P. Bütler: Unbehagen an der Moderne

Titel
Das Unbehagen an der Moderne. Grundzüge katholischer Zeitungslehre der deutschen Schweiz während der Herausforderung des Modernismus um 1900/1914


Autor(en)
Bütler, Paul F.
Reihe
Luzerner Historische Veröffentlichungen 36
Erschienen
Basel 2002: Schwabe Verlag
Anzahl Seiten
545 S.
Preis
€ 41,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dr. Otto Weiss

Die Problematik des vorliegenden Werkes liegt im Methodischen. Bütler betont, er setze an die Stelle der „traditionellen“ die „mentalitätsgeschichtliche Methode“ (die in die Nähe zur „Alltagsgeschichte“ gerückt wird), doch abgesehen davon, dass er Methode mit theoretischen Vorgaben (Interpretationsmustern, Rastern) verwechselt, bleibt er in Wirklichkeit methodisch weithin bei der Analyse, ja teilweise beim bloßen Quellenreferat stecken. Und obwohl er von der katholischen „Gegengesellschaft“ redet und sozialgeschichtliche Gesichtspunkte einzubringen sucht, fehlen ihm doch im Grunde die von der modernen Gesellschafts- und Kulturgeschichte angebotenen pluralen Perspektiven, die zusammen mit poststrukturalistischen und begriffsgeschichtlichen Zugriffen (Untersuchung der Semantik) nicht nur eine bessere Übersichtlichkeit in die Untersuchung gebracht, sondern auch den größeren Zusammenhang sichtbar gemacht hätten. Was Bütler anbietet, ist eine positivistische Aneinanderreihung. Dazu kommt, dass das Buch mit seinem umständlichen und geradezu „schulmeisterlichen Sprachduktus“ wie mit seinem Drang zur Vollständigkeit (besonders im überwuchernden wissenschaftlichen Apparat) unbedingt einer Straffung und Kürzung bedurft hätte. So aber steht der Leser weithin vor einem riesigen Steinbruch, in dem sich Wichtiges gleichwertig neben Unwichtigem findet, und wo – um im Bild zu bleiben – zahlreiches unnötiges Geröll in den Fußnoten und in 28 (!) „Exkursen“ liegen geblieben ist. Bei aller Achtung vor dem großen Fleiß Bütlers dürfte der Eindruck kaum trügen, dass die eigentliche Arbeit, die Verdichtung des Materials auf einer höheren Ebene und die Formung zur Einheit wie die Einordnung in die heutige Forschung nur zu einem Teil geleistet worden ist.

Zu all dem ein besonders eklatantes Beispiel. Im Titel des Buches steht der Begriff „Modernismus“. Man erwartet also, dass eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem Begriff des Modernismus stattfindet. Tatsächlich wird jedoch am Anfang des Buches im Anschluss auf die Erwähnung des so genannten „literarischen Modernismus“ (Fall Handel-Mazzetti), – wobei keine einzige Silbe zu der zahlreichen einschlägigen, auch neuesten Literatur 1 zu finden ist –, auf 13 Zeilen „der Sachbereich des Modernismus“ abgehandelt (S. 23). Dann muss man bis zum „Exkurs 28“ (S.596-617) warten, wo die „Modernismuskrise“ im allgemeinen und in der Schweiz behandelt wird. Hier findet sich dann auch (im fortlaufenden Text) eine – mangelhafte – Zusammenstellung der einschlägigen Literatur. Als bedeutende Sekundärliteratur zum Modernismus in der deutschen Schweiz wird „Karl Fry, Der Löwe von Truns“ genannt 2, ein einseitiges und überholtes Werk genannt, das Bütler häufig unkritisch zitiert. Schließlich wird gesagt, für die französische Schweiz liege keine wegweisende Forschung zur Modernismuskrise vor, was nicht erst seit den Studien Barthélemys 3, sondern bereits seit Poulats Intégrisme e catholicisme intégral 4 nicht stimmt. Immerhin wird der Modernismus auch noch an anderen Stellen abgehandelt und tatsächlich finden sich dazu wichtige Äußerungen, auch wenn dieselben häufig in die Fußnoten verbannt werden. So ist man – nicht nur in diesem Fall – dankbar, dass in dem Buch ein kombiniertes Personen- und Sachregister zu finden ist, mit dessen Hilfe man zusammensetzen kann, was zusammen gehört.

Was vom Begriff „Modernismus“ gilt, gilt im übrigen in ähnlicher Weise von anderen Begriffen, wie etwa von dem der „Moderne“, der ebenfalls im Titel erscheint. Der Leser fragt sich angesichts der wissenschaftlichen Diskussion zu diesem Begriff: Welche Moderne ist gemeint? Ist vom Modernisierungsmodell und dem Begriff der „Modernisierungskrise“ auszugehen? Meint „Moderne“ größere „Rationalität“ oder im Gegenteil „irrationale Strömungen“ oder aber das Zurückdrängen einer sich absolut gebenden Wahrheit zu Gunsten einer Pluralität von Welt- und Sinndeutungen. Auch wenn ziemlich eindeutig ist, dass „Moderne“ bei Bütler einfach das meint, das man früher den „Zeitgeist“ nannte, hätte man von ihm, wenn er den Begriff schon gebraucht, eine Auseinandersetzung mit der Literatur erwartet. Jedoch die Kenntnis der Sekundärliteratur ist nicht die Stärke der Untersuchung. Selbst einschlägige und unentbehrliche Standardwerke, die zur Einordnung unabdingbar sind, kommen nicht vor. Doch so richtig es sein mag, dass für den Historiker zuerst die Quellen maßgebend sind, er muss nicht erst ab ovo beginnen. Dies gilt für den Inhalt einer Arbeit und erst recht für den theoretischen Zugriff

Kommen wir zum Inhalt der Arbeit. Gegenstand der mit Fleiß gearbeiteten Untersuchung ist die katholische Schweizer Presse in den Jahren 1900-1914 und ihr (fehlender) Einfluss auf die katholische Bevölkerung. Was fehlt, ist – wie ausgeführt – die Einbettung der Presselandschaft in den größeren (schweizerischen und gesamtkatholischen) Kontext. Es wäre jedoch ungerecht, die Arbeit als völlig verfehlt abzutun. Denn sie ist in ihrer Art akribisch gearbeitet und kommt zu interessanten Einzelergebnissen. Der erste „statistische“ Teil wendet sich in quantifizierenden Untersuchungen der katholischen Schweizer Presse im Vergleich zur übrigen Presse in der Schweiz (Auflagenhöhe, Abonnenten etc...) zu und sucht insbesondere dem Leseverhalten der Schweizer Katholiken auf den Grund zu gehen. Die quantifizierende Methode, mit der Bütler demselben zu Leibe rückt, erscheint durchaus originell und einleuchtend. Das Ergebnis ist – auch wenn man Ähnliches erwartet hat – ernüchternd: Die katholische Presse wurde von den Katholiken kaum gelesen, die nichtkatholische sehr wohl. Wenn Bütler allerdings auf Grund des geringen Interesses der Katholiken für katholische Zeitungen, die – sicher diskussionswürdige – Auffassung Urs Altermatts von einem geschlossenen katholischen Milieu in der Schweiz (die dieser inzwischen selbst differenziert hat) in Frage stellt, so greift er zu kurz. Nicht das abweichende Verhalten (im stillen Kämmerlein bei der Zeitungslektüre) macht ein Milieu aus, sondern die öffentlichen Riten und Zwänge, denen sich die Katholiken oft mehr volens als nolens auf Grund der Sozialkontrolle und der Reglementierung durch die offiziellen Milieumanager unterwarfen (z. B. sonntäglicher Kirchenbesuch). Dass das katholische Milieu im Untersuchungszeitraum nicht nur in der Schweiz zahlreichen Erosionen ausgesetzt war, dass es zu Verwerfungen und Überschneidungen mit anderen Milieus (zum Beispiel dem sozialistischen) kam, ist jedoch richtig, nur lässt sich dies nicht allein aus dem Leseverhalten eruieren.

Im zweiten Teil seiner Arbeit porträtiert Bütler die vier wichtigsten damaligen katholischen Presseorgane der deutschsprachigen Schweiz: das „Vaterland“, die „Neue Zürcher Nachrichten“, die „Ostschweiz“ und die „Schweizerische Kirchenzeitung“. Bütler kommt zu dem Ergebnis, dass die betont kirchliche oder katholisch-parteipolitische Presse zwar der übrigen Schweizer Presse unterlegen war, sich jedoch dennoch als offizielle richtungsweisende Einrichtung für die Katholiken verstand und von Katholiken und Nichtkatholiken als solche anerkannt wurde. Im dritten Teil behandelt Bütler den Inhalt der „katholischen Zeitungslehre“, mit anderen Worten, er geht dem Konzept der als Milieumanager wirkenden Zeitungsmacher und Redakteure nach. Dabei stellt er nun alle Merkmale einer katholischen „Gegengesellschaft“ fest, mit anderen Worten, er muss nun doch Altermatt, wenigstens teilweise, Recht geben. Überraschend ist dieses Ergebnis nicht. Daraus einen „Schweizer Sonderweg“ abzuleiten, wie dies Büttler tut (ohne eine vergleichende Untersuchung vorzulegen), geht jedoch zu weit. Die katholische Presselandschaft in Bayern, Österreich oder im Rheinland unterschied sich – soweit es sich um die offizielle kirchliche Presse handelte – kaum von der in Schweiz. Richtig ist allerdings, dass es in der deutschen Schweiz keine Kulturzeitschrift wie das „Hochland“ und keine reformkatholische modernistische Zeitschrift gab (wohl aber in der französischen Schweiz bis hin zur „Revue Moderniste Internationale“). Im übrigen erscheint die katholische Kirchen- und Parteipresse in der Schweiz ähnlich wie in Deutschland bei genauerem Zusehen gar nicht so einheitlich wie dies das Modell einer geschlossenen katholischen „Gegengesellschaft“ bei den „Zeitungsproduzenten“ vermuten ließe. Wenn in Deutschland im katholischen Zentrums- und Gewerkschaftsstreit die „Kölner Volkszeitung“ mit Hermann Cardauns an der Spitze wider den römischen Stachel löckte, so gab es ähnliche Abweichungen durchaus auch in der Schweiz. Bütler selbst nennt in diesem Zusammenhang mit Recht Albert Meyenberg, den Herausgeber der „Schweizerischen Kirchenzeitung“, der in Rom (was Bütler bei seiner beschränkten Quellenlage nicht weiß) als von Cardauns beeinflusster „politischer Modernist“ galt, weil er sich für eine Entkonfessionalisierung der Schweizer Volkspartei einsetzte. Selbst ein Blatt wie das Luzerner Vaterland war im Modernismusstreit nicht immer linientreu, ähnliches gilt von einzelnen Mitarbeitern der untersuchten Zeitungen wie etwa dem Professor und Politiker Joseph Beck. Schließlich sei erwähnt, dass die Fragen, die der deutsche Zentrumsstreit aufgeworfen hatte, auch in der Schweizer Volkspartei und in der Schweizer katholischen Presse kontrovers diskutiert, eine Tatsache, die sich bei Bütler kaum findet 5.

Alles in allem zeigt sich, dass die eingangs genannten Mängel – hinsichtlich des Theoriedefizits wie hinsichtlich der Unkenntnis einschlägiger Literatur - nicht ohne Auswirkung auf die Ergebnisse der Studie blieben. Allerdings lag das Werk bereits 1996 als Dissertation vor und – wie aus einigen Bemerkungen zu entnehmen ist – gehen die Vorarbeiten zu ihr weit in die 1980er Jahre zurück. Dennoch ist es unverzeihlich, dass 2002 das Buch mit zahlreichen Fördermitteln der Schweizer katholischen Bistümer erscheinen konnte, ohne dass darin die in den letzten Jahren erschienene Literatur auch nur im geringsten beachtet worden wäre.

Anmerkungen:
1 Vgl. zuletzt Manfred Weitlauff, "Modernismus litterarius". Der "Katholische Literaturstreit", die Zeitschrift "Hochland" und die Enzyklika "Pascendi dominici gregis" Pius’ X. vom September 1907, in: Beiträge zur altbayerischen Kirchengeschichte 37 (1988) 97-175 [jetzt in: ders., Kirche zwischen Aufbruch und Verweigerung. Ausgewählte Beiträge zur Kirchen und Theologiegeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, Stuttgart-Berlin-Köln (Kolhammer) 2001, 388-460]; Karl Hausberger, "Dolorosissimamente agitata nel mio cuore cattolico". Vatikanische Quellen zum "Fall" Handel-Mazzetti (1910) und zur Indizierung der Kulturzeitschrift "Hochland"(1911), in: Kirche in bewegter Zeit. Beiträge zur Geschichte der Kirche in der Zeit der Reformation und des 20. Jahrhunderts. Festschrift für Maximilian Liebmann zum 60. Geburtstag, hg. von Rudolf Zinnhobler u.a., Graz (Styria)1994, 189-219.
2 Kaspar Fry, Kaspar Decurtins, Der Löwe von Truns (1855-1916), Bd. 1, Zürich 1949; Bd. 2, Zürich 1952.
3 Dominique Barthélemy, Idéologie et fondation (Études et documents sur l'histoire de l'Université de Fribourg/Suisse. Études 1), Editions Universitaires Fribourg Suisse 1991; ders., I. Sur la préparation et les vingt-cinq premières années. II. Correspondance Schorderet–Python (Études et documents sur l'histoire de l'Université de Fribourg/Suisse. Documents 1), Editions Universitaires Fribourg Suisse 1991.
4 Emile Poulat, Intégrisme et catholicisme intégral. Un réseau secret international antimoderniste: La Sapinière (1909-1921), Tournai-Paris (Castermann) 1969.
5 Vgl. zuletzt Otto Weiß, Modernismus und Antimodernismus im Dominikanerorden. Zugleich ein Beitrag zum „Sodalitium Pianum“, Regensburg (Pustet) 1998.

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