B. Rehse: Supplikations- und Gnadenpraxis

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Titel
Die Supplikations- und Gnadenpraxis in Brandenburg-Preußen. Eine Untersuchung am Beispiel der Kurmark unter Friedrich Wilhelm II. (1786-1797)


Autor(en)
Rehse, Birgit
Reihe
Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte 35
Erschienen
Anzahl Seiten
676 S.
Preis
€ 98,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulrike Ludwig, Institut für Geschichte, Technische Universität Dresden

Ziel der vorliegenden Dissertation ist es, am Beispiel der Kurmark für das ausgehende 18. Jahrhundert zu untersuchen, welche „Akteure beim Supplizieren und Begnadigen beteiligt waren und auf welche Weise sie dabei vorgingen, um zu erfahren, welche Machtverhältnisse dies jeweils ausdrückte und hervorbrachte“ (S. 17). Hierbei werden nicht nur Machtverhältnisse zwischen Obrigkeit und Untertanen in den Blick genommen, sondern auch zwischen den Supplizierenden und den zur Begnadigung vorgeschlagenen Personen sowie zwischen den verschiedenen obrigkeitlichen Akteuren. Aus den gewonnenen Ergebnissen sollen Rückschlüsse auf Funktionsweise und Legitimation von Herrschaft am Ende des 18. Jahrhunderts gewonnen werden. Zentrale Frage ist dabei, „ob sich der Widerspruch zwischen dem absolutistischen Herrschaftsanspruch und seiner tatsächlichen Herrschaftspraxis auch in der Gnadenpraxis widerspiegelt.“ Die vermutete Diskrepanz wird dabei zugespitzt auf die konkrete Frage, „wie weit sich der Monarch bei Gnadenakten Ende des 18. Jahrhunderts auf der Skala zwischen Willkür und Gesetz in die eine oder andere Richtung bewegte“ (S. 22f.).

Systematisch gliedert sich die Arbeit in drei Teile und eine abschließende Zusammenführung der Ergebnisse. Beigegeben ist zudem ein umfassendes Sach-, Personen- und Ortsregister. Zentrale Quellenbasis sind 272 Strafrechtsfälle, in denen um Gnade gebeten wurde. Den 272 Einzelakten sind 327 bzw. 318 (S. 62, 201) „Gnadenfälle“ im Sinne von Verfahren für einzelne Personen sowie 611 Suppliken und 28 Fürsprachen zuzuordnen.

Im Teil A werden zunächst in einem zeitlich weiten Zugriff Begriffsgeschichte und Gnadenverständnis sowie Gnaden- und Supplikationswesen in Brandenburg-Preußen vorgestellt. Anschließend werden für die Zeit Friedrich Wilhelms II. „Dimensionen der Praxis“ betrachtet: Neben der Frage nach der Entstehung von Suppliken und nach ihren fachkundigen Schreibern wird ein Überblick über Form, Stil, Aufbau und narrative Muster der Suppliken geboten. In einem weiteren Schritt werden dann inhaltliche Zielsetzungen der Suppliken abgehandelt sowie untersucht, inwieweit quantitative Häufungen des Gnadenbittens zu bestimmten Zeitpunkten festzustellen sind (was nicht der Fall war) und wie groß der Anteil von Fällen war, in denen wiederholt suppliziert wurde. Dabei kommt Rehse zu dem Ergebnis, dass in 58,2 Prozent der Gnadenfälle nur eine Supplik eingereicht wurde. Hiervon ausgehend wird ein Bruch zur „mittelalterlich-frühneuzeitliche[n] Tradition, Strafen auszuhandeln“, konstatiert und festgestellt, dass es der „brandenburg-preußischen Obrigkeit […] um die faktische Umsetzung der Gesetze und damit auch um den Vollzug der mit ihnen verbundenen Strafen“ (S. 592) ging. Dieser Bogen in der Argumentation ist mit Blick auf den eigenen Untersuchungszeitraum weit gespannt. Hier wäre ein systematischer Vergleich mit anderen Studien als Ergänzung günstig gewesen, etwa mit denen von Karl Härter und Harriet Rudolph1, die beide nur über je einen Aufsatz zur Gnadenpraxis rezipiert werden.

Der Teil B wendet sich dann den „Supplikantinnen und Supplikanten im sozialen Kräftefeld“ zu. Hierfür werden zehn Gruppen unterschieden, für die jeweils die auszumachenden Motive und Argumente des Supplizierens vorgestellt werden. Daran schließen Zwischenbilanzen zu den Mustern der Gnadengesuche und zu den Motiven und Interessenlagen der Supplizierenden an. Im Ergebnis wird betont, dass das Supplikationswesen in Brandenburg-Preußen am Ende des 18. Jahrhunderts von einer alters-, geschlechts- und standesbezogenen Allzugänglichkeit gekennzeichnet war. Außerdem arbeitet Rehse zentrale Interessenlagen der Supplizierenden heraus: Häufigstes und zumeist explizit vorgetragenes Interesse war dabei der Schutz vor wirtschaftlichen Nachteilen.

Ansatzpunkt für weitere Diskussionen dürfte die Deutung des Supplizierens als „win-win-Situation“ für die Supplizierenden sein: Ausgehend von der Annahme, dass ein Gnadengesuch als Geste der Solidarität und Verbundenheit gelten könne, wird die These entwickelt, dass Suppliken die Beziehungen und die darin eingeschriebenen Machtverhältnisse zwischen den supplizierenden und den gegebenenfalls von Suppliken profitierenden Personen tangierten (S. 374f.). Das Supplizieren könne damit als eine Technik gedeutet werden, mit der auf „impliziter Ebene Motivationsmacht ausgeübt wurde“ (S. 598). Im Umkehrschluss – so Rehse – hieße das, dass in den Fällen, in denen die Delinquenten für sich selbst baten, für die Entscheidungsgremien die Deutung nahegelegen habe, dass diese sozial isoliert seien und damit eine Reintegration nur bedingt möglich wäre. Diese Überlegung ist interessant, hätte aber durch die Information, wie erfolgreich die Suppliken in eigener Sache waren, in die eine oder andere Richtung gründlicher diskutiert werden können.

Der dritte Teil widmet sich obrigkeitlichen Handlungsmustern. Dafür werden Verwaltungspraktiken, Begnadigungsformen und Gnadenbegründungen betrachtet. Auch hier folgen Zwischenbilanzen: zur Gnadenquote und der Typologie der Begnadigungsformen, zu den Gründen für Begnadigungen und den damit verbundenen Motiven der Obrigkeit sowie zu den Akteuren. Im Ergebnis stellt die Autorin heraus, dass innerhalb des untersuchten Samples insgesamt 134 positive Gnadendekrete erlassen wurden. Diese Gnadendekrete stellt Rehse den Gnadenbitten gegenüber – wobei hier statt der 639 (S. 62) mit 693 Bitten (S. 354, 542) gerechnet wird – und kommt zu dem Ergebnis, dass die Gnadenbitten in 19,3 Prozent (21 Prozent bei 639 Bitten) Erfolg hatten. Aus dieser Rechnung allerdings im Vergleich mit anderen Untersuchungen auf eine geringe Gnadenquote zu schließen, irritiert. Denn setzt man – wie allgemein üblich – die Gnadendekrete ins Verhältnis zu den oben genannten 327 bzw. 318 Personen, für die um Gnade gebeten wurde, so wäre in ca. 41 bzw. 42 Prozent der Fälle eine Begnadigung erfolgt. Diese Gnadenquote fiele im Vergleich mit anderen Regionen und Zeiten aber nur etwas geringer aus. Diese Rechnung macht Rehse zwar an anderer Stelle selbst auf (S. 575), verwirft sie aber, da sich unter den 134 Gnadendekreten einige befänden, die für die gleiche Person ausgestellt worden seien.

Insgesamt gewinnt man im Abschnitt zur ‚Gnadenquote‘ den Eindruck, dass die diskutierten Ergebnisse mit einer stärker fundierten quantitativen Auswertung besser hätten eingeordnet und bewertet werden können. Hier vergibt sich die Autorin Einiges: So arbeitet Rehse durchaus mit einer überzeugenden Typologie der Begnadigungsformen und differenziert zwischen Strafverzicht, Strafaufschub, Strafmilderung und Strafverkürzung. Im Anschluss daran fragt sie nach der jeweiligen Bedeutung der einzelnen Begnadigungsformen, unter anderem auch in geschlechterspezifischer Hinsicht. Eine übergreifende Darstellung der jeweiligen Anteile fehlt dann aber. Zugleich irritieren einzelne Fragen, wie etwa die nach einer Erklärung für die starke Präsenz der Männer unter den Begnadigten (88 der 134 Gnadenfälle; 65,7 Prozent) (S. 578). Im konkreten Fall hätte die Frage aber umgekehrt gestellt werden müssen, da der Anteil der Männer unter den 327 Personen, für die um Gnade gebeten wurde, mit 71,6 Prozent höher lag als bei den Begnadigten (vgl. S. 354). Männer wurden also relativ gesehen seltener begnadigt als Frauen.

Mit Blick auf die Verwaltungspraxis arbeitet Rehse heraus, dass die Entscheidungen in Gnadensachen klar von den Voten der den jeweiligen Fall bearbeitenden Instanzen (lokales Gericht, Justizdepartment) beeinflusst waren. Die damit verknüpfte formalisierte Gnadenpraxis sei, so die These, „Motor und Ausdruck des Wandels der Herrschaftspraxis Ende des 18. Jahrhunderts“ gewesen, im Zuge dessen es zu einer Verdrängung der „unmittelbar-persönlichen Herrschaftsausübung des Monarchen zugunsten einer größeren Eigenverantwortlichkeit der Verwaltung“ (S. 602) kam. Diese These steht weitgehend im Einklang mit bisherigen Forschungsergebnissen, wird aber kaum eingehender belegt und diskutiert. Gleiches gilt für die Hypothese, dass Gnade noch Anfang des 18. Jahrhunderts im Dienst des Herrschers und an dessen Ende im Dienste der Justiz gestanden habe (S. 611). Hier hätte eine Einbeziehung der Forschungen von Ute Frevert zur Gnadenpraxis beim Duell, die ja raumzeitlich ähnlich aufgestellt sind, sicherlich die Ergebnisdiskussion bereichern können.

Insgesamt liegt mit der Arbeit von Birgit Rehse eine Studie vor, die sich sehr detailliert mit der Gnaden- und Supplikationspraxis in der lange vernachlässigten Phase des ausgehenden 18. Jahrhunderts auseinandersetzt. Die Arbeit ruht auf einer breiten und sehr ausführlich präsentierten Quellenbasis, deren quantitative Auswertung allerdings systematischer hätte erfolgen und ausführlicher diskutiert werden können. Dennoch bietet die Arbeit eine Reihe von neuen Perspektiven und Ergebnissen, die gerade im Vergleich mit den Resultaten aus anderen Arbeiten zu weiteren Diskussionen einladen.

Anmerkung:
1 Karl Härter, Policey und Strafjustiz in Kurmainz. Gesetzgebung, Normdurchsetzung und Sozialkontrolle im frühneuzeitlichen Territorialstaat, 2 Bde., Frankfurt am Main 2005; Harriet Rudolph, „Eine gelinde Regierungsart“. Peinliche Strafjustiz im geistlichen Territorium. Das Hochstift Osnabrück (1716-1803), Konstanz 2000.

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