A. Bruns u.a. (Hrsg.): Sportgeschichte erforschen und vermitteln

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Titel
Sportgeschichte erforschen und vermitteln. Jahrestagung der dvs-Sektion Sportgeschichte vom 19.-21. Juni 2008 in Göttingen


Herausgeber
Bruns, Andrea; Buss, Wolfgang
Reihe
Schriften der Deutschen Vereinigung für Sportwissenschaft, Bd. 187
Erschienen
Hamburg 2009: Feldhaus Verlag
Anzahl Seiten
208 S.
Preis
€ 22,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Nils Havemann, Mainz

Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Geschichte des Sports hat seit Mitte der 1990er-Jahre einen enormen Aufschwung erfahren. Vergangen sind die Zeiten, in denen die akademische Beschäftigung mit diesem Gegenstand als „profan“ galt. Doch mit der enormen Fülle von sporthistorischen Arbeiten, die zuletzt erschienen sind, nahmen naturgemäß auch die Kontroversen zu. Die Bewertung des Lebenswerks von einzelnen Sportfunktionären wie Carl Diem1, die Frage, inwieweit die Olympischen Spiele von 1936 eine Propagandafunktion für den NS-Staat besaßen und die Aufarbeitung der DDR-Sportgeschichte sind nur einige von vielen Feldern, auf denen zurzeit heftige Diskussionen geführt werden. Vor diesem Hintergrund fand die seit 1980 regelmäßig ausgerichtete Jahrestagung der dvs-Sektion Sportgeschichte vom 19. bis zum 21. Juni 2008 in Göttingen statt. Der von Andrea Bruns und Wolfgang Buss herausgegebene Tagungsband, der die Vorträge in einer für den Druck ausgearbeiteten Form veröffentlicht, spiegelt einige dieser wissenschaftlichen Auseinandersetzungen wider.

Da die stark divergierenden Positionen zu einzelnen Aspekten der Sportgeschichte oft aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Ansätzen und Theorien resultieren, kommt bereits dem „Impulsreferat“ von Wolfram Pyta über methodische Zugriffe und Erkenntnispotenziale der Sportgeschichte große Bedeutung zu. Pyta hebt sich aus der Sicht des Allgemeinhistorikers dezidiert von der in Teilen der Sportwissenschaft vertretenen Auffassung ab, wonach Sport lediglich im Handlungsakt aufgehe und daher keinen über sich hinausgehenden Verweisungs- oder Darstellungscharakter enthalte. Er betont die besondere Fähigkeit des Sports, für kulturwissenschaftliche Paradigmen anschlussfähig zu sein. Er begründet die hermeneutische Potenz des Sports unter anderem damit, dass „er gerade in großem zeitlichem Abstand zum realen sportlichen Geschehen farbigen Stoff für unzählige Erzählungen und Mythen bietet, die ihn in eine narrative Struktur überführen und damit für kulturelle Verständigungsprozesse einverleiben“ (S. 11). Pytas Aufruf, bei der kulturwissenschaftlichen Analyse vor allem das hohe Potenzial des Sports zur „generationellen Vergemeinschaftung“ (S. 17) in den Blick zu nehmen, weist einen Weg, der wahrscheinlich in den nächsten Jahren in der Sportgeschichte verstärkt beschritten werden wird.

Wie schwierig der Umgang mit den Quellen sein kann, veranschaulicht Wolfgang Buss in seinem Beitrag über die Bedeutung des Zeitzeugen an Beispielen aus der sportbezogenen DDR-Forschung. Dabei gilt sein besonderes Augenmerk der Frage nach der Legitimität einer historiografischen Beteiligung von Personen, die sich aufgrund ihres Lebenswegs in der Doppelrolle des Historikers und zugleich involvierten Akteurs befinden. Die oft vorgetragenen Zweifel an der Objektivität ihrer Aussagen und die damit verbundene Neigung, sich mit ihren Stellungnahmen nicht intensiver zu befassen, vermag Buss nicht nachzuvollziehen. Vielmehr könne in Einzelfällen „sogar von einer besonderen Qualität dieser Zeitzeugen bzw. Historiker ausgegangen“ (S. 32) werden, sofern es ihnen gelinge, ihr Insiderwissen sachbezogen und faktentreu zu aktivieren und die für die Bewertung notwendige emotionale Distanz zum historischen Geschehen herzustellen.

Markwart Herzog erhellt in seinem Beitrag über den Fußballsport in der Zeit des Nationalsozialismus aufschlussreich die Hintergründe des zu einer Posse verkommenen „Fußballhistorikerstreits“, in dem es unter anderem um die Frage geht, ob die Kooperation des „bürgerlichen“ Fußballsports mit dem NS-Regime mehr machtpolitisch-ökonomisch oder doch eher ideologisch motiviert gewesen sei. Dabei zeichnet er nach, wie in den vergangenen Jahren im Zuge zahlreicher quellennah gearbeiteter Studien das in der Sportwissenschaft lange Zeit vorherrschende Bild vom DFB und seinen Vereinen als „nationalkonservative“, „reaktionäre“ beziehungsweise „faschistoide“ Gesinnungsgemeinschaften erschüttert worden ist. Vielmehr beginnt sich, wie Herzog anhand neuerer Forschungsergebnisse überzeugend darlegt, die Erkenntnis durchzusetzen, dass Vereine und Verbände als politisch und sozial heterogen zusammengesetzte Gemeinschaften mit wirtschaftlichen und organisatorischen Eigeninteressen zu betrachten seien. Um dem damit verbundenen „Eigensinn und Eigenleben des Sports als einem autonomen sozialen System gerecht zu werden“ (S. 61), befürwortet Herzog eine kulturhistorische Analyse, die um Methoden der „cultural economics“ und der Unternehmensgeschichtsschreibung bereichert werden solle.

Dagegen beklagt Rudolf Oswald in seinem Beitrag über aktuelle Debatten zur Geschichte des Fußballs im „Dritten Reich“, dass die „Vertreter des älteren Ideologie-Standpunktes“ mit einer Wortwahl bedacht würden, „die an die derzeit in den Medien übliche Verdammung der ‚Achtundsechziger’-Generation erinnert“ (S. 65). Er wirft jenen Autoren, „welche die Deutungshoheit angeblich linkslastiger Sporthistoriker über die Fußballgeschichte brechen wollen“ (S. 66), mangelnde Seriosität im Umgang mit Quellen vor. Oswalds Plädoyer für mehr wissenschaftliche Sorgfalt bei der Erforschung der Sportgeschichte fällt allerdings gelegentlich in überflüssige Polemik ab, die dazu führt, dass er in einigen Bereichen weder den gegenwärtigen Forschungsstand noch die wissenschaftlichen Positionen seiner Kontrahenten korrekt wiederzugeben vermag. So verwendet Markwart Herzog in seiner Studie über den 1. FC Kaiserslautern in der NS-Zeit die Begriffe „roter Gauleiter“ oder „roter Gau“ keineswegs „intentional“ (S. 67), sondern orientiert sich damit am aktuellen Stand der regionalhistorischen Forschung über den Gau Westmark, in der mit dieser Terminologie die Sozial- und Wirtschaftspolitik von Gauleiter Josef Bürckel beschrieben wird.2 Zum anderen hat entgegen Oswalds bisweilen konfusen Ausführungen niemand in den kontroversen Debatten über den Fußball im Nationalsozialismus behauptet, dass es in der Weimarer Republik tatsächlich „eine jüdisch dominierte Profibewegung“ (S. 70) gegeben habe. Vielmehr wurde die These aufgestellt, dass das starke Gewicht von Juden in einigen Vereinen ein Grund dafür gewesen sei, warum bei einem Teil des Deutschen Fußball-Bundes – repräsentiert durch den damaligen Reichstrainer Otto Nerz – während des ökonomisch und machtpolitisch motivierten Kampfes gegen den Berufsfußball das realitätsverzerrende Bild von einer jüdisch dominierten Profibewegung entstanden ist.3

Dass jüdische Sportler und Funktionäre den deutschen Fußball „geprägt haben“, wie der verstorbene Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Paul Spiegel, noch 2003 betonte, sie, wie Dietrich Schulze-Marmeling schrieb, eine „bedeutende [...] Rolle“ spielten und Christiane Eisenberg zufolge im Sport „auffallend zahlreich und prominent beteiligt“ waren4, wird in der Sportgeschichte eigentlich kaum noch bezweifelt. Umso bedauerlicher ist es, dass, worauf Manfred Wichmann in seinem Beitrag mit Recht hinweist, das Thema „Jüdischer Sport“ sowohl in der musealen Präsentation als auch in den pädagogischen Vermittlungsformen immer noch eine eher „untergeordnete Rolle“ (S. 137) spiele. Bei den Bestrebungen, diese Lücke zu schließen, bevorzugt auch er einen kulturgeschichtlichen Ansatz als ergiebige Konzeptionsgrundlage für Ausstellungsprojekte und Museumspräsentationen. Vielleicht, so möchte man Wichmanns abschließendem Aufruf zum ständigen Austausch zwischen Ausstellungsmachern und Sporthistorikern hinzufügen, wird dadurch das Bewusstsein dafür geschärft, wie stark der Aufstieg des modernen Sports in Deutschland auf die Leistungen vieler jüdischer Sportpioniere zurückzuführen ist.

Ohnehin bildet die Frage, wie Sportgeschichte zu vermitteln sei, einen Kernpunkt des Sammelbands. Die instruktiven Beiträge von Jutta Braun und Berno Bahro, Katrin Sliep, Andrea Bruns sowie Lorenz Völker und René Wiese zu Teilaspekten dieser Problematik lassen als roten Faden erkennen, was die Herausgeber Andrea Bruns und Wolfgang Buss bereits in ihrem Vorwort schreiben, nämlich dass diese Disziplin trotz des stark gestiegenen Interesses in der Öffentlichkeit eher noch eine Außenseiterrolle einnimmt, ihr an einigen Universitäten sogar die „weitgehende Marginalisierung“ (S. 7) droht.

Welches heuristische Potenzial vergeben werden könnte, wenn sich diese Entwicklung fortsetzt, verdeutlichen alle 13 in diesem Band vereinigten Beiträge. Sie vermitteln mit ihren zum Teil stark gegensätzlichen Positionen zu einzelnen Themen einen tiefen Einblick in eine Disziplin, die durch die vielen neuen wissenschaftlichen Anstöße in der jüngeren Zeit stark in Bewegung geraten ist. Daher ist die Lektüre dieses Buches für jeden zu empfehlen, der sich einen Überblick über aktuelle Diskussionen und neue Trends in der Sportgeschichte verschaffen will. Wer sich allerdings ergänzende Stellungnahmen zu einem auf der Tagung gehaltenen Beitrag des Göttinger Sportwissenschaftlers Arnd Krüger erhofft, der mit seinen Äußerungen über das Olympia-Attentat von München (1972) in der Öffentlichkeit ein großes Medienecho erzeugte, wird enttäuscht und muss weiterhin auf die Informationen darüber in anderen Quellen zurückgreifen.5

Anmerkungen:
1 Vgl. dazu jüngst Frank Becker, Den Sport gestalten. Carl Diems Leben (1882–1962), Bd. III: NS-Zeit, Duisburg 2009, S. 329-339.
2 Vgl. Markwart Herzog, Der „Betze“ unterm Hakenkreuz: Der 1. FC Kaiserslautern in der Zeit des Nationalsozialismus, Göttingen 2006, S. 264 f. mit Anm. 1503.
3 Vgl. Nils Havemann, Fußball unterm Hakenkreuz. Der DFB zwischen Sport, Politik und Kommerz. Frankfurt am Main 2005, S. 159–161, 165.
4 Zitiert aus und nach Dietrich Schulze-Marmeling (Hrsg.), Davidstern und Lederball. Die Geschichte der Juden im deutschen und internationalen Fußball, Göttingen 2003, S. 10, 13, 14.
5 Vgl. dazu die Dokumentation auf <http://www.sportwissenschaft.de/index.php?id=994> (28.07.2009).

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