlichen und fachlichen Hintergründe ab, von der Universitätsprofessorin über den pensionierten Lehrer bis hin zur Studentin.

Der Sammelband scheint dabei nicht als rein wissenschaftliches Werk konzipiert zu sein, einem solchen Anspruch könnte er im Übrigen auch nicht gerecht werden. Im Hauptteil stehen Zeitzeugenberichte, Erinnerungen und Rückblicke der jeweiligen Verfasser/innen, teilweise angereichert mit passendem Primärquellenmaterial und den Auswertungen von Interviewforschungen. Umrahmt wird dieser zehn Beiträge (von neun Beiträger/innen) umfassende Block von einer Einleitung der Herausgeberin, sowie drei weiteren Beiträgen, die sich insofern vom Hauptteil abheben, als sie a.) einen wissenschaftlichen Anspruch erheben können und deren Verfasser/innen b.) keinen persönlichen Bezug zum Forschungsobjekt, nämlich dem Alltagsleben der unmittelbaren Nachkriegszeit, geltend machen.

Die angesprochenen zehn Beiträge vermitteln ein in jeder Beziehung vielschichtiges Bild der Nachkriegszeit. So wird der Umgang der Bevölkerung mit „der Not“ thematisiert (Herta Jehsenko), dem CARE-Paket wird ein erhellendes Kapitel gewidmet (Friederike Weitzer), für zwei Beiträgerinnen heißt es: „Wir fahren in die Schweiz!“ (Elisabeth Färber / Sigrit Derstvenscheg). Daran knüpfen allgemeiner gehaltene und äußerst materialreich illustrierte „Kindheitserinnerungen“ an (Karin Blasonig), ein Beitrag zur Haus- und Heimarbeit (Giuditta Ortner), je einer zum Pflichtschulwesen (Siegbert Rosenberger), zur Polizeiarbeit (Veronika Neumann) und zur Nachkriegsbekleidung (Maria Figner). Zwei weitere Beiträge, zu Grundbedürfnissen und zum Arbeitsalltag, stammen von Herausgeberin Hörandner selbst.

Diese Beiträge, wenngleich als Sekundärquelle in den meisten Fällen nicht zu verwerten (da Faktenangaben sich durch den autobiographischen Zugang jeglicher Überprüfbarkeit völlig entziehen), haben als Primärquelle einen unbestreitbaren Wert. Äußerst detailreich tritt an vielen Stellen zutage was und vor allem wie erinnert wird (und werden soll respektive auch werden muss). Als sehr spannender Kontrapunkt manifestieren sich die Auslassungen, welche (häufig handlungstragenden) Bestandteile der Erzählung in Nebensätze abgedrängt, beziehungsweise ganz weggelassen werden. Faszinierend und manchmal erschütternd ist, welche Narrative unhinterfragt Eingang finden. Hitler, sein Regime, und das Leben mit und unter demselben finden in einer unmittelbar daran anknüpfenden Perspektive praktisch keinen Raum. Diese Auslassungen einerseits und der starke Rückbezug auf das selbst erfahrene Leid andererseits sind die Klammern, die den Bogen der verschiedenen Erzählungen zusammenhalten. Das Bild der Nachkriegsjahre wird einheitlich im Sinne einer Zeit der Aufopferung und der Entbehrung gezeichnet und fügt sich damit naht- und kritiklos in den „grand récit“ der kollektiven österreichischen Nachkriegserinnerung ein.

Allerdings wird gerade dieses Verständnis im Sammelband selbst einer überaus kritischen Dekonstruktion unterzogen, und zwar im letzten Beitrag, der von Mitherausgeber Benedik Karner verfasst wurde. Es gelingt diesem, sowohl einer kulturanthropologischen, einer historischen und einer kulturwissenschaftlichen Perspektive gerecht zu werden als auch die Beiträge des Hauptteils theoretisch mit den rezenten Diskursen vor allem der Geschichtsdisziplin zu verknüpfen. Schwierig – im Sinne von sehr abstrakt – fallen seine Ausführungen zum Materiellen aus, dem kulturellen Fortleben von Gütern, die aus dem Kriegs- in den Friedenskontext überführt wurden, und damit verbunden der Neuordnung von Geschlechtskonstruktionen. Wenngleich sich Benedik Karners Beitrag auf hohem theoretischem und analytischem Niveau bewegt, fällt auf, dass er mit der Schwierigkeit zu kämpfen hat, gleich drei Erkenntnispotentiale in einer Abhandlung abdecken zu wollen.

Ebenfalls auf einer fundierten Sekundärliteraturbasis bewegt sich der Beitrag von Martha Tonsern zu Freizeit und Unterhaltung in den zehn Jahren der alliierten Besatzung. Ihre Konzentration auf die Themen Musik, Theater, Sport, Kino und Feierlichkeiten ist handwerklich solide gearbeitet, hätte aber an der einen oder anderen Stelle durchaus den Mut vertragen, implizit kenntlich gemachte Zusammenhänge auch explizit auszusprechen. So wäre es interessant gewesen, der Frage nachzugehen, warum der Heimatfilm in der Nachkriegszeit zu solcher Popularität kam (S. 336f.) und welche Vorstellungen seitens des Publikums damit verbunden waren.

Justin Stagls stark abstrahierender Beitrag zu „Alltag als Thema der Kulturwissenschaft“ ist essayhaft und bietet eine theoretische Einführung zur Begrifflichkeit. Das Begriffspaar Struktur–System geht in seiner Konzeption allerdings schon sehr deutlich in Richtung der Soziologie und lässt insgesamt ein wenig den Bezug zur Kernthematik (die Steiermark in der Nachkriegszeit) vermissen.

Anzumerken ist noch, dass sich einige Fehler im Layout (S. 354-356), im Ausdruck („…und Gastgeber und Gäste kommen sich gut […] vor“) und in der Orthographie hartnäckig bis nach der Schlussredaktion gehalten haben, was den insgesamt hochwertigen Eindruck der Publikation etwas trübt.

Inhaltlich ist das Buch ob seiner Heterogenität sehr spannend, der skizzierte Widerspruch zwischen Beiträgen in Erzählungsform einerseits und mehr oder minder qualitativ hochwertigen, wissenschaftlichen Artikeln andererseits, wirft aber sicherlich gewisse Probleme hinsichtlich einer Positionierung und Einordnung des Werkes auf: Gerade den Erzählungen gilt es kritisch gegenüberzutreten und die Positionen und Narrative zu hinterfragen. Für das wissenschaftliche Fachpublikum, an das sich der Sammelband primär wenden dürfte, gestaltet sich die Lektüre durchaus abwechslungsreich, informativ und spannend, wenngleich der wissenschaftliche Anspruch sich, wie eingangs schon erwähnt, auf ganz wenige Passagen im Buch beschränkt.

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