B. Kümin (Hrsg.): Political Space

Cover
Titel
Political Space in Pre-industrial Europe.


Herausgeber
Kümin, Beat
Erschienen
Aldershot 2009: Ashgate
Anzahl Seiten
XIV, 282 S.
Preis
€ 62,18
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Tim Neu, Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte, Georg-August-Universität Göttingen

Wenn die „Wiederkehr des Raumes“ (Osterhammel) als turn verstanden werden kann, so ist dieser zumindest innerhalb der Geschichtswissenschaft inzwischen weitgehend abgeschlossen, wofür das Erscheinen von einschlägigen Handbüchern und Einführungen als sicheres Anzeichen gelten kann.1 An die theoretisch-methodische ‚Wende‘ schließt sich nun schon seit längerem das ‚Fortschreiten‘ in die neue Richtung an, also die Nutzung der neuen Erkenntniskategorie in der empirischen Forschung.2 Der hier zu besprechende Sammelband, hervorgegangen aus einer Tagung, die das akademische Netzwerk „Social Sites – Öffentliche Räume – Lieux d’échanges 1300–1800“ im Jahr 2005 an der Universität Warwick durchführte, reiht sich in diese Bemühungen ein und will den spatial turn insbesondere für die Politikgeschichte fruchtbar machen.

Der Band gliedert sich im Kern in zwei große Abschnitte, die sich mit political sites bzw. spatial politics beschäftigen, also mit Orten bzw. Prozessen, wobei die Zuordnung der Beiträge bisweilen recht willkürlich wirkt. In ihrer Zusammenschau zeigt sich zudem, dass der Titelbestandteil „Pre-industrial Europe“ hier konkret nur England, das Alte Reich und die Eidgenossenschaft in Spätmittelalter und Früher Neuzeit meint.

Henry J. Cohn untersucht die Reichstage des 16. Jahrhunderts und stellt heraus, wie die komplizierte Herrschaftsstruktur des Reiches im räumlich-zeremoniellen Setting der Reichstage ihren Ausdruck fand: in den Einzügen und Umfrageverfahren. Zudem erläutert er die vielfältigen politischen wie logistischen Herausforderungen, die zu bewältigen waren, um den ephemeren Raum ‚Reichstag‘ an jeweils wechselnden, städtisch geprägten Orten überhaupt herstellen zu können. Im Gegensatz dazu verfügte der frühneuzeitliche Hof zwar über einen eigenen Ort, aber damit waren keineswegs alle Probleme gelöst, so Ronald G. Asch: Stets nämlich musste mit dem Paradoxon umgegangen werden, dass der Monarch im politischen Raum des Hofes, der vor allem im Zusammenspiel von architektonischen und kommunikativen Elementen hervorgebracht wurde, weder zu leicht noch zu schwer „accessible“ (S. 48) sein durfte. Mit dem folgenden Beitrag über Wirtshäuser im frühneuzeitlichen Southampton richtet sich die Aufmerksamkeit zum ersten Mal auf England. James R. Brown versucht zu zeigen, dass die weitgehend ‚offene‘ räumliche Verfasstheit des Wirtshauses „modes of looking and listening“ (S. 80) ermöglichte, die einer herrschaftlichen Durchdringung Vorschub leisteten und mit dem Begriff der ‚Überwachung‘ zu beschreiben seien. Peter Clark geht von der Doppelrolle britischer Clubs aus, die zumeist in Wirtshäusern lokalisierte Räume bildeten, gleichzeitig aber durch politische Diskussionen die Formierung eines virtuellen ‚nationalen‘ politischen Raumes vorantrieben. Allerdings wird diese Rolle eher vorausgesetzt als untersucht, geht es ihm doch vor allem um einen Vergleich mit kontinentalen Vergesellschaftungsformen. Den Abschnitt beschließt Ian D. Whytes Fallstudie zu den parlamentarischen enclosures im Cumbria der Sattelzeit. Mit den Einhegungen, so die These, wurde nicht nur wirtschaftlich nutzbares Land neu verteilt, sondern die Allmende als ein tendenziell überständischer und frei zugänglicher politischer Ort zerstört.

Der zweite Teil beginnt mit einem Sprung zurück ins Spätmittelalter: Christine Carpenter zeigt, dass in England die geographischen und herrschaftsstrukturellen Distanzen zwischen dem monarchischen Zentrum und der Peripherie nur überbrückt werden konnten, indem die lokalen Machtgruppen eingebunden wurden. Geht es Carpenter eher um die räumlichen Voraussetzungen von Herrschaft, so stehen in Alexander Schlaaks Beitrag Räume als Ressourcen in politischen Konflikten im Mittelpunkt: Während die Obrigkeit der Reichsstadt Esslingen im 18. Jahrhundert darauf setzte, die Machtwirkungen des vor allem auf Interaktion basierenden politischen Raumes ‚Stadt‘ gegen die widerständigen Bader und Barbiere zu richten, wurden diese Bemühungen von Letzteren durch Abwesenheit und die Bezugnahme auf andere, überstädtische Herrschaftsräume konterkariert. Den vielfältigen Verbindungen zwischen Räumen gehen auch Steve Hindle und Beat Kümin nach. Sie beschreiben die Veränderungen der „political topography“ (S. 164) einer idealtypischen englischen Kirchengemeinde im Übergang vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit. Sie kommen zu dem Schluss, dass die englische Kirchengemeinde eine Entwicklung durchmachte, in deren Verlauf ihre politischen und religiösen Funktionen ausdifferenziert wurden. Es schließt sich der sehr lesenswerte Beitrag von David Zaret an: Ausgehend von der Diskussion um die Entstehung einer englischen „public sphere“ (S. 175) im Sinne von Habermas’ Öffentlichkeitskonzept fragt er für die Zeit des Bürgerkrieges nach dem Zusammenhang zwischen Petitionen, die als Mittel der ‚nationalen‘ politischen Auseinandersetzung immer wichtiger wurden, und den konkreten Orten, an denen diese Petitionen aufgesetzt und diskutiert wurden. Diese ‚neuen‘ „places of popular petitioning“, vor allem Privat-, Wirts- und Kaffeehäuser, seien dabei „as much an impediment as a resource“ (S. 189) gewesen, denn sie ermöglichten zwar die Teilnahme an der öffentlichen Meinungsbildung, behinderten sie jedoch gleichzeitig auch, weil sie mit „perceptions of faction and libel“ (S. 185) verbunden waren. Bei der Abfassung von Petitionen bestand daher eine der wesentlichen Textstrategien darin, jede Referenz auf ihr Zustandekommen an konkreten Orten zu vermeiden, um ihre politische Glaubwürdigkeit zu steigern. Andreas Würgler widmet sich dann einem ‚klassischen‘ Thema der vom spatial turn beeinflussten Forschung – der Kartographie. Auf zeitgenössischen Karten wurde die frühneuzeitliche Eidgenossenschaft zunehmend so visualisiert, wie sie die Minderheit der protestantischen Kantone konzipierte, nämlich beispielsweise unter Einschluss Genfs. Dies galt nicht nur für kartographische, sondern auch sprachliche Repräsentationen, wie der Vergleich mit internationalen Friedensverträgen deutlich macht. Schließlich versucht Tobias B. Hug plausibel zu machen, dass die betrügerische Anmaßung eines politischen Status, sei es als König oder als Beamter, im frühneuzeitlichen England maßgeblich über die Etablierung eines ‚offiziellen‘ Raumes realisiert wurde, wobei gefälschte Dokumente eine zentrale Rolle spielten.

Für sich genommen sind die meisten Beiträge gut geschrieben – mal mit mehr, mal mit weniger Theoriebezug – und präsentieren in Form von Überblicksdarstellungen und Fallstudien durchweg interessante Ergebnisse, die von der jeweiligen Spezialforschung gewinnbringend rezipiert werden können. Zugleich sollte aber bis hierher auch deutlich geworden sein, dass die Heterogenität der Beiträge selbst für einen Sammelband überdurchschnittlich groß ist.3 Umso wichtiger ist in solchen Fällen die Synthetisierung der Ergebnisse, um den Mehrwert ihrer Zusammenstellung zu verdeutlichen. Es ist sicher kein Zufall, dass hier gleich vier Texte diesem Zweck dienen – Vorwort, Einleitung und zwei unter der Überschrift „Outlook“ versammelte Kommentare.

Drei dieser Texte steigern allerdings die Heterogenität des Bandes eher noch, als sie zu reduzieren: Die im Vorwort von James C. Scott angebotene Leitunterscheidung von „vernacular places“ und „official places“ (S. 2) wird von keinem Autor explizit aufgenommen, auch wenn sich mindestens die Beiträge von Brown, Zaret und Hug darauf beziehen ließen. Bernhard Capp schreibt seinen Kommentar aus der sehr speziellen Perspektive eines „historian of seventeenth-century England“ (S. 233), was zunächst einmal heißt, dass er die Beiträge zu ‚kontinentalen‘ Themen weitgehend ignoriert. Aber auch die anderen Beiträge werden von ihm nicht im Hinblick auf das Thema des Sammelbandes synthetisiert, sondern eher unter Anführung von noch mehr empirischem Material einzeln diskutiert. Der Geograph Mike Crang hingegen entwickelt zwar einen für sich genommen überzeugenden raumtheoretischen Ansatz, der „ways of framing some issues about premodern political space“ (S. 249) bereitstellen soll, tut dies aber ohne jeden Bezug auf die Beiträge des Bandes.

Daher bietet allein die Einleitung von Beat Kümin eine synthetisierende Aufbereitung der empirischen Ergebnisse: Das vormoderne Europa zeige erstens „a much wider range of political sites than is usually assumed: not just princely courts, town halls and meeting-points of representative assemblies, but open fields as well as the back rooms of provincial public houses“ (S. 13). Zweitens erwiesen sich räumliche Strukturen als „key features of political life“ (ebd.), und drittens unterstreiche all dies „the extent to which political spaces acquired meaning through processes of relational constitution“ (S. 14). Diese Ergebnisse sind nun aber so abstrakt und allgemein, dass sie im Wesentlichen nur die raumtheoretischen Vorannahmen bestätigen, diese aber kaum empirisch anreichern oder weiterentwickeln, was in der Heterogenität der Beiträge begründet liegt.

Die Beiträge bieten viel Material zu den Bedingungen, unter denen sich Politik an bestimmten Orten vollzog, und zum Einsatz raumbezogener Ressourcen in politischem Handeln. In den meisten Fällen wird jedoch mehr oder weniger stillschweigend vorausgesetzt, dass die thematisierten Handlungszusammenhänge einschließlich ihrer Räume und Orte als politisch anzusehen sind. Da sich aber nicht nur ‚Raum‘, sondern auch die Eigenschaft des ‚Politisch-Seins‘ sozialen Konstruktionsleistungen verdankt, verstellt die Konzeption damit den Blick auf die Rolle von spacing im Rahmen der Herstellung von ‚Politizität‘. Gleichwohl weisen die Beiträge in eine bestimmte Richtung: Wenn James Scott bemerkt, dass es im Interesse der Herrschenden lag, die Herrschaftsverhältnisse „as timeless and universal“ (S. 1) darzustellen, und David Zaret zufolge gerade die „suppression of petitioning places“ (S. 195) die politische Glaubwürdigkeit von Petitionen erhöhte, dann liegt es nahe, die Eigentümlichkeit politischer Räume gerade in der Unsichtbarmachung ihrer lokalen Eingebundenheit zu sehen.

Der Sammelband ist damit in zweifacher Hinsicht verdienstvoll: Zum einen zeigt er, dass Politik immer an konkreten Orten und unter bestimmten räumlichen Bedingungen stattfindet. Zum andern regt er dazu an, in Zukunft systematischer die Mittel und Wege zu erforschen, mit denen eben diese Lokalisiertheit kaschiert, Räume ‚universalisiert‘ und damit überhaupt erst ‚politisiert‘ wurden.

Anmerkungen:
1 Vgl. etwa Susanne Rau, Räume. Konzepte, Wahrnehmungen, Nutzungen, Frankfurt am Main 2013; Stephan Günzel (Hrsg.), Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2010; Jörg Döring / Tristan Thielmann (Hrsg.), Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008.
2 Vgl. dazu etwa einige jüngere Sammelbände aus dem Bereich der Frühneuzeitforschung: David Warren Sabean / Malina Stefanovska (Hrsg.), Space and Self in Early Modern European Cultures, Toronto 2012; Wolfgang Wüst / Michael Müller (Hrsg.), Reichskreise und Regionen im frühmodernen Europa – Horizonte und Grenzen im „spatial turn“, Frankfurt am Main 2011; Marko Lamberg / Marko Hakanen / Janne Haikari (Hrsg.), Physical and Cultural Space in Pre-industrial Europe. Methodological Approaches to Spatiality, Lund 2011.
3 Vgl. auch Malte Griesse, Rezension zu: Beat Kümin / James C. Scott (Hrsg.), Political Space in Pre-industrial Europe, Aldershot 2009, in: sehepunkte 11 (2011), <http://www.sehepunkte.de/2011/11/16597.html> (15.11.2011).

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