S. M. Lee: George Canning and Liberal Toryism

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Titel
George Canning and Liberal Toryism, 1801-1827.


Autor(en)
Lee, Stephen M.
Reihe
Royal Historical Society Studies in History New Series
Erschienen
Woodbridge 2008: Boydell & Brewer
Anzahl Seiten
212 S.
Preis
€ 60,28
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gerhard Altmann, Korb

Die Parlamentsreform von 1832 ist ein zentraler Erinnerungsort der britischen Geschichte. Die Ausweitung der Wählerschaft von etwa 400.000 auf 650.000 Männer erscheint auf den ersten Blick wenig dramatisch und strafte bereits damals jene lügen, die die Große Reform mit apokalyptischem Zungenschlag als fatalen Bruch mit bewährten Traditionen geißelten. Schon während der englischen Revolution Mitte des 17. Jahrhunderts wurden Stimmen laut, die auf eine Reform des intransparenten, exklusiven und der Korruption Vorschub leistenden Wahlrechts drängten. Doch obwohl die Glorreiche Revolution von 1689 die politischen Gewichte zugunsten des Parlaments verschob, fehlten in den folgenden Jahrzehnten entscheidende Impulse für eine durchgreifende Reform. Dies änderte sich erst am Vorabend der Französischen Revolution, als William Pitt der Jüngere behutsame Änderungen am Wahlrecht ins Parlament einbrachte, damit jedoch scheiterte. Die grundstürzenden Ereignisse in Frankreich und die beschleunigte Industrialisierung bereiteten dann freilich einer intensiven und lang anhaltenden Debatte über Fragen der Repräsentation endgültig den Boden, die schließlich in das erste Reformgesetz von 1832 mündete.

Dieses Datum markiert den Endpunkt von Stephen M. Lees Studie über George Canning und dessen Einfluss auf die Entwicklung des britischen Konservatismus. Canning ist bis dato der Premierminister mit der kürzesten Amtszeit. Er verstarb 1827 nach nur vier Monaten im Amt. Bekannt ist vor allem Cannings Wirken als Außenminister. Aus dieser Zeit stammt sein Bonmot, er habe die Neue Welt ins Leben gerufen, um das Gleichgewicht der Alten zu wahren. Lee hingegen lenkt den Blick auf die innenpolitische Dimension von Cannings politischer Arbeit. Mit ihr verbindet er eine folgenschwere Entwicklung des britischen Parteiensystems und -wettkampfs, der bislang in der Forschung zu wenig Beachtung geschenkt worden sei. Lee möchte zudem Canning der „Whiggish appropriation“ (S. 2) entreißen und beide Bestandteile von Cannings Liberal Toryism gleichermaßen würdigen.

Canning, der sich zeitlebens als politischer Testamentsvollstrecker Pitts verstand, entfernte sich nach seinem Ausscheiden aus der Regierung Portland 1809 allmählich vom überkommenen Parlamentscomment, demzufolge „measures, not men“ kritisiert werden durften, positionierte sich jedoch zunächst mit seinen als „Senat“ titulierten Anhängern in Äquidistanz zu Regierung und Whig-Opposition. Als Lord Liverpool 1812 Premierminister wurde, lehnte Canning es ab, in derselben Regierung zu dienen wie sein Erzfeind Castlereagh, der ihn 1809 bei einem Duell verwundet hatte. Gleichzeitig löste er jedoch seinen „Senat“ auf und stürzte sich in den Kampf um ein Parlamentsmandat für die aufstrebende Industriemetropole Liverpool. In einem der ersten modernen Wahlkämpfe der britischen Geschichte profilierte sich Canning als Gegner der Ostindien-Kompanie und ihrer zweifelhaften Privilegien, gleichzeitig aber als Befürworter eines kompromisslosen Krieges gegen Napoleon. Auf den Wahlveranstaltungen, in den Clubs und in der Presse stellte sich Canning als Mann der Mitte dar, obwohl Lee zufolge genau diese Mitte zusehends zwischen den nun klarer konturierten parlamentarischen Antagonisten Regierung und Opposition zerrieben wurde. Im Liverpooler „whirl of campaigning” (S. 66) verschwand also der Politikstil des 18. Jahrhunderts. Nach gewonnener Wahl richtete Canning in der westenglischen Hafenstadt ein eigenes Büro ein und unterstrich damit den Wandel einer von höfischen Intrigen gekennzeichneten politischen Szenerie hin zu einer breiteren politischen Öffentlichkeit, die im Übrigen rhetorisch versierten Akteuren als neue Legitimationsbasis dienen konnte. Zur selben Zeit verselbständigte sich der Begriff Tory zu einer im politischen Alltag gebräuchlichen Bezeichnung der britischen Konservativen.

Wiewohl sich Lee nicht an einer „wild-goose chase“ (S. 87) nach Cannings politischer Philosophie beteiligen möchte, versucht er im Folgenden, die zentralen Aspekte von Cannings politischer Gedankenwelt zu bündeln, um deren Bedeutung für die Herausbildung des Liberal Toryism zu veranschaulichen. Der Einfluss der Französischen Revolution auf Cannings Denken und Handeln kann – wie bei der Mehrzahl der Politiker seiner Generation – nicht überschätzt werden. Canning forderte daher bei Zeiten maßvolle Neuerungen, um revolutionäre Gärungen im Keim zu ersticken. Gleichzeitig lehnte er jedoch Reformen als Selbstzweck ab, da derlei abstrakte Politikkonzepte wiederum der Revolution den Boden bereiteten. Auf zwei Politikfeldern lässt sich dieses dialektische Verständnis von Reform besonders eindrücklich nachvollziehen. Canning unterstützte die Bemühungen, die während der Restauration erlassenen Test Acts gegen die katholische Bevölkerung abzuschaffen. Vor allem die Lage in Irland, die einst die Diskriminierung der Katholiken heraufbeschworen hatte, verlangte nun in Cannings Augen eine Gleichstellung der romtreuen Christen. Ansonsten laufe London Gefahr, die Katholiken abermals ins Lager der Feinde Großbritanniens zu treiben. Diese offene Frage barg für die Tories noch erhebliche Sprengkraft, ebenso wie der Konflikt um die Wahlrechtsreform. Hier positionierte sich Canning – im Prinzip mit denselben Argumenten – deutlich auf dem rechten Flügel des Liberal Toryism: Eine Parlamentsreform sei nämlich eine gefährliche Kopfgeburt, die unkontrollierbaren politischen Extremen Tür und Tor öffne. Obwohl Canning selbst doch eine unterrepräsentierte Metropole des neuen Englands im Unterhaus vertrat und als einer der ersten Spitzenpolitiker Großbritanniens über den Wahltag hinaus dank eines professionellen Mitarbeiterstabs mit seinem Elektorat in Kontakt blieb, warf er sich etwa für die „close boroughs“ in die Bresche, die zwar de facto im Privatbesitz eines lokalen Patriarchen waren, aber nach Lesart ihrer Befürworter unabhängigen Geistern eine politische Karriere ermöglichten. Dabei setzte sich Canning aufgrund einer unspektakulären Herkunft dem Argwohn konservativer Kreise aus, die beispielsweise sein „speechifying“ als eine für Tories ganz und gar unschickliche Anbiederung an die öffentliche Meinung abkanzelten.

Als Canning 1822 seinem Rivalen Castlereagh ins Außenamt nachfolgte, schien er – zumindest nach dem Geschmack seiner konservativen Kritiker – die liberale Seite des Toryismus über Gebühr zu betonen. Seine Weigerung, den Bourbonen in Spanien zu Hilfe zu eilen, und seine Bereitschaft, die Ex-Kolonien Spaniens in Südamerika als selbständige Republiken anzuerkennen, waren Lee zufolge jedoch nur prima facie Ausfluss einer liberalen Gesinnung. Wie auch auf innenpolitischem Terrain suchte Canning in der Außenpolitik den Mittelweg zwischen blanker Reaktion und utopischem Reformdrang. Allerdings gelang dieser Brückenschlag zwischen den Extremen zusehends seltener, denn die katholische Frage, über die sich die Regierung Liverpool für einige Jahre ausgeschwiegen hatte, brach 1827 wieder mit voller Wucht auf die politische Bühne und führte zu einem innerparteilichen Klärungsprozess bei den Tories. Nach Cannings plötzlichem Tod degenerierte, so Lee, der Liberal Toryism zu einem politischen Oxymoron. Jene, die Cannings Kurs gefolgt waren, rückten näher an die Whigs, während das konservative Lager seine Reihen gegenüber liberalen Einflüssen schloss. Ein Realignment des britischen Parteiensystems hatte begonnen.

Lee gelingt es, den politischen Transformationsprozess in den ersten drei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts plastisch vor Augen treten zu lassen. Am Beispiel Cannings und des Liberal Toryism verdeutlicht er die Wandlungen, die einerseits im Regierungshandeln Platz griffen. Die Große Reform von 1832 besiegelte in dieser Hinsicht die Entwicklung von einer Exekutiv- hin zu einer parlamentarischen Regierung. Gleichzeitig markierte die von Canning mit Nachdruck vorangetriebene Öffnung gegenüber dem politischen Massenmarkt den Übergang zu einem neuen Verständnis der politischen Kultur, die sich fortan stärker über ihre gesamtbritische Dimension definierte und allmählich ihre Wurzeln in lokalen Traditionen und Loyalitäten hinter sich ließ. Katalysator dieser Evolution waren die beiden großen Parteien, die in der Folgezeit ihre Anhänger stärker an sich zu binden wussten.

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