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Titel
Gelehrtes Leben. Karl Hampe, das Mittelalter und die Geschichte der Deutschen


Autor(en)
Reichert, Folker
Reihe
Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 79
Erschienen
Göttingen 2009: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
459 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Anne Chr. Nagel, Landesgeschichte, Justus-Liebig-Universität Gießen

Der deutsche Professor war einmal ein Markenzeichen in der Welt. Von Forscherdrang beseelt, mit Arbeitskraft und Selbstdisziplin erfüllt, nahm er nach der Mitte des 19. Jahrhunderts in vielen Disziplinen Gestalt an und brachte Universitäten, Akademien und wissenschaftliche Institute an internationale Spitzenpositionen. Sein Herkommen war bürgerlich, der Lebensstil gediegen bis opulent, ohne dass er sich mit den übrigen Eliten im Lande, dem Adel, Wirtschafts- oder Geldbürgertum verwechselt hätte: Der ordentliche öffentliche Professor war sich seiner Klasse bewusst und hielt, privat wie wissenschaftlich, auf Eigenheit. Die ihm staatlicherseits gewährte Freiheit bei vergleichsweise fürstlicher Remuneration bot den notwendigen Spielraum. An der allgemeinen Anerkennung wie am eigenen Selbstverständnis gemessen, erreichte seine Daseinsform im Jahrzehnt vor 1914 den Zenit.

Folker Reicherts Biografie über den Heidelberger Mediävisten Karl Hampe demonstriert eindrucksvoll, was ein deutscher Professor vormals war. Die Studie setzt die während der letzten Jahre in loser Serie erschienenen Gelehrtenbiographien fort, die unsere Kenntnis über das Verhältnis von Wissenschaft, Politik und Gesellschaft beträchtlich erhöht haben. Die Arbeiten über Theodor Mommsen1, Rudolf Virchow2 und Max Weber3 als mehr oder weniger sympathische Repräsentanten eines liberalen, fortschrittsoptimistischen Gelehrtentums sind hier beispielhaft zu nennen ebenso wie die über den Göttinger Orientalisten und bekennenden Antisemiten Paul de Lagarde.4 Konstitutiv für das Selbstverständnis als Professoren war in allen diesen Fällen Liebe zu Wahrheit und Wissenschaft; als geistige Elite suchten sie Einfluss auf die Gesellschaft zu nehmen, was ihnen auch vielfach gelang.

Mit Karl Hampe verhielt es sich nicht anders. Der Mediävist stand mit seiner Forschung dem jeweiligen Gegenwartsinteresse nur scheinbar fern und trachtete in jungen Jahren mit der Edition mittelalterlicher Quellen zur Festigung eines nationalen Standpunkts beizutragen. Nach 1918 stellte er seine Publikationen in den Dienst eines gemäßigten Republikanismus, wandte sich im Dritten Reich aber offensiv gegen eine nationalsozialistische Geschichtsdeutung.

Reichert nähert sich seinem Protagonisten über die Auswertung eines reichen Personalnachlasses sowie die Sichtung von rund vierzig weiteren Gelehrtennachlässen und etlichen Personalakten. Sein Band lässt ebenso große Vertrautheit mit Hampes Schriften wie mit der gesamten mediävistischen Literatur jenes Zeitraums erkennen. Darüber hinaus überzeugt Reichert mit profunden Kenntnissen der neueren und neuesten Geschichte. Die Gliederung der Studie folgt chronologisch-systematischen Gesichtspunkten und zerfällt in drei Groß- und ein Abschlusskapitel. Auf schickes Theoriedesign und modischen Jargon wurde verzichtet. Erzählt wird die Lebensgeschichte eines namhaften Kollegen im Kontext der deutschen Geschichte.

Hampe wurde 1869 in Bremen als zweiter Sohn eines angesehenen Buchhändlers geboren. Im Elternhaus herrschte ein liberalprotestantisch geprägtes, nationalbewusstes Klima. Während der Vater das Interesse für Geschichte weckte, bestärkte die Mutter vor allem die künstlerischen und musischen Neigungen ihrer Kinder. Seine schulische Ausbildung erhielt Hampe auf dem renommierten städtischen Gymnasium, das er 1888 mit dem Reifezeugnis als Jahrgangsbester verließ. Es folgte das Studium der Germanistik, Geschichte und Nationalökonomie an den Universitäten Bonn und Berlin. 1893 wurde er mit einer bei Paul Scheffer-Boichhorst in Berlin angefertigten Dissertation über den Hohenstaufer Konradin promoviert, um wenig später in den Dienst der Monumenta Germaniae Historica (MGH) zu treten. 1899 habilitierte er sich kumulativ an der Universität Bonn, wurde 1902 zum Extraordinarius für Mittlere und Neuere Geschichte ernannt und nahm im Jahr darauf den Ruf auf ein Ordinariat an der Universität Heidelberg an. Im Dezember 1933 reichte er vorzeitig sein Emeritierungsgesuch ein, weil er sich, so er selbst, „den neuen Anforderungen, deren Erfüllung der heutige Staat von seinen akademischen Lehrern erwarten darf, ... gesundheitlich nicht gewachsen“ fühle (S. 258). Tatsächlicher Grund jedoch war Hampes Ablehnung der neuen politischen Machthaber. Bis 1918 ein Verehrer Bismarcks und treuer Anhänger der Monarchie, hatte er nach der verhassten Novemberrevolution bald seinen Frieden mit der Republik gemacht, war 1920 der DDP, 1930 deren Nachfolgerin „Deutsche Staatspartei“ beigetreten. Damit zählte Hampe zu den wenigen „Vernunftrepublikanern“ der Weimarer Zeit, die aus Einsicht in die Unumkehrbarkeit des Geschehenen sich zur loyalen Mitarbeit verpflichtet fühlten, „auch wenn er der alten im Herzen noch nachhing“ (S. 157). Außer der politischen Haltung dürfte den Nationalsozialisten der kultivierte Lebensstil im Hause Hampe missfallen haben. Seit 1903 war der Historiker mit einer Tochter des Heidelberger Geologen und Paläontologen Hermann Rauff verheiratet. Das Paar hatte sieben Kinder. Um einiges jünger als ihr Mann und darum von Eberhard Gothein anerkennend die „kleine Frau Hampe“ (S. 97) genannt, bildete Lotte das Zentrum der Familie. Äußerlich eine „strahlende Erscheinung“ (S. 98), schlank, hochgewachsen, dazu klug und gebildet, sorgte sie für ein harmonisches Zusammenleben und führte am vornehmen Werderplatz ein geselliges Haus. Dem äußeren Lebensstil nach zählte Hampe im Jahrzehnt vor 1914 zur Spitzengruppe der Heidelberger Professorenschaft. Der verlorene Krieg bereitete der sorglosen Pracht ein Ende.

Wissenschaftlich erarbeitete sich Hampe einiges Renommee. Er galt als intimer Kenner der staufischen Geschichte, zu der die Forschungsreisen im Auftrag der MGH die Grundlage gelegt hatten. Historische Erkenntnis war für ihn nur über das exakte Studium der Schriftquellen zu erzielen, wie es der bewunderte Ranke dem Fach aufgezeigt hatte. Hampes wissenschaftliche Prosa strebte stets nach maximaler Objektivität, unzulässige Verallgemeinerungen und Spekulation lehnte er ab. „Wer sich anders gerierte, nicht quellengestützt, sondern intuitiv argumentierte und nicht abgewogen, sondern zugespitzt formulierte, der hatte Karl Hampe zum Gegner“ (S. 92), was etwa Johannes Haller nachdrücklich erfahren musste. An dessen Geschichtsschreibung über den Sturz Heinrichs des Löwen kritisierte Hampe die mangelnde Distanz zum Thema, einen nachlässigen Umgang mit den Quellen und maßlose Übertreibungen, weil Haller „Zorn auf der staufischen, Stolz auf der welfischen Seite“ (ebd.) als eigentliche Beweggründe zur Absetzung ausgemacht haben wollte. Hampe hingegen interpretierte Friedrich Barbarossa als rational bestimmten, leidenschaftslosen Staatsmann.

Im Ersten Weltkrieg gewann das tagespolitische Geschehen stärkeren Einfluss auf Hampes Geschichtsschreibung. Der Kriegsverlauf führte zur intensiven Auseinandersetzung mit der „belgischen Frage“, aus der mehrere, viel beachtete Publikationen hervorgingen. Darin vertrat er die wenig originelle These, dass Belgien sich durch seine Nähe zur Entente selbst der Neutralität entschlagen hätte. Schon bald besaß der Heidelberger Mediävist einen Namen in Sachen „belgische Frage“, erhielt Einladungen nach Brüssel, um einschlägiges Quellenmaterial zu sichten, und bestritt Vorträge zum Thema. Er hielt eine Teilannexion Belgiens, respektive die Einbindung Lüttichs in den preußischen Staat für legitim, rückte von dieser Position jedoch im Verlauf des Krieges vorsichtig ab. Während er 1915 seine Unterschrift unter die „Seeberg-Adresse“ verweigerte, ließ er sich wenig später zur Mitarbeit an einer fragwürdigen Denkschrift für den Brüsseler Gouverneur von Bissing verleiten. Immerhin wahrte er Abstand zum Alldeutschen Verband und zu Dietrich Schäfer, deren Werbungsversuche er beharrlich ignorierte. Aber ein bisschen „blauäugig und weltfern“ (S. 130) war der ambitionierte Ausflug des Professors auf das Gebiet der politischen Publizistik ganz gewiss zu nennen.

In den Weimarer Jahren begab er sich zurück auf das Terrain der mittelalterlichen Geschichte. Aufmerksamkeit erregte er mit Arbeiten zur deutschen Ostsiedlung. Hampes „Der Zug nach dem Osten“ wurde ein populäres Werk, das zur historischen Legitimierung der Ansprüche auf die abgetrennten Gebiete im Osten gern herangezogen wurde. Der Mediävist schloss jedoch keine weiteren Publikationen daran an. Seine späteren Veröffentlichungen zeichnen sich vielmehr durch die Verbindung politik- und kulturgeschichtlicher Ansätze aus. Wenngleich dies angesichts anderer Entwicklungen im Fach nicht grundstürzend innovativ gewesen sein mag, so zeugt es doch von der geistigen Offenheit Hampes, nach dem verlorenen Krieg Geschichte nicht mehr so wie bisher zu schreiben. Nachdem der Machtstaat passé erschien, blieb die Kultur als Maßstab nationaler Größe. An den kulturellen Traditionen Europas war dem Heidelberger Mediävisten viel gelegen, sie „gaben ihm geistigen Halt“ (S. 228). Seine mehrfach nachgedruckten „Herrschergestalten des deutschen Mittelalters“ (1927) und „Das Hochmittelalter. Geschichte des Abendlandes von 900 bis 1250“ (1932) ergehen sich neben der Darlegung der politischen Geschichte in überzeugenden kulturhistorischen Beschreibungen. Doch blieb dies, worauf Reichert hinweist, auf die Beschreibung der Hochkultur beschränkt.

Anders als 1918, als angesichts der Niederlage ein Umdenken geboten schien, kam Hampe dies nach 1933 nicht in den Sinn. Schon das Pathos einer „kämpfenden Wissenschaft“ stieß den stets um Rationalität bemühten Historiker ab. In den Debatten um Karl den Großen, den Alfred Rosenberg zeitweise zum „Sachsenschlächter“ stilisierte, zur Stellungnahme aufgefordert, schrieb Hampe gegen dieses Zerrbild an. In der nachfolgenden Auseinandersetzung behauptete der Mediävist aber seine Position, darin unterstützt von Kollegen wie Martin Lintzel, so dass der nationalsozialistische Vorstoß zu einer Revision der Karls-Deutung scheiterte. Die letzten Jahre bis zu seinem Tod zog sich Hampe ins Private zurück. Am 14. Februar 1936 starb er an den Folgen eines Fahrradunfalls.

Der „Mythos Heidelberg“ weckt Erinnerungen an berühmte Namen wie Weber, Jellinek, Anschütz, Jaspers, Kantorowicz oder George. An Karl Hampe würde man vielleicht nicht unmittelbar denken, aber der Mediävist gehörte, wie Folker Reichert mit dieser Biographie eindrucksvoll vor Augen stellt, dazu. Hampes Haus am Werderplatz repräsentierte am Vorabend des Ersten Weltkriegs eine bildungsbürgerliche Geselligkeit, der die Pflege von Wissenschaft, Kunst und Kultur Lebenszweck war. Seither ist viel Wasser den Neckar heruntergeflossen. Die gelehrten Biotope hielten den wachsenden Ansprüchen von Politik und Gesellschaft nicht stand und sind heute verschwunden.

Anmerkungen:
1 Stefan Rebenich, Theodor Monmsen. Eine Biographie, München 2002.
2 Konstantin Goschler, Rudolf Virchow. Mediziner, Anthropologe, Politiker, Weimar 2002.
3 Joachim Radkau, Max Weber. Die Leidenschaft des Denkens, München 2005.
4 Ulrich Sieg, Deutschlands Prophet. Paul de Lagarde und die Ursprünge des modernen Antisemitismus, München 2007.

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