A. Weißer (Hrsg.): Psychiatrie, Geschichte, Gesellschaft

Titel
Psychiatrie, Geschichte, Gesellschaft. Das Beispiel Eickelborn im 20. Jahrhundert


Herausgeber
Weißer, Ansgar
Erschienen
Anzahl Seiten
160 S., 39 Abb.
Preis
€ 24,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Johannes Platz, Köln

Der zu besprechende Sammelband geht zurück auf ein gemeinsames Symposium zweier Einrichtungen des Landschaftsverbandes Westfalen Lippe (LWL), nämlich der psychiatrischen Klinik in Lippstadt gemeinsam mit dem LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte aus Anlass des 125-jährigen Jubiläums der Einrichtung der psychiatrischen Pflegeanstalt in Eickelborn. Entstanden aus einem interdisziplinären Projekt zur Disziplin- und Institutionsgeschichte psychiatrischer Anstaltsfürsorge vermittelt er mit seinen fünf Beiträgen aus der Feder von Historikern und mit einem Beitrag aus ärztlicher Perspektive medizinisches Fachwissen mit historischer Expertise.1

Eingeleitet wird der Band durch den umfangreichsten Beitrag von Ansgar Weißer, der sich eingehend mit der Institutionsgeschichte des Standortes Eickelborn zwischen 1883 und 1930 beschäftigt. Weißer schildert die Einrichtung der psychiatrischen Anstalt in Eickelborn als Pflegeanstalt der Provinz Westfalen, die später in die Zuständigkeit des Provinzialverbandes Westfalen aufgenommen wurde, dem institutionellen Vorläufer des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe. Weißer stellt dar, wie die Pflegeanstalt in den 1880er-Jahren als Ergänzung zu den drei bereits bestehenden Provinzial-Heilanstalten gegründet wurde. Hauptsächlich ging es um die körperliche Pflege, nicht um die medizinische Betreuung der Patienten und deren Heilung. Die Einrichtung des Bewahrhauses für straffällig gewordene „Geisteskranke“ stellt eine Entscheidung dar, die die Pfadabhängigkeit bis zur Einrichtung der heutigen forensischen Psychiatrie in Eickelborn geprägt hat, wenn auch die medizinischen Konzepte sich grundlegend gewandelt haben.

Nach der Notsituation im ersten Weltkrieg begannen sich behutsame Veränderungen der Konzepte der Krankenbehandlung in den 1920er-Jahren abzuzeichnen. In diesen Jahren sind erste Ansätze zu psychiatrischen Reformkonzepten zu beobachten, die ihren Niederschlag zum Beispiel in der „aktiveren Krankenbehandlung“ fanden. Damit war eine Abkehr von der bettgebundenen Behandlung im Sinne einer Arbeits- und Beschäftigungstherapie verbunden. Therapeutisch wurden auch mit fragwürdigen Methoden wie der Insulinschockbehandlung und der Malariatherapie neue Wege beschritten.

In die 1920er-Jahre fallen allerdings auch erste Gegenbewegungen gegen die medizinischen Reformen, die unter dem Nationalsozialismus dann ihre volle Wirkung entfalten konnten, wie das eugenische und rassenhygienische Denken.

Der zweite Beitrag von Elisabeth Elling-Ruhwinkel behandelt das Arbeitshaus Benninghausen in unmittelbarer Nachbarschaft zu Eickelborn. Die Institutionen sind geschichtlich miteinander verknüpft, insofern das Arbeitshaus Benninghausen, das 1821 gegründet worden ist, zunächst als Standort für die Psychiatrie vorgesehen war.2 Das Arbeitshaus war eine Einrichtung zur Bestrafung und Erziehung sogenannter Korrigenden, worunter „Trunksüchtige“, „Arbeitsscheue“, zahlungsunwillige Unterhaltspflichtige, Prostituierte, uneinsichtige Geschlechtskranke und Landarme zählten. Als Institution mit einer rigiden Anstaltsdisziplin war es laut Elling-Ruhwinkel eine Einrichtung der Sozialdisziplinierung, womit die Autorin an das Konzept von Gerhard Oestreich anschließt. Der Anstaltsalltag war von einem rigiden Arbeitszwang geprägt, die Korrigenden wurden zu verschiedenen Arbeiten in der Landwirtschaft, in der Weberei, der Wäscherei oder der Bäckerei herangezogen. Mit dem Arbeitskräfteangebot des Arbeitshauses wurde auch der Unterhalt der Pflegeanstalt Eickelborn zum Teil bestritten. In den 1920er-Jahren kam es wie in Eickelborn so auch in Benninghausen zu Reformen des Anstaltswesens, die auf eine Medizinisierung des Anstaltswesens hinausliefen. Dies war allerdings auch mit tiefergehenden Eingriffen in die Persönlichkeit der Insassen verbunden, insofern die Heilung tiefer in den Bereich der persönlichen Individualität des Insassen eindrang, als die erziehungsmäßige „Korrektur“. Unter dem Nationalsozialismus wurden die Strafen für „gemeinschaftsfremdes“ Verhalten drastisch verschärft und für „Wiederholungstäter“ entfristet. Mit dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ von 1933 wurde die Zwangsterilisierung auch im Benninghausener Arbeitshaus zu einer verbreiteten Praxis, von der insgesamt 209 Frauen und Männer betroffen waren. Eine Verschärfung der Situation trat 1937 ein, als Insassen der Polizei und den Konzentrationslagern im Rahmen der „Asozialen“-Verfolgung überstellt wurden. In der Nachkriegszeit war die Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit der terroristischen Praxis gering. Es dauerte bis in die 1960er-Jahre, bis die Arbeitshäuser als Korrektionsanstalten aufgelöst wurden.

Im dritten Beitrag von Franz-Werner Kersting geht es um die Entwicklung, die die Psychiatrie nach dem nationalsozialistischen Krankenmord genommen hat. Er untersucht die Entwicklung bis in die 1970er-Jahre und damit bis zum Aufbruch der Psychiatriereform. Dieser Blick ist ungewöhnlich, rechtfertigt sich aber aus der Sache. Für viele Reformer war die Auseinandersetzung mit den Medizinverbrechen der Nationalsozialisten, die der Judenvernichtung vorausgingen, eine zentrale Motivation, die überkommenen Verhältnisse in der Psychiatrie energisch anzugehen. Wichtig ist dabei, dass Kersting die katastrophale Ausgangslage in der Psychiatrie im „Nachkrieg“ (Klaus Naumann) thematisiert. Zwar gab es erste Ansätze, die nationalsozialistischen Verbrechen aufzuklären, doch endete ein guter Teil der Prozesse mit Freisprüchen, wie der Münsteraner Euthanasieprozess. Andererseits gab es erste Versuche, den nationalsozialistischen Massenmord an Kranken zu dokumentieren. Kersting zeigt in diesem Zusammenhang auf, dass es einen reformerischen Aufbruch vor der eigentlichen Psychiatriereform der 1970er- und 1980er-Jahre bereits in den 1950er- und 1960er-Jahren gab. Dies bezeichnet Kersting als „Reform vor der Reform“. In den späten 1960er-Jahren wurden die immer noch reformbedürftigen Zustände in den psychiatrischen Anstalten zu einem öffentlichen Thema. So erschienen Filme und Bücher, die weit über den Kreis der Anstaltspsychiater hinaus wirkten, auch Übersetzungen spielten dabei eine Rolle.3 In Folge der ersten öffentlichen Thematisierungen nahm ein gesellschaftskritischer Blick auf die „totalen Institutionen“, als die die Anstalten im Anschluss an Goffmann zunehmend wahrgenommen wurden, zu. Zur Veränderung der gesellschaftlichen Sichtweise der psychiatrischen Kliniken trugen auch Bürger- und Patienteninitiativen bei. Sie alle legten die Grundlagen für die Änderungen, die dann in den 1970er- und 1980er-Jahren erfolgten und die Psychiatrie grundlegend humanisierten.

Kerstin Brückwehs Beitrag über den Sexualstraftäter Jürgen Bartsch in den Medien behandelt die öffentliche Thematisierung des Falles Bartsch in der Reformära und zeigt die ambivalente Haltung der Medien und der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit auf.4 Brückweh unterscheidet in ihrem Beitrag verschiedene Öffentlichkeiten: Sie nimmt die mediale Öffentlichkeit, die juristische und die medizinische Fachöffentlichkeit in den Blick. So verbindet sie verschiedene Diskurse miteinander und zeigt anhand eines konkreten Beispiels – dem Fall Bartsch – Wechselwirkungen zwischen ihnen auf. Von Interesse waren für die öffentliche Erörterung nicht nur die juridische Behandlung des Falles, sondern zunehmend auch die medizinisch-gutachterliche Haltung. Eine Vielzahl von Gutachtern wurde mit dem Fall Bartsch und der Begutachtung von dessen Zurechnungsfähigkeit betraut. Als allerdings der Prozess vorbei war und das therapeutische Alltagsgeschäft begann, interessierte sich die Öffentlichkeit nur noch wenig für Bartsch. Das Interesse erwachte erst wieder, als Bartsch aufgrund des Behandlungsfehlers bei der Operation verstarb, was kritische Beobachter zu dem Vergleich mit einer indirekten Todesstrafe veranlasste. Brückwehs Fallstudie beleuchtet die verschiedenen Ebenen des Falles Bartsch intensiv und verbindet so die Geschichte des Strafens mit der der Verwissenschaftlichung des Sozialen, in der sie die Rolle von Gutachtern Im Verfahren analysiert.5

Im abschließenden Beitrag Bernd Eikelmanns konfrontiert dieser aus der Sicht des historisch informierten Psychiaters die medizinische Fachöffentlichkeit mit der herausfordernden Frage, was aus der Geschichte zu lernen sei. Er resümiert knapp die zweihundertjährige Geschichte der Psychiatrie und des Anstaltswesens und geht intensiv auf die Rolle des psychisch Kranken innerhalb der psychiatrischen Institutionen und in der Gesellschaft ein. Zu Recht stellt er fest, dass trotz aller Reformbemühungen der vergangenen Jahrzehnte psychisch Kranke immer noch stigmatisiert und ausgegrenzt werden, sei es im beruflichen Leben, sei es in der privaten Lebenswelt. Langfristig erwartet Eikelmann aber eine Zunahme des toleranten Umgangs mit psychisch Kranken, weil prozentual gesehen ein großer Anteil der Bevölkerung in ihrem Lebensverlauf eine wie auch immer definierte psychische Erkrankung erleidet.

Der von Weißer herausgegebene Sammelband erlaubt einen fundierten Überblick über die Geschichte des Standortes Eickelborn aus sozial- und wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive. Der Überblickscharakter des Bandes wird nur dadurch geschmälert, dass über den Standort Eickelborn in den Jahren zwischen 1930 und 1945 wenig berichtet wird. Insgesamt ist jedoch festzuhalten, dass er sinnvoll psychiatrische und historische Expertise miteinander in Dialog bringt. Er ist damit auch ein Zeugnis der Auseinandersetzung mit der Diszplin- und Institutionengeschichte vor Ort, von der einige Gedenkinitiativen ebenfalls ein Zeugnis ablegen. Solche Forschungsprojekte sind richtungsweisend und der vorliegende Sammelband zeigt, dass nicht allein die Geschichte der Psychiatrie im Nationalsozialismus forschungswürdig ist. Er zeigt aber auch, dass die anderen Phasen der deutschen Psychiatriegeschichte des 20. Jahrhunderts ohne eine Bezugnahme auf die terroristische Geschichte des Nationalsozialismus nicht auskommen.

Anmerkungen:
1 Die Untersuchung des Standorts Eickelborn schließt an ein umfangreiches psychiatriegeschichtliches Forschungsprojekt des LWL-Instituts für westfälische Regionalgeschichte an, das u.a. in den folgenden Bänden dokumentiert ist: Sabine Hanrath, Zwischen ‚Euthanasie‘ und Psychiatriereform. Anstaltspsychiatrie in Westfalen und Brandenburg. Ein deutsch-deutscher Vergleich (1945-1964), Paderborn 2002; Franz-Werner Kersting, Anstaltsärzte zwischen Kaiserreich und Bundesrepublik. Das Beispiel Westfalen, Paderborn 1996; Bernd Walter, Psychiatrie und Gesellschaft in der Moderne. Geisteskrankenfürsorge in der Provinz Westfalen zwischen Kaiserreich und NS-Regime, Paderborn 1996.
2 Der Aufsatz geht zurück auf die Dissertation der Beiträgerin Elisabeth Elling-Ruhwinkel, Sichern und Strafen. Das Arbeitshaus Benninghausen 1871-1945, Paderborn 2005.
3 Zu nennen sind hier z.B. Michel Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft, Frankfurt am Main 1969; Klaus Dörner, Bürger und Irre. Zur Sozialgeschichte und Wissenschaftssoziologie der Psychiatrie, Frankfurt am Main 1969; Erving Goffmann, Asyle. Über die Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen, Frankfurt am Main 1972.
4 Die Fallstudie geht auf Kerstin Brückwehs Dissertation zurück, vgl. dies., Mordlust. Serienmorde, Gewalt und Emotionen im 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2006.
5 Lutz Raphael, Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), S. 165-193.

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