F. Mc Loughlin u.a. (Hrsg.), Kommunismus in Österreich 1918-1938

Titel
Kommunismus in Österreich 1918-1938.


Herausgeber
McLoughlin, Barry; Leidinger, Hannes; Moritz, Verena
Erschienen
Innsbruck 2009: StudienVerlag
Anzahl Seiten
532 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Karner, Institut für Wirtschafts-, Sozial- und Unternehmensgeschichte, Universität Graz

Mit dem vorliegenden Buch füllen die drei Autoren eine wesentliche Forschungslücke. Auf der Basis ihrer umfangreichen Recherchen in Moskauer Archiven, vor allem im Archiv der Komintern im ehemaligen Parteiarchiv RGASPI (Russisches Staatsarchiv für sozio-politische Geschichte), liegt nunmehr ein kompaktes Überblickswerk über den Kommunismus in Österreich und der Rolle Wiens für die Komintern in der Zwischenkriegszeit vor.1

Es gibt wenige Experten in Österreich, die sich dieses Forschungsdesideratums hätten annehmen können. In vorbildlicher Weise haben sich drei der ausgewiesensten Kenner der Thematik (McLoughlin und Moritz sind auch Mitglieder der Ende 2008 gegründeten österreichisch-russischen Historikerkommission) zusammengetan und legen hiermit ihre neuesten Forschungsergebnisse in Buchform vor.

Nur wenig war bisher über die großteils verborgen gebliebene Geschichte der (3.) Kommunistischen Internationalen (Komintern) und der Nutzung Wiens und Österreichs zur Stärkung des sowjetischen Einflusses in Mittel- und Südosteuropa bekannt.2 Selbst als Wien und Moskau noch keine offiziellen diplomatischen Beziehungen pflegten (diese gab es erst ab 1924), nutzte der Kreml die Kriegsgefangenenmissionen in Österreich für die Interessen der Kommunistischen Internationalen im Donauraum und am Balkan (S. 14). Wien geriet in den Augen der Westmächte alsbald in Verdacht, eine „Bolschewikenzentrale“ zu sein. Für Österreich eine insgesamt schwierige Lage, einerseits benötigte die junge Republik dringend die Unterstützung der Westmächte, andererseits wollte man die Beziehungen zur Sowjetunion ebenfalls nicht unnötig auf die Probe stellen, sondern wirtschaftlich ausbauen. Als Modell skizzierte Karl Renner 1925 im Parlament die Schweizer Neutralität (S. 140).

Die Bedeutung Wiens für die Komintern erklärt sich insbesondere durch die starke kommunistische Emigration aus Ländern des Balkans, aber auch der Ukraine. Fallweise wurden ihre jeweiligen Zentralkomitees nach Österreich verlegt, die eine breite Tätigkeit entwickelten. Beschrieben wird insbesondere die Bedeutung Wiens als – nach Berlin – zweitwichtigste „Relaisstation“ für die Koordination der Aktivitäten der Komintern in Ost- und Südosteuropa sowie als „Fluchtziel“ ausländischer Kommunisten, die in ihren Heimatländern Repressionen ausgesetzt waren. Zugleich widmet er sich in diesem Kontext dem ebenfalls zu dieser Zeit stattfindenden „Fußfassen“ von ČK („Tscheka“) und GPU (Staatliche politische Verwaltung) in Österreich. Interessant ist hierbei vor allem die Bedeutung von Mitgliedern der Kommunistischen Partei Österreichs (KPÖ) als „Kader“ für die entstehenden Residenturen sowjetischer Nachrichtendienste in Österreich. Leidingers Forschungsarbeit ist hier insbesondere deshalb von großer Bedeutung, da er die Ergebnisse Heinz Höhnes3 und die in den Mitrochin-Beständen4 erwähnten Fallbeispiele mittels neuer Ergebnisse aus russischen und österreichischen Aktenbeständen in einen größeren Kontext einbettet und dadurch ein neues, umfangreiches Bild der sowjetischen Aktivitäten in Österreich zu diesem Zeitpunkt vermittelt.

Die Einteilung der einzelnen Kapitel erscheint mitunter sehr „mathematisch“, was sich auch bei der Rezeption des Buches (eigentlich sind es zwei Bücher, das erste von 1918-1927 und das zweite von 1927-1938) niederschlägt. Das Buch ist eher eine Monographie als ein Sammelband (obwohl jeder Abschnitt jeweils mit den Autorennamen versehen ist), nicht immer gelingt allerdings der Spagat zwischen Monographie und Sammelband, was sich zeitweise störend bei der Lektüre auswirkt. Dies ist allerdings nur eine Kleinigkeit, die keineswegs die Bedeutung des Buches und insbesondere der zu Tage geförderten neuen Erkenntnisse in Abrede stellen kann oder soll.

Inhaltlich wird das gestellte Thema mit einer Vielzahl an wichtigen Eckpfeilern und -daten der Zwischenkriegszeit verknüpft und entsprechend kontextualisiert. Interessant erscheint z. B. die von McLoughlin dargelegte Sicht der Komintern auf eines der größten innenpolitischen Traumata der Ersten Republik: die Geschehnisse rund um den Justizpalastbrand 1927 waren gleichsam ein Startschuss für die – wenig überraschende –Kategorisierung der österreichischen Sozialdemokraten als „Sozialfaschisten“. Interessant ist hier vor allem auch der Hinweis, dass Stalin die Gestaltungskraft der KPÖ offenbar völlig falsch einschätzte.

Dem kurzen, aber blutigen Bürgerkrieg in Österreich im Februar 1934 widmen die Autoren noch wenig Platz, obwohl man gerade im Hinblick auf den Bürgerkrieg und seine Folgen etwas mehr zu erfahren hoffen durfte, etwa über die Einschätzungen und Sichtweisen des Kreml. Andererseits zeigen die dazu zitierten Bestände aus dem RGASPI ansatzweise, dass diese Fragestellung in Zukunft durch weitere Forschungen, an denen etwa Verena Moritz zurzeit arbeitet, präzisiert werden könnte (S. 20, Anm. 2).

McLoughlin widmet sich im 2. Teil des 2. Buches der Entstehung und Entwicklung von sowjetischen „Geheimapparaten“ in Österreich während den späten 1920er- und 1930er-Jahren. Vor dem Hintergrund, dass die österreichische Rechtssprechung zu diesem Zeitpunkt nur verhältnismäßig geringe Strafen für Spionageaktivitäten vorsah und Österreich als Knotenpunkt für die Aktivitäten in West- und Mitteleuropa zunehmend an Bedeutung gewann, beschreibt der Autor zunächst die Entwicklung der nachrichtendienstlichen Strukturen in Österreich. Anschließend widmet er sich der genaueren Betrachtung der einzelnen vorhandenen Apparate des OMS (des Verbindungsdienstes der Komintern), der INO-OGPU (Auslandsabteilung der Vereinten Staatlichen politischen Verwaltung) und der GRU (Hauptverwaltung Aufklärung, militärischer Nachrichtendienst des Generalstabs der Roten bzw. Sowjetischen Armee). Die Dependance des OMS spielte bis 1935 insbesondere für die Koordination der Tätigkeiten in Ost- und Südosteuropa eine große Rolle. Die INO-OGPU und die GRU benutzten, wie der Autor darstellt, Österreich vor allem als „Sprungbrett“ für ihre Agenten nach Westeuropa und nutzten Österreich zudem als Kontaktpunkt, eine Tradition, die sich im Kalten Krieg fortsetzte. Ein weiteres Kapitel erläutert die Aktivitäten der ausländischen KI-Sektionen in Österreich. Viele dieser Sektionen verloren zwar 1927 an Bedeutung, McLoughlin greift aber drei KI-Sektionen heraus, die auch nach 1927 von großer Bedeutung waren: jene Ungarns, Bulgariens und Jugoslawiens (letztere war nach 1927 die größte auf österreichischem Boden). Die Rolle Österreichs als „Schleuse“ in den „Westen“ verdeutlicht der Autor mit den Aktivitäten der sowjetischen Nachrichtendienste in Österreich als „kommunistische Passfälscher“. Er erläutert dabei die Rolle von KPÖ-Mitgliedern als „Beschaffer“ und „Fälscher“ von (nicht nur) österreichischen Pässen. Ein kurzes Kapitel beleuchtet noch einige Fälle nachrichtendienstlicher Attentate in Österreich, so genannter „nasser Angelegenheiten“. Die Rolle von KPÖ-Mitgliedern in diesen Aktivitäten bestand darin, als „Lockvögel“ zu agieren, die für ein Attentat notwendigen Waffen zu beschaffen oder die Zielperson zu beschatten. Der abschließende 3. Teil des 2. Buches setzt sich zudem noch mit den Auswirkungen der Stalinschen Säuberungen der 1930er-Jahre auf im sowjetischen Exil lebende Österreicher auseinander.

Somit schließt das vorliegende Buch insbesondere im Hinblick die sowjetischen Spionageaktivitäten im Österreich der Zwischenkriegszeit eine in der Forschung seit langem bestehende Lücke. Es legt auf anschauliche Weise dar, wie Österreich zu dem wichtigen „Tätigkeitsfeld“ sowjetischer Nachrichtendienste werden konnte, das es während des Kalten Krieges war. Aber auch jeder Historiker, der sich mit der Geschichte der Komintern oder der Ersten Republik insgesamt auseinandersetzt, wird in Zukunft ohne Lektüre dieses Buches nicht auskommen.

Anmerkungen:
1 So fand etwa das kommunistische Lager selbst in Standardwerken zur österreichischen Parteiengeschichte der Zwischenkriegszeit bisher kaum bzw. keine Beachtung. Siehe etwa Robert Kriechbaumer, Die großen Erzählungen der Politik. Politische Kultur und Parteien in Österreich von der Jahrhundertwende bis 1945, Wien 2001. Anderswo finden sich zumindest Überblicksdarstellungen zu Genese, Entwicklung und Aufbau der KPÖ. Siehe z. B. Josef Ehmer, Die Kommunistische Partei Österreichs, in: Emmerich Tálos u. a. (Hrsg.), Handbuch des politischen Systems Österreichs. Erste Republik 1918–1933, Wien 1995. Indes wurde die Rolle der Komintern in Österreich bisher kaum beleuchtet.
2 Zu diesem Thema sind vor allem die Publikationen der Autoren Verena Moritz und Hannes Leidinger zu nennen: Verena Moritz / Hannes Leidinger, Wien als Standort der Kommunistischen Internationale bis Mitte der Zwanzigerjahre, in: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 2004, Berlin 2004, S. 32–63; Verena Moritz / Hannes Leidinger, Kommunismusbekämpfung. Das Wiener Beispiel 1918–1920, in: Ulrich Mählert u. a. (Hrsg.), Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 2008, Berlin 2008, S. 46–57.
3 Vgl. Heinz Höhne, Der Krieg im Dunkeln. Die Geschichte der deutsch-russischen Spionage, Sonderausgabe, München 1993, besonders S. 251–304. Höhne konzentriert sich in seinen Darstellungen vor allem auf die sowjetischen Spionageaktivitäten in der Weimarer Republik, geht am Rande aber auch auf die Rolle Österreichs ein.
4 Christopher Andrew, Wassili Mitrochin, Das Schwarzbuch des KGB. Moskaus Kampf gegen den Westen. München 2001, S. 84–101. Zu Österreich finden sich hier einige einzelne Fallbeispiele, vor allem zum Umfeld von Arnold Deutsch und seinen Verbindungen zu Kim Philby.

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