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Titel
Nachbilder. Fotografie und Gedächtnis in der deutschen Gegenwartsliteratur


Autor(en)
Horstkotte, Silke
Erschienen
Köln 2009: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
325 S., 23 SW-Abb.
Preis
€ 42,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Katja Stopka, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Im Zuge der Konjunktur der Gedächtnisforschung finden die von der deutschsprachigen Zeitgeschichtsforschung als Quellen lange weitgehend ignorierten Amateurfotografien allmählich erhöhte Aufmerksamkeit.1 Weil solche Fotografien auf den ersten Blick keinen künstlerischen Wert haben und nicht im Verdacht stehen, öffentlichen Repräsentations- und Propagandazwecken zu dienen, wird ihnen eine besondere Glaubwürdigkeit für die Dokumentation historischer Situationen und Personen bescheinigt.2 Dem steht allerdings die Sicht entgegen, dass Fotografien als Produkt menschlicher Erzeugung und Rezeption immer schon Konstruktionscharakter besitzen und einer diskursgeschichtlichen Einbettung in die gesellschaftlichen Kommunikationszusammenhänge und Wahrnehmungsweisen bedürfen, in denen sie verhandelt werden.3 Wie viel Zündstoff eine geschichts- und bildwissenschaftliche Untersuchung von Fotografien bergen kann, hat zuletzt die Diskussion um einen Beitrag Georges Didi-Hubermans gezeigt. Sein Versuch, mit Hilfe von vier 1944 in Auschwitz heimlich aufgenommenen Amateurfotografien Aspekte des Vernichtungsprozesses im Lager zu rekonstruieren, brachte ihm den Vorwurf ein, er beschwöre mit seiner fotoanalytischen Darstellung eine hypnotische Faszination durch Bilder und vernichte die Erinnerung an das undarstellbare Leid der Opfer.4 Gerade wegen ihrer divergierenden Bewertungen taugen Fotografien also dazu, wichtige Fragen aufzuwerfen – etwa nach ihrer Zuverlässigkeit oder einer Ethik des Erinnerns.

Silke Horstkottes literaturwissenschaftliche Studie erweist sich vor diesem Hintergrund als erhellend. Die Autorin untersucht Texte der Gegenwartsliteratur, die Fotografien in Form von Abbildungen oder Beschreibungen verwenden und dabei den Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit zum Gegenstand haben. Den Text-Bild-Beziehungen in dieser der „metahistorischen Gedächtnisliteratur“ (S. 15) zugeordneten Prosa schenkt Horstkotte besondere Aufmerksamkeit. Auf welche Weise und mit welchen Intentionen werden Fotografien integriert und inszeniert? Wie wird ihre Verwendung innerhalb des literarischen Textes legitimiert? Wird ihnen als historischen Dokumenten Glaubwürdigkeit zuerkannt? Welche Aussagekraft besitzen sie als Gedächtnismedium, und welchen Anteil haben sie an der ästhetischen wie ethischen Wirkung? Obwohl die kulturwissenschaftliche Forschung auf den Boom der Erinnerungsliteratur der letzten Dekaden durchaus reagiert hat, sind die foto-textuelle Struktur und Funktion von Gedächtnisprosa bisher kaum systematisch untersucht worden. Nicht zuletzt geht es Horstkotte dabei um die Wirkung solcher „intermedialen Ikonotexte“ (S. 80) auf die Erinnerungskultur im wiedervereinigten Deutschland (S. 17).

In der Einleitung wird zunächst die kulturelle Funktion von Fotografien als Gedächtnismedien im Horizont der aktuellen Intermedialitäts- und Gedächtnisforschung umrissen. Die kulturell bzw. kollektiv orientierten Ansätze Jan und Aleida Assmanns verknüpft Horstkotte mit solchen, die eher der privaten, binnenfamiliären Erinnerungskommunikation nachgehen, wie etwa die Konzepte von Marianne Hirsch und Harald Welzer. Insofern Fotografien als „materielle Memorialobjekte“ (S. 9) Ereignisse visuell fixieren und damit Vergangenes überhaupt erst erinnerungswürdig werden lassen, eröffnen sie Nachgeborenen stärker als etwa schriftsprachliche Gedächtnistexte emotionale Zugänge zu der nicht selbst erlebten Vergangenheit ihrer Angehörigen (S. 31). Nach dem Tod der Erlebnisgeneration sind es neben erinnerten Erzählungen so vor allem Fotografien, die für nachgeborene Generationen eine zunehmende Funktion als „alternativer Modus der Zeugenschaft“ erhalten (S. 28).

Anhand ausgewählter literarischer Beispiele aus den letzten beiden Jahrzehnten untersucht Horstkotte, welche Erinnerungsprozesse und Erinnerungsproblematiken Fotografien in Gang setzen. Zum Korpus ihrer Untersuchung gehören unter anderem die Romane „Am Beispiel meines Bruders“ von Uwe Timm, „Unscharfe Bilder“ von Ulla Hahn, „Pawels Briefe“ von Monika Maron und „Ein unsichtbares Land“ von Stephan Wackwitz. Diesen Werken ist gemein, dass Nachfahren der Erlebnisgeneration versuchen, den Erfahrungen ihrer verstorbenen oder weitgehend verstummten Verwandten mit dem Nationalsozialismus durch eine eingehende Betrachtung von Fotografien auf die Spur zu kommen, zumeist aus Familienalben. Dabei werden Fotografien zunächst als historische Dokumente für einen unmittelbaren Zugang zur Familiengeschichte ernstgenommen. Dann zeigt Horstkotte jedoch, wie diese Erwartungshaltung in und von den literarischen Texten enttäuscht wird. Weder erleichtern Fotografien die Nachforschungen, noch lässt ihre vermeintlich dokumentarische Beweiskraft einen tatsächlichen Aufschluss über die Vergangenheit zu. Nahezu alle Protagonisten/-innen müssen lernen, dass die Fotos weniger der Überbrückung von Leerstellen im Familiengedächtnis dienen als vielmehr Unschärfen erzeugen bzw. bereits vorhandene keineswegs beseitigen.

Dabei spielen die titelgebenden „Nachbilder“ eine entscheidende Rolle. In Anlehnung an James E. Youngs Konzept der „After-Images“ verwendet Horstkotte diesen Begriff zur Präzisierung des Umstandes, dass man beim Betrachten von Bildern nicht umhinkommt, sie mit den immer schon vorhandenen eigenen inneren Bilder zu verknüpfen (S. 16f.). Fotografien lassen sich ähnlich wie Texte nur in einem interkulturellen und intermedialen Zusammenhang erschließen. Die Überlagerungen eines betrachteten Bildes mit anderen Bildern oder Bildbeschreibungen führen mithin zu „imaginativen, mentalen Vorstellungen“ (S. 15), die aus einer Vielzahl von Gesehenem, Gelesenem und Gehörtem zusammengesetzt sind. Damit wird es den Erzähler/-innen unmöglich, einzelne Fotografien als ein unbefangenes, vorurteilsfreies Abbild der Realität zu begreifen. Denn unabhängig von ihren eigenen kulturell verfestigten Vorstellungen des Nationalsozialismus lässt sich kein „authentisches“ Bild der Vergangenheit erreichen. Dass diese für die postmemoriale Erinnerungskultur wichtigen Erkenntnisse in der untersuchten Literatur auf zum Teil hohem Niveau eigenständig reflektiert werden und zudem, wie Horstkotte zeigt, an aktuelle Intermedialitäts- und Gedächtnisdiskurse anschlussfähig sind, verweist einmal mehr auf die Relevanz von Literatur für zeithistorische Untersuchungen.

Neben den genannten metareflexiven Familienromanen widmet sich Horstkotte einigen Fototexten des Autors W.G. Sebald, dessen Bedeutung als Text-Bild-Experimentator mittlerweile unumstritten ist. Zwar erschließt es sich nicht unbedingt, warum Horstkottes Wahl dabei auch auf solche Texte Sebalds gefallen ist, die sich nicht in die für ihren Themenkomplex sehr einleuchtende Kategorie der Familienromane einfügen lassen. Gleichwohl gelingt es ihr anhand von Sebalds Texten, ihre These der begrenzten dokumentarischen Beglaubigungskraft von Fotografien zu unterstreichen. Horstkotte bezieht sich vor allem auf den Erinnerungstext „Die Ausgewanderten“, der vier erfundene Biographien von Juden im Nationalsozialismus darstellt. Durch eine Ergänzung dieser Lebenswege mit Fotomaterial ruft Sebald einerseits Zweifel an der Fiktionalität der Biografien hervor, werden sie durch die Fotografien doch mit Authentizität aufgeladen. Andererseits wird die Beweiskraft der Fotografien in Frage gestellt, da sie literarisch Erfundenes beglaubigen (sollen).

Schließlich wendet sich Horstkotte der ethischen Dimension eines fotoliterarischen Gedenkens an die Opfer des Holocaust zu. Sie geht der viel diskutierten Frage nach, welche ästhetischen wie dokumentarischen Mittel für zulässig erachtet werden können, um Opfererfahrungen der NS-Zeit und des Holocaust anzuerkennen und zu bewahren (S. 247-253). Anhand von Sebalds Fototexten kann Horstkotte zeigen, dass dies keineswegs auf ein fundamentales Bilderverbot hinauslaufen muss, wie Claude Lanzmann und andere es wiederholt eingefordert haben. Wenn man den ambivalenten Status der Fotografie ernstnimmt, einerseits als Abdruck von Realität zu gelten, andererseits als Element intermedial konstruierter Nachbilder die Aura von Unmittelbarkeit immer schon einbüßt zu haben, kann gerade in der Uneindeutigkeit von Fotografien ein ethisches Potenzial liegen, das sich dem Undarstellbaren der Leidenserfahrung verpflichtet sieht. Insofern ihnen eine dokumentarische Funktion ebenso zuerkannt wie aberkannt wird, erweisen sich Fotografien als Indikatoren für die Notwendigkeit und die Begrenztheit des medial vermittelten Zugangs zur Vergangenheit gleichermaßen.

Anmerkungen:
1 Vgl. Jens Jäger, Fotografie und Geschichte, Frankfurt am Main 2009, S. 150ff., S. 183ff.
2 Vgl. Marita Krauss, Kleine Welten. Alltagsfotografie – die Anschaulichkeit einer „privaten Praxis“, in: Gerhard Paul (Hrsg.), Visual History. Ein Studienbuch, Göttingen 2006, S. 57-75, hier S. 57f.
3 Vgl. Jäger, Fotografie und Geschichte, S. 92.
4 Vgl. zur Debatte Georges Didi-Huberman, Bilder trotz allem, München 2007, und zuvor seinen Beitrag in: Clément Chéroux (Hrsg.), Mémoire des camps. Photographies des camps de concentration et d’extermination nazis (1933–1999), Ausst.-Kat., Paris 2001.

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