M. Junge: Die Gesellschaft ehemaliger politischer Zwangsarbeiter

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Titel
Die Gesellschaft ehemaliger politischer Zwangsarbeiter und Verbannter in der Sowjetunion. Gründung, Entwicklung und Liquidierung (1921-1935)


Autor(en)
Junge, Marc
Erschienen
Berlin 2009: Akademie Verlag
Anzahl Seiten
513 S.
Preis
€ 59,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Roland Cvetkovski, Historisches Seminar, Universität zu Köln

Der Oktober 1917 hatte für den Großteil der Bolschewiki mehr als lediglich eine Chiffre für die Zeitenwende zu sein – der Radikalumschwung sollte eine sichtbare Veränderung im Weltgefüge hinterlassen. Die Sorge um die Vergangenheit wurde für die Bolschewiki daher um so dringlicher, als sie genauestens Vorsorge für die revolutionäre Gegenwart zu treffen hatten, indem sie alle historischen Nebenlinien, die nicht zwangsweise den russischen Weltensturz begünstigten, ausradierten.

Mit der Beleuchtung der „Gesellschaft ehemaliger politischer Zwangsarbeiter und Verbannter“ (OPK) dringt Marc Junges Habilitationsschrift in das Herz der Diskussionen der frühen Sowjetunion um die adäquate historische Aufbereitung der vorrevolutionären Zeit vor. Damit widmet er sich einer Organisation, deren Aufgabe neben karitativ-sozialen Betätigungen vor allem in der Sammlung, Erhaltung und Veröffentlichung von historischen Materialien ehemaliger Zwangsarbeiter und Verbannter bestand – die umgekommenen Genossen sollten nicht in Vergessenheit geraten. Mit der Nahsicht auf die OPK erhofft sich der Autor, „eine Vielzahl von Konflikt- und Kooperationsebenen zwischen der OPK und dem Sowjetregime“ (S. 20) herauszupräparieren und dadurch die „Ermittlung der tatsächlichen Wirkung bestimmter Handlungen“ (ebd.) leisten zu können. Im Grunde zielt diese Arbeit jedoch darauf ab, die OPK als „Indikator für die innenpolitische Entwicklung der Sowjetunion“ (S. 22) zu verstehen.

Marc Junge schlägt dafür den klassisch chronologischen Weg ein und entfaltet die Geschichte der OPK von ihren Anfängen 1921 bis zu ihrer Schließung 1935, als die Partei nur noch solchen Geschichtskonzepten traute, die ausschließlich von Parteiinstitutionen entworfen und propagiert wurden. Die Brisanz der OPK lag darin, dass sie sich im Grunde genommen als einen unpolitischen Traditionsverein begriff. Entsprechend entwickelte sich die Organisation nach ihrer Gründung rasch zu einer Nische für Parteilose und für nichtbolschewistische politische Aktivisten, die sich, ganz dem Aufgabenbereich der Gesellschaft entsprechend, für die Aufarbeitung ihrer vorrevolutionären Vergangenheit engagierten. Zeitgleich trat sie auch für die Rechte der sowjetischen Gefangenen ein, was freilich zur Folge hatte, dass die OPK nach gerade mal einem Jahr ihres Bestehens nur mit Mühe eine Schließung abwenden konnte. Die Rückbesinnung auf ihr ursprüngliches Anliegen war nun keine Frage der eigenen Wahl mehr, sondern ein Gebot des Überlebens. Daher schrieb sie sich Mitte der 1920er-Jahre eine aktive Neutralität auf die Fahnen und versuchte, mit dem unverfänglichen Schlagwort der „revolutionären Ethik“ (S. 126) die unpolitische Ausrichtung der historischen Aufarbeitungsbemühungen zu betonen.

Es ist bemerkenswert, dass die OPK diese Haltung tatsächlich bis in die 1930er-Jahre beibehalten konnte, gerade nachdem 1931 die Erforschung der Geschichte der revolutionären Bewegungen offiziell zur verstärkenden Maßnahme für die Kollektivierungs- und Industrialisierungspolitik der Partei erklärt wurde. Marc Junge zeigt dies ausführlich anhand der mitunter im scharfen Ton gehaltenen Diskussionen, die 1925 und 1929 anlässlich des 100-jährigen Jubiläums des Dekabristenaufstands beziehungsweise des 50. Jahrestags der Gründung der "Narodnaja Wolja" mit Parteihistorikern wie W.F. Malachowski, I.L. Tatarow und M.N. Pokrowski geführt wurden. Die Mitgliedschaft in den historischen Kommissionen der OPK stand prinzipiell Nichtmitgliedern der Gesellschaft offen. Dementsprechend waren sie auch durchlässig für Geschichtskonzeptionen, die nicht ohne Weiteres mit den Parteiinteressen konform liefen. So sei etwa die Ideologisierung und unbedingte Ausrichtung der Geschichtswissenschaft „an den Interessen der Gegenwart“ (S. 193) nicht der richtige Weg, um die „Wurzeln des russischen Bolschewismus“ (S. 192) in angemessener Weise offen zu legen – so W.D. Wilenski-Sibirjakow, Parteimitglied und einer der wichtigsten Figuren der OPK bis 1927. Es sei zudem ein methodischer Fehler, auf Klasseneinteilungen basierende Maßstäbe zur Beurteilung historischer Tatbestände heranzuziehen.

Die von Marc Junge detailliert ausgebreiteten Diskussionsverläufe zeigen, dass die Einhaltung wissenschaftlicher Standards, wie sie von der sogenannten bürgerlichen Historiografie vor 1917 gewöhnlich praktiziert worden waren, von den Vertretern der OPK auch unter starkem Beschuss nicht aufgegeben wurde. Die von den linientreuen Parteihistorikern gegen sie gerichteten Invektiven speisten sich entsprechend nicht aus einer argumentativen Überlegenheit, sondern bestanden aus persönlichen Angriffen und Diffamierungen. Die Fesseln der Parteilinie wurden der OPK nun dadurch angelegt, dass man jetzt ihre erzieherische Funktion besonders herausstrich, sie unter stärkere Beobachtung stellte, sowie ihre Autoren, unter denen sich nach wie vor zahlreiche Nichtmitglieder bzw. Parteilose befanden, einer „Säuberung“ (S. 345) unterzog. Der daraus resultierenden Degradierung der OPK zu einer bloßen Service-Einrichtung der Partei folgte 1935 schließlich ihre Liquidierung.

Hatte bereits der ausschließlich auf die OPK zugeschnittene Forschungsüberblick eine recht enge Sichtweise der folgenden Analyse vermuten lassen, so bestätigt sich dieser Eindruck spätestens mit Marc Junges Schlussfolgerungen. Angesichts des von ihm freigelegten immensen Quellenkorpus nehmen sich seine Ergebnisse recht mager aus. Etwa, dass man den Freiraum für gesellschaftliche Organisationen vom Beginn der NEP höchstens bis 1924 datieren könne, ist eine Feststellung, deren Gültigkeit für andere Bereiche der frühen Sowjetunion, so für die Werbung, schon länger bekannt ist. Auch bietet der Umstand, dass die in der OPK maßgeblichen Bolschewiki nicht vollständig auf die harte Parteilinie des ZK einschwenkten, keine wirklich neue Erkenntnis: Persönliche Seilschaften zu Vertretern führender politischer Gremien sicherten nicht nur die Tätigkeit der OPK ab. Die Heterogenität der Gesellschaft war ferner, so ein weiteres Ergebnis, ein zusätzlicher Garant ihrer anhaltenden Widerständigkeit und erschwerte Manipulierbarkeit. Dass auch die OPK um 1930 in den Sog des forcierten sozialistischen Umbaus geriet und damit zunehmend ihre inhaltliche und methodische Autonomie einbüßte, kann nicht weiter überraschen, wenn man bedenkt, dass andere Hüter der Geschichte, wie etwa Museen, nach 1930 sogar in das Korsett des Fünfjahresplans gepresst worden waren.

In der Summe, so ließe sich ein Gesamtfazit ziehen, „passt sich [die OPK] nahtlos in die allgemeine staatliche Politik gegenüber gemeinnützigen gesellschaftlichen Organisationen ein“ (S. 425). Bringt man nun die eingangs geäußerte Absicht des Autors in Anschlag, dass die tektonischen Bewegungen in der OPK als Seismograf für die innenpolitische Entwicklung der Sowjetunion verwendet werden können, so beschleicht einen der Eindruck, dass der betriebene Aufwand in keinem wirklich angemessenen Verhältnis zum Ertrag steht. Geschuldet ist dieses Missverhältnis offenkundig dem hermeneutisch-hermetischen Zugriff, der den Materialien lediglich eine Geschichte der OPK abgerungen hat. In bewundernswerter Akribie werden Fakten zwar zusammengetragen, aneinandergereiht und zu einem breiten Text ausgewalzt. Systematisch allerdings wird der Leser enttäuscht – die vielfältigen gesellschaftlichen, wissenschaftlichen, ja wissensgeschichtlichen Bezüge, die eine derart bedeutsame Gesellschaft bietet, werden größtenteils ausgeblendet. So hat Marc Junge eine Chance leichtfertig vertan, indem er den von ihm selbst sehr eng gezogenen Kreis um die OPK eigentlich nicht verlässt. Denn diese Gesellschaften bzw. Kommissionen stellen beileibe nicht die einzigen Arenen historischer Sinnbildung dar. Auch hätte sich besonders bei der OPK die Gelegenheit geboten, ihre vielerorts im russländischen Reich installierten Filialen deutlich stärker zu berücksichtigen, denn die regionalen historischen Narrative waren in den 1920er- und frühen 1930er-Jahren noch schwieriger auf die imperiale Sowjetsicht einzuschwören. Hier hätte man nicht nur geografisch noch ganz andere Differenzen und Brüche auftun können, als lediglich den Dissens zwischen ZK und ihren hauptstädtischen Geschichtsgeneratoren.

Schließlich vermisst man überhaupt eine Einordnung der Aktivitäten der OPK in die Landschaft der zu Anfang der Sowjetunion aus dem Boden sprießenden beziehungsweise der noch aus dem Zarenreich übriggebliebenen Gesellschaften. Bis auf einige wenige Hinweise und zwei Tabellen zur allgemeinen Verteilung der frühsowjetischen Vereine bindet einzig die OPK das Interesse des Autors, wodurch sie nicht einmal Anspruch auf Repräsentativität erheben kann, was ja immerhin zu Beginn als Erkenntnisinteresse ausgegeben worden war. Es ist zweifellos löblich, dass Marc Junge die Gesellschaft ehemaliger politischer Zwangsarbeiter und Verbannter auf einer sehr breiten Quellenbasis überhaupt sichtbar gemacht hat; bedauerlich allerdings ist, dass er dabei nur die Grautöne dieses Bildes ans Tageslicht bringt. Die bunten Farbtupfer bleiben leider unter dem matten Firnis einer uninspirierten Geschichtsschreibung verborgen.