Cover
Titel
The Jewish Century.


Autor(en)
Slezkine, Yuri
Erschienen
Anzahl Seiten
438 S.
Preis
$29.95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Tobias Brinkmann, Department of History, Parkes Institute for the Study of Jewish/non-Jewish Relations, University of Southampton

Es ist nicht leicht, “The Jewish Century” von Yuri Slezkine kurz zu charakterisieren. “The Jewish Century” ist keine Monografie, sondern vereint vier Essays, die zwar lose zusammenhängen, aber sich durchaus unabhängig voneinander lesen lassen. Das Buch behandelt das 20. Jahrhundert und jüdische Geschichte, vor allem in der Sowjetunion. Aber Slezkine, der russische Geschichte an der University of California in Berkeley lehrt, bezieht sich implizit wie explizit auf viele Räume und Zeiten. Das Buch entzieht sich den von H-Soz-Kult vorgegebenen Einordnungskriterien; unter Epoche, Region und Thema treffen fast alle der genannten Kriterien zu. “The Jewish Century” gehört auch nicht in die “Schublade“ für jüdische Geschichte, denn Slezkine präsentiert eine ebenso differenzierte wie provozierende Neuinterpretation der Geschichte des 20. Jahrhunderts, die jüdische Geschichte im engeren Sinne transzendiert. Und er setzt sich ausführlich mit den Lebensgeschichten von Juden auseinander, die in den meisten Studien zur jüdischen Geschichte gar nicht vorkommen, weil sie wie viele Juden in der Sowjetunion kein ausgeprägt jüdisches Selbstverständnis hatten. Genau in dieser Einordnungsproblematik, die letztlich die gewohnten Untergliederungen und Themenfelder in Frage stellt und auf neue Paradigmen jenseits von Nationalgeschichtsschreibungen verweist, liegt die eigentliche Bedeutung des Buches.

Warum ist das 20. Jahrhundert das „Jüdische Jahrhundert“?1 Das Streben nach Bildung, Mobilität, wirtschaftliche Innovation, Professionalisierung, ein hoher Urbanisierungsgrad und eine Vernetzung über große Distanzen in Raum und Zeit charakterisieren viele ethno-religiöse Diasporas.2 Slezkine argumentiert durchaus überzeugend, dass genau diese Eigenschaften Embleme der Moderne sind; und in der Tat sind die Mitglieder von „middlemen-minorities“ vielfach als Vorreiter und „role-models“ von Modernisierungs- und Innovationsprozessen aufgetreten – und verfolgt worden. Man muss dem Autor nicht unbedingt folgen, wenn er die Modernisierung an sich als jüdisch beschreibt. Dennoch lässt sich nicht bestreiten, dass Juden im 19. und 20. Jahrhundert in Europa, der Sowjetunion und nicht zuletzt in den USA im Zuge von entscheidenden Transformationsprozessen in Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur Schlüsselrollen gespielt haben.

Im ersten Kapitel, “Mercury’s Sandals: The Jews and other Nomads”, vergleicht Slezkine die jüdische mit anderen Diasporas. Hier führt er die Differenzierung zwischen „Mercurians“ und „Apollonians“ ein. „Mercurians“ besetzen als „Service-Nomaden“ ökonomische Nischen und sind hochmobil. Die Existenz von „Mercurians“ basiert auf Kommunikation, Handel und Dienstleistungen, also auf Mobilität und vielfach auf abstraktem Humankapital. Die „Mercurians“ leben häufig in kleinen, deutlich von innen nach außen abgegrenzten Diaspora-Gemeinschaften. Die große Mehrheit der Bevölkerung, die „Apollonians“, dagegen ist buchstäblich an das Land gebunden. Nach Slezkines Lesart sind Modernisierungsprozesse im Kern Konversionen von „Apollonians“ zu „Mercurians“.

Doch die Moderne ist inhärent dialektisch. Zwar profitierten vor allem „Mercurians“ (aber in der Folge auch „Apollonians“) in West- und Mitteleuropa von der beschleunigten Modernisierung im 19. Jahrhundert, von der Öffnung von Märkten und der Verdichtung von Raum und Zeit. Doch Hand in Hand mit dem Aufstieg des Kapitalismus ging der des Nationalismus, aus Mitgliedern von Diaspora-Gemeinschaften wurden „nationale Minderheiten“. Gewaltsame Ausschreitungen gegen in der Regel aufgrund ihrer Nischenposition leicht identifizierbare und fast wehrlose Opfer bilden einen wichtigen (wenn auch nicht den dominierenden Aspekt) der Geschichte der Juden, Armenier, Griechen, Libanesen, Chinesen, Roma und anderer Diasporas. Die Etablierung von Nationalstaaten bedeutete eine neue Qualität von Gewalt. Die Angehörigen von Minderheiten waren teilweise systematischen Diskriminierungen und Vertreibungen ausgesetzt – bis hin zum staatlich organisierten Genozid. Das 20. Jahrhundert ist laut Slezkine auch deshalb das „Jüdische Jahrhundert“, weil es untrennbar mit dem Holocaust verbunden ist: „Hitler’s attempt to put his vision into practice led to the canonization of the Nazis as absolute evil and the reemergence of the Jews as universal victims.“ (S. 2)

Schon in der Einleitung argumentiert Slezkine, dass auch der Nationalismus im Kern jüdische Wurzeln habe: viele Nationalismen des 19. Jahrhunderts hätten sich implizit auf das jüdische Modell der territorial definierten und stammesgebundenen Nation sowie der dazugehörigen Konzepte wie „Promised Land“ bezogen, nicht zuletzt auch der Zionismus selbst. Dieses Beispiel verdeutlicht, dass die Studie einer Detailkritik in manchen Passagen nicht unbedingt standhält. So sind manche Dichotomien zwar suggestiv, aber sie werden eher holzschnittartig präsentiert. Zudem wirft das in allen Kapiteln ausführlich ausgebreitete Zahlenmaterial, das die Überrepräsentation von Juden in verschiedenen Bereichen von Wirtschaft, Gesellschaft und Staat demonstrieren soll, mehr Fragen auf als es beantwortet. Und es lässt sich trefflich darüber streiten, ob das 20. Jahrhundert allein das „jüdische“ war, vielleicht aber auch das „amerikanische“ oder das der Totalitarismen, oder ob derartige Attribute überhaupt sinnvoll sind. Diese Kritik hat Slezkine durchaus einkalkuliert, wie er in der Einleitung andeutet. Im Einband beschreibt der Verlag das Buch durchaus zutreffend als „masterwork of interpretative history“ aber auch als „sure-to-be-controversial“.

Schon die Kapitelüberschriften der Essays 2-4, „Swann’s Nose“, „Babel’s First Love“ und „Hodl’s Choice”, deuten an, dass Slezkine auf literarische Klassiker des 19. und 20. Jahrhunderts rekurriert. Im zweiten Kapitel schildert er den jüdischen Anteil an der sozialen und kulturellen Modernisierung im Westen auf der einen und ihre politische Machtlosigkeit auf der anderen Seite. Der dritte Essay thematisiert den aus westlicher Sicht verspäteten jüdischen Aufbruch aus dem russländischen Shtetl Ende des 19. Jahrhunderts, der letztlich zur „jüdischen Revolution innerhalb der Russischen Revolution“ führte.3

Der letzte Essay, „Hodl’s Choice”, ist mit Abstand der längste und der beachtlichste. Anhand von Hodl und ihren Schwestern, der Töchter von Sholom Aleichems Tevye dem Milchmann, die allesamt unterschiedliche Lebenswege einschlugen, entwickelt Slezkine sein Modell der drei Optionen („the three Promised Lands“): Anfang des 20. Jahrhunderts konnten Juden in Osteuropa nach Amerika auswandern (Liberalismus, Kapitalismus), nach Palästina (Zionismus, Nationalismus), oder sie konnten sich für den Kommunismus entscheiden. Jede dieser Optionen war mit einer Migration verbunden, nach Amerika, Palästina und (nach der Russischen Revolution) in die Metropolen der Sowjetunion. Dazu kam die Möglichkeit der nicht-Option. Die meisten Juden, die im (ehemaligen) Ansiedlungsrayon blieben oder nach ihrer gewaltsamen Umsiedlung und Flucht im Ersten Weltkrieg dorthin zurückgekehrt waren und die Pogrome nach dem Krieg ebenso wie die Auswirkungen der Zwangskollektivierung überlebt hatten, wurden Opfer des Holocaust. Ihre Geschichte ist im Übrigen gar nicht so detailliert erforscht, wie Slezkine unterstellt (S. 205).

Unbestritten ist indes, dass die dritte Option, die jüdische Migration in die sowjetischen Großstädte (und deren Vorgeschichte) für die Forschung erst ansatzweise erschlossenes Neuland darstellt. Slezkine bezieht sich in seiner beeindruckenden Schilderung dieser Geschichte auf Vorarbeiten russischer, amerikanischer und deutscher Historiker.4 Er lässt zahlreiche literarische Protagonisten als Zeugen auftreten, zitiert aber auch aus Memoiren. Der Zeitrahmen reicht bis in die jüngste Gegenwart. Die sowjetische Option ist – stark verkürzt – die Geschichte von Juden, die zu Sowjetmenschen konvertierten, nur um in der zweiten Generation als „reverse Marranos“ („public Jews who practice their Gentile faith“) in einer gesellschaftlichen Sackgasse zu landen (und nach 1991 in großer Zahl zu emigrieren) (S. 358f.). Die erste und zweite Option (USA und Palästina/Israel) behandelt Slezkine eher kurz, aber auch hier wartet er mit teilweise brillianten und im Falle Israels provozierenden Interpretationen auf.5

Trotz und vielleicht gerade wegen mancher begrifflicher Unschärfen – “The Jewish Century” ist ein bemerkenswertes Buch, das neue Perspektiven auf die jüdische Geschichte und die Geschichte der Moderne präsentiert.

Anmerkungen:
1 Den Begriff „The Jewish Century“ übernimmt Slezkine vom Literatur- und Kulturwissenschaftler Benjamin Harshav, siehe: Harshav, Benjamin, Language in Time of Revolution, Stanford 1993.
2 Sheffer, Gabriel, Diaspora Politics. At Home Abroad, Cambridge 2003.
3 Zum Hintergrund: Nathans, Benjamin, Beyond the Pale. The Jewish Encounter with Late Imperial Russia, Berkeley 2002; Harshav, Benjamin, Marc Chagall and His Times. A Documentary Narrative, Stanford 2003; Kleinmann, Yvonne, Neue Orte – Neue Menschen? Jüdische Lebensformen in St. Petersburg und Moskau im 19. Jahrhundert, Göttingen 2005.
4 Siehe u.a.: Freitag, Gabriele, Nächstes Jahr in Moskau! Die Zuwanderung von Juden in die sowjetische Metropole 1917-1932, Göttingen 2004; Shneer, David, Yiddish and the Creation of Soviet Jewish Culture 1918-1930, Cambridge 2004.
5 Slezkines Darstellung korrespondiert im Hinblick auf die amerikanisch-jüdische Beziehungsgeschichte mit einer anderen beachtlichen Studie: Heinze, Andrew R., Jews and the American Soul. Human Nature in the 20th Century, Princeton 2004.

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