: Patrioten und Kosmopoliten. Juden im Sowjetstaat 1941–1953. Köln 2008 : Böhlau Verlag, ISBN 978-3-412-14606-1 XVI, 559 S. € 66,90

: Die Rückkehr des Štetl. Russisch-jüdische Literatur der späten Sowjetzeit. Göttingen 2008 : Vandenhoeck & Ruprecht, ISBN 978-3-525-36987-6 307 S. € 49,90

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Anke Hilbrenner, Institut für Geschichtswissenschaften, Universität Bonn

Jüdische Geschichte in der Diaspora wurde, wie Salo Baron schon 1929 festgestellt hatte, lange Zeit aus der Perspektive der sogenannten „lachrymose“ – also der tränenreichen – Geschichtsauffassung interpretiert. Die Betrachtungen der jüdischen Erfahrung in der Sowjetunion stellen geradezu ein Paradebeispiel für diese Art der Historiographie dar. Erst in jüngerer Zeit hat die sowjetisch-jüdische Geschichte eine Neubewertung erfahren, die vielleicht am deutlichsten durch das vielbeachtete Buch von Yuri Slezkine, „Das jüdische Jahrhundert“1, markiert wurde. Die jüdische Erfahrung im 20. Jahrhundert wurde als paradigmatisch für die Moderne beschrieben. Vor allem denjenigen Juden, die nach der Oktoberrevolution ihre heimatlichen Schtetl im sogenannten Ansiedlungsrayon verließen, in die Großstädte der Sowjetunion zogen und dort zu Sowjetmenschen wurden, schreibt Slezkine dabei besondere Bedeutung zu. Außer ihm waren es vor allem Gabriele Freitag und David Shneer, die untersucht haben, wie vielversprechend die Angebote der jungen Sowjetunion einer Reihe sowjetischer Juden erschienen.2 Diese sowjetischen Juden wurden in der Zeit vor dem zweiten Weltkrieg zu Sowjetmenschen par excellence, sie repräsentierten allerdings nur einen Teil der Juden in der Sowjetunion. Die Versprechen von Bildung und sozialer Mobilität ohne Ansehen der ethnischen Zugehörigkeit waren dabei ebenso bedeutend, wie die Nationalitätenpolitik der Sowjetunion, die ein Erstarken der sowjetischen jiddischen Kultur ermöglichte.

Jenseits dieser Versprechen wurden die sowjetischen Juden nach Slezkine zu „reverse Marranos“3, die im Gegensatz zu den zum Christentum konvertierten „Geheimjuden“ in Spanien nach der Reconquista öffentliche Juden waren, die allerdings nicht ihr Judentum, sondern ihre Säkularität zur Religion erhoben. Durch den Holocaust und schließlich durch den Antisemitismus der späten Stalinzeit wurden sie auf ihr Judentum zurückgeworfen. Slezkine ist häufig vorgeworfen worden, dass sein Buch thesenhaft ist und einer genaueren Überprüfung anhand von Quellen nicht standhält. Die beiden hier zu besprechenden Bücher unterfüttern nun die Slezkinschen Thesen mit dezidierter Quellenarbeit, wenn auch disziplinär bedingt aus unterschiedlicher Perspektive und dementsprechend anhand verschiedener Quellen.

Die geschichtswissenschaftliche Arbeit von Frank Grüner, „Patrioten und Kosmopoliten“, nähert sich mit einer erfrischenden Methodenvielfalt ihrem Gegenstand, der Geschichte der Juden in der Sowjetunion von 1941 bis 1953. Der gewählte Zeitraum lässt sich als eben jene Phase beschreiben, in der die Versprechen, welche die junge Sowjetunion ihren jüdischen Bürgern offerierte, sich endgültig in ihr Gegenteil verkehrten. Für Grüner sind diese „schwarzen Jahre des sowjetischen Judentums“ zugleich jene, in denen sich sein kollektives Schicksal unumkehrbar wandelte (S. 511). Diese Wendejahre der sowjetisch-jüdischen Utopie untersucht Grüner in drei Teilen, die allerdings nicht chronologisch, sondern thematisch auf ihren Gegenstand zugreifen.

Im Mittelpunkt des ersten Teils steht die Lage der jüdischen Bevölkerung im Spannungsfeld von Holocaust und Stalinismus. Dabei werden vor allem die Kriegserfahrung, die Wahrnehmung des stalinistischen Systems und die Versuche jüdischer „Selbstbehauptung“ (S. 21) untersucht. Die Folie, vor der diese Untersuchung der jüdischen Wahrnehmung stattfindet, ist die Stimmungslage der gesamten Sowjetbevölkerung, die zum Teil nur schwer von der jüdischen zu trennen ist. Das führt in einigen Kapiteln dazu, dass die Beschreibung der allgemeinen Lage in der Sowjetunion diejenige der Juden sowohl qualitativ als auch quantitativ übertrifft (zum Beispiel S. 172-213). Als entscheidende Manifestation der jüdischen Selbstbehauptung stellt Grüner Entstehung und Geschichte des Jüdischen Antifaschistischen Komitees (JAK) vor. Ein anderes wichtiges Thema ist die Rezeption des Hitler-Stalin-Pakts, zu dessen Erklärung Grüner auf die 1930er-Jahre zurückgreift. Im zweiten Teil stellt Grüner die sogenannten „innerjüdischen“ (S. 20) Diskurse zur Diskussion, also das jüdische Selbstverständnis zwischen Nationalbewusstsein und religiöser Zugehörigkeit. So wird die Entstehung eines jüdischen Sonderbewusstseins als Antwort auf den Holocaust, auf die Ausgrenzung aus der sowjetischen Gesellschaft und auf die Vergeblichkeit von Assimilationsbestrebungen begriffen. Darüber hinaus wirken die territorialen Implikationen eines entstehenden jüdischen Bewusstseins sowie die Diskussionen um die Krim als jüdischer autonomer Region innerhalb der UdSSR wiederum auf das jüdische Nationalbewusstsein zurück, ebenso wie die Entstehung des Autonomen Gebietes Birobidschans nahe der chinesischen Grenze oder auch die Gründung des Staates Israel. Auch traditionelles jüdisches Leben und Religionsausübung in der behandelten Zeit waren von zahlreichen Veränderungen betroffen.

Im dritten Teil schildert Grüner die Haltung des stalinistischen Regimes gegenüber der jüdischen Minderheit während dieser „Schlüsseljahre“ zwischen 1941 und 1953 (S. 511). Dabei untersucht er die Konzepte Antifaschismus, Sowjetpatriotismus und Völkerfreundschaft und fragt danach, welche Auswirkungen sie auf die sowjetische Politik gegenüber den Juden hatten. Diese ideologiebestimmenden Schlagwörter weichen nach dem Krieg der Politik der Bekämpfung von Zionismus und „wurzellosen Kosmopoliten“ (S. 437). In diesem Zusammenhang nimmt Grüner mit dem Prozess gegen das JAK einen thematischen Faden aus dem ersten Kapitel wieder auf. Zuletzt untersucht er die sogenannte „Ärzteverschwörung“ vom Januar 1953 und widmet sich der Frage, ob Stalin kurz vor seinem Tod die Deportation der sowjetischen Juden geplant hatte oder nicht.

Grüners sehr ausführliches Buch nähert sich seinem komplexen Thema umsichtig, anhand einer Vielzahl unterschiedlicher Quellen und mithilfe sowohl sozial-, kultur- als auch mentalitätshistorischer Ansätze. Damit löst er die jüdische Frage im Stalinismus aus einer einseitigen Kreml-Perspektive heraus. Die neuere Stalinismusforschung fordert zu Recht die Interpretation von Lebensrealität, Politik und Identität der historischen Subjekte im Stalinismus jenseits der Totalitarismustheorie. Grüner hat diese Aufgabe für die jüdische Geschichte in der Sowjetunion von 1941 bis 1953 überzeugend gelöst. Die Kehrseite solcher Multi-Perspektivität sind allerdings Längen und Redundanzen. So werden einige Themen in den unterschiedlichen Hauptteilen immer wieder neu verhandelt. Diese Probleme sind sicher auf den lobenswerten theoretischen Ansatz zurückzuführen, der Perspektiven statt Chronologie zur ordnenden Größe erhebt. Dennoch hätte man die 511 Textseiten der gedruckten Dissertation durchaus um einige Wiederholungen kürzen können.

Zeitlich nach 1953 und damit anschließend an Grüners Betrachtungszeitraum setzt die disziplinär anders angelegte Studie von Olaf Terpitz ein. „Die Rückkehr des Schtetl. Russisch-jüdische Literatur in der späten Sowjetzeit“ eröffnet jenseits ihres literaturwissenschaftlichen Gehalts eine Möglichkeit zur Spurensuche nach sowjetisch-jüdischer Identität von den 1970er-Jahren bis zum Zerfall der Sowjetunion. Terpitz leitet aus literarischen Texten einen Blick auf die Welt ab, dabei wird das Schtetl zur Metapher jüdischer Selbstvergegenwärtigung und zum Fluchtpunkt der Textanalyse.

Ausführlich beschreibt Terpitz zunächst die historischen Kontexte, die er anhand von drei Interpretationslinien auffächert. Er beginnt dabei mit der sowjetischen Kulturpolitik und Literatur nach Stalins Tod. Neben der allfälligen Ambivalenz von Tauwetter und Stagnation sowie der Dissidentendiskurse spielt Terpitz hier vor allem auf die russische Dorfprosa der 1960er- und 1970er-Jahre an. Er macht die Rückkehr des Dorfes in die sowjetische Literatur, die quer zu den Versprechungen der sowjetischen Moderne stand, zum Bezugspunkt für seine Untersuchung des Schtetl als literarischem Thema. Terpitz’ zweite Interpretationslinie ist die russisch-jüdische (Literatur)-Geschichte seit der jüdischen Aufklärung. Das Ringen um jüdische Identität in der Literatur wird von den Klassikern der jiddischen Literatur wie Mendele Moicher Sforim und Sholem Aleichem über Isaak Babel und Vassilii Grossman bis in die Gegenwart zu Ludmilla Ulizkaja untersucht. Drittens behandelt Terpitz die kulturgeschichtlichen Implikationen seines Gegenstandes, indem er das Schtetl als Erinnerungsort thematisiert. Der Autor hebt die historischen Aspekte ebenso hervor, wie die lebensweltliche Bedeutung, die das Schtetl als Symbol und Metapher prädestinieren. Mit der Beschreibung der historischen Kontexte wird der Interpretationsraum in faszinierender Weise in alle drei beschriebenen Richtungen geöffnet, auch wenn der jeweilige Zugang im Einzelnen etwas verkürzt ist, so etwa hinsichtlich der russisch-jüdischen Geschichte vor 1917.

Nach dieser gut geschriebenen, äußerst lehrreichen und unterhaltsamen Einführung geht der zweite Teil der Untersuchung ins literaturwissenschaftliche Detail. Anhand von vier Autoren untersucht Terpitz die von ihm sogenannten Schtetldiskurse. Zunächst bespricht er Anatolii Rybakows Roman „Schwerer Sand“, in dem er das Schtetl in der Ukraine nach dem Zweiten Weltkrieg als „vergessenen Ort“ (S. 164) liest. Die Erzählungen „Zigeunerlager“ und „Jahrmarkt“ von Boris Jampolskii interpretiert er als „Requiem“ für einen „verlorenen Ort“. Die Romane von Grigorii Kanowitsch symbolisieren für Terpitz die Wiederkehr des Schtetl in der Erinnerung. Schließlich wir es im Roman „Halbinsel Judatin“ von Oleg Jurew aus der Perspektive der Emigration zum „virtuellen Ort“ (S. 274).

Das Schtetl, so konstatiert Terpitz, habe nach Revolution und Erstem Weltkrieg seine Stellung als zentraler Topos der jüdischen Literatur eingebüßt. Gerade seine neue Marginalität ermögliche aber eine Reflexion über die Erfahrung von Differenz sowie über die Traditionen und Identitätskonstruktionen von Juden in ihrer jeweiligen sowjetischen Gegenwart nach 1953. Über die literarische „Rückkehr des Schtetl“ lassen sich keine eindeutigen Zuschreibungen vornehmen. Das Ringen um die „untergegangene Welt“ oder den „Gedächtnisort“ (S. 283) bleibt vielstimmig und verweist auf die jeweilige Selbstverortung des Autors in den komplexen, im ersten Teil angedeuteten Bezugssystemen im Spannungsfeld von sowjetischer kulturpolitischer Gegenwart, russisch-jüdischer Geschichte und jüdischer Erinnerungskultur. Leider bleiben diese Bezüge manches Mal implizit.

Trotz der unterschiedlichen Perspektiven der hier besprochenen Bände liegen mit beiden substantielle Beiträge zur sowjetisch-jüdischen Geschichte vor. Sie ermöglichen es uns, gemeinsam gelesen mit den Arbeiten von Gabriele Freitag und David Shneer, das sowjetische „jüdische Jahrhundert“ zu durchmessen und Slezkines faszinierende Thesen zu überprüfen.

Anmerkungen:
1 Yuri Slezkine, Das jüdische Jahrhundert, Göttingen 2006; vgl. auch Tobias Brinkmann, Rezension zu: Yuri Slezkine, The Jewish Century, Princeton 2004, in: H-Soz-u-Kult, 01.07.2005, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2005-3-002> (04.12.2009).
2 Gabriele Freitag, Nächstes Jahr in Moskau! Die Zuwanderung von Juden in die sowjetische Metropole 1917-1932, Göttingen 2004; David Shneer, Yiddish and the Creation of Soviet Jewish Culture 1918-1930, Cambridge 2004.
3 Slezkine, Jahrhundert, S. 358 f.

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