N. C. Karafyllis: Biologisch, natürlich, nachhaltig

Cover
Titel
Biologisch, natürlich, nachhaltig. Philosophische Aspekte des Naturzugangs im 21. Jahrhundert


Autor(en)
Karafyllis, Nicole C.
Reihe
Ethik in den Wissenschaften Bd.14
Erschienen
Tübingen 2001: A. Francke Verlag
Anzahl Seiten
224 S.
Preis
€ 39,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dr. Gisela Engel, Zentrum zur Erforschung der Frühen Neuzeit, Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main

Nicole Karafyllis legt ein zugleich natur- und technikphilosophisches Buch vor. Dies erscheint ihr möglich, weil "die Naturphilosophie ohne den Druck, die politische Ökologie unbedingt legitimieren zu müssen, wieder Natur in Frage stellen darf" und weil "die Technikphilosophie in ein Stadium eingetreten ist, in dem Natur und Technik nicht mehr nur als starre Gegensätze, sondern auch als Mischformen, als Hybride verstanden und erfahren werden" (S. 11). Es soll die gegenseitige Abhängigkeit der Begriffe "biologisch", "natürlich" und "nachhaltig" philosophisch beleuchtet werden, und zwar indem vom "vorgefundenen Sprach- und Ideengebrauch" ausgegangen wird, zu dessen Verständnis "Theoriebausteine der alten und jungen Meisterinnen und Meister" (S. 13) herangezogen werden. Den zentralen Bezugspunkt bildet dabei die Idee von Wachstum, als Fallbeispiel dient das der "Nachwachsenden Rohstoffe".

Das Buch richtet sich an Natur- und Technikwissenschaftler/innen und an Geistes- und Sozialwissenschaftler/innen. In den Kapiteln über Biologie – die Lehre vom Leben? (Kap. 2), Vorstellungen von "Natur" (Kap. 3) und Nachhaltigkeit (Kap. 4) entwickelt Nicole Karafyllis ihre Thesen.

Kapitel 2, Biologie – die Lehre vom Leben? geht der Frage nach, wie die Biologie, verstanden als die Wissenschaft vom Leben, "bestimmte Naturzugänge kanalisiert und so den Weg für bestimmte Natur-Schutzkonzepte ("Nachhaltigkeit") bereitet" (S. 16). Anders als die antiken Theoretiker, die bios als Art und Weise des Lebens inklusive der Lebensführung verwendeten, daher also auch die Frage nach dem Sinn des (guten) Lebens stellten, stellt die moderne Biologie solche Fragen nicht. Bios im modernen naturwissenschaftlichen Gebrauch meint: die belebte Welt, das Reich der Lebewesen, der Biota. 1797 führte Th. A. Roose den Begriff "Biologie" ein und bezeichnete damit die Wissenschaft vom Lebendigen; Forschungsobjekte der Biologie sind die Lebewesen, bzw. das Leben. Leben, sagt N. Karafyllis, wurde aber stets ausgehend von den Eigenschaften der Materie erklärt, die Physik war für die Biologie Leitwissenschaft und bleibt dies auch in der modernen Molekularbiologie, wie überhaupt von der Physikalisierung der Naturwissenschaften seit dem 19. Jahrhundert gesprochen werden kann. Leben wird nun von einer physikalisierten Biologie mit teilweise aus dem Alltag stammenden Kennzeichen verstanden und diese werden zu Kriterien dafür, daß entschieden wird, ob etwas ein Lebewesen ist oder nicht. Leben wird beispielsweise durch Fortpflanzung, Stoffwechsel, Reizbarkeit, Bewegung und Wachstum beschreiben, ob etwas ein Lebewesen ist oder nicht wird auf der Basis eines oder mehrerer dieser Kriterien entschieden. N. Karafyllis weist aber darauf hin, daß wir heutzutage nun zwar kaum noch Alltagserfahrungen machen, die frei von biowissenschaftlichem Gedankengut sind, daß aber letztlich unser Wissen vom Leben auf Intuitionen basiert, die wir aufgrund unserer eigenen Lebendigkeit haben: "Leben ist nicht ohne Erfahrung mit dem Leben möglich, Leben zu klassifizieren schon" (S. 25).
Zusätzlich zu den Kennzeichen des Lebens gibt es strukturelle Merkmale, die dem zugeschrieben werden, "was wir als Leben vorfinden" (S. 25). Diese strukturellen Merkmale entspringen einer zugrundeliegenden Theorie, sie sind wissenschaftliche Zuschreibungen. Als anerkanntes strukturelles Merkmal von Leben gilt seit 160 Jahren die Zelle, die ja alle Kennzeichen des Lebens aufweist (Wachstum, Stoffwechsel usw.). Wie schwierig aber die Begrifflichkeiten der Kennzeichen von Leben in Bezug auf die Zelle als strukturelles Merkmal der Biologie für das Leben sind, macht Karafyllis z. B. an dem Kennzeichen "Bewegung" deutlich. Bewegung ist oftmals nur durch technische Mittel wie z.B. Zeitraffer zu verdeutlichen. Auch das Kennzeichen "Fortpflanzung" erweist sich als schwierig, wenn man Fortpflanzung nicht einfach und schlicht als Zellvermehrung verstehen will.
Als alternativen Zugang zum Phänomen Leben umreißt Karafyllis den Zugang Goethes. Sie verdeutlicht sodann, wie in den modernsten Entwicklungen (Biomasse, Bioinformatik, Klonen usw.) "eine sinnstiftende Betrachtung" (S. 56) zugunsten einer abstrahierenden Betrachtungsweise immer mehr in den Hintergrund tritt: "Die Naturwissenschaft Biologie abstrahiert von biotischen Phänomenen, denen sie bestimmte Funktionen, insbesondere vor dem Hintergrund der Evolutionstheorie und der klassischen Physik, Maschinentheorie und Informatik zuschreibt. Das, was wir von biotischen Phänomenen als biologische Prozesse interpretieren, setzen wir oft unhinterfragt mit `Natur´ gleich, weil der Naturzugang der Naturwissenschaften unseren allgemeinen Naturzugang, auch den zu unserer Naturwesenheit selbst, dominiert" (S. 55).

Kapitel 3, Vorstellungen von "Natur", entwickelt Beobachtungen über verschiedene Zugänge zu Natur. Dem Befund, daß in einer von der Evolutionstheorie gekennzeichneten Biologie nicht mehr die Frage nach dem Leben, sondern die Frage nach dem Überleben gestellt wird (S. 55), entspricht der Befund, daß in den Naturwissenschaften nicht mehr die Frage nach der Natur gestellt wird ("Was ist Natur?"), sondern die Frage: "Wie erhält sich Natur?" (S. 126): Dazu wird Natur von den Naturwissenschaftlern analysiert. Die Konstruktion von Lösungen, die meist durch Ingenieure erfolgt, orientiert sich dabei an den Antworten der Naturwissenschaft (S. 126), die zwar die natura naturata im Blick hat, nicht aber natura naturans und die "insbesondere durch die Vorreiterrolle der an der Physik orientierten Naturwissenschaften – nichts mehr als Natur ansieht und den Begriff "Natur" aufgeben möchte (S. 61).
Dagegen steht im Alltagsverständnis "Natur" hoch im Kurs. Karafyllis beschreibt dies am Konzept des "Naturprodukts" und analysiert als Fallbeispiel die Nachwachsenden Rohstoffe als Naturprodukte (im Gegensatz zu Kohle, Erdöl, Uran usw.). Sie diskutiert drei Thesen zu den Nachwachsenden Rohstoffen: Sie seien als Pflanzen Bestandteile der Natur; alle aus Pflanzen entstandenen Produkte seien "natürlich", d.h. ökologisch verträglich; sie seien CO2-neutral. Für die Überprüfung und Kritik dieser Thesen bezieht sie sich auf die Abgrenzung von Natur und Technik als Aristotelisches Gegensatzpaar von Zweckfreiem versus Zweckhaftem. Karafyllis verdeutlicht, daß die Grenze, die Aristoteles zog, sich auf die Autonomie des Wachsens bezog und daß das Verhältnis von Technik und Natur sich angesichts der technischen Möglichkeiten der letzten Jahrzehnte so gewandelt hat, daß die Grenze nicht mehr so gezogen werden kann: "Denn schließlich kann das Wachsen nun selbst bis in das Innere des Lebewesens hinein technisch beeinflusst werden" (S.72). Nachwachsende Rohstoffe sind Technikprodukte, wie denn auch das Wachsen des Samenkorns oder das Wachsen von Tieren heutzutage -. spätestens seit dem Beginn der industrialisierten Landwirtschaft - kein naturbelassenes Wachsen mehr ist. Es könne also, sagt Karafyllis, nicht darum gehen, die Agrar- und Forstwirtschaft als technisch und künstlich zu verdammen, nicht zu untersuchen und anzustreben, daß sie natürlich sei, sondern sie daraufhin zu untersuchen, ob sie naturgemäß und naturerhaltend sei (S. 93). Das Fehlurteil, daß Nachwachsende Rohstoffe natürlich seien, hat damit zu tun, daß Natur hier auf quantitatives Wachstum reduziert wird. Diese Reproduktionsprozesse sind steuerbar und manipulierbar, bleiben jedoch an das gebunden, "was von selbst da ist" (G. Böhme, S. 94), was der Mensch nicht erschaffen kann: Natur, "naturwüchsiges Material", "lebenden Rohstoff". In der Debatte um die "Naturprodukte" geht es aber nicht darum, dieses zu schützen, sondern darum, die Nachwachsenden Rohstoffe im Rahmen einer "Technik der angemessenen Naturnutzung" zu beurteilen (S. 131).

Die angemessene Naturnutzung ist nun der Kern des Konzepts der Nachhaltigkeit, welches in Kapitel 4 erörtert wird. Dieses Konzept hatte seinen historischen Ursprung in der Forstwirtschaft seit dem 16. Jahrhundert: "Gott hat die Wäld(er) für den Sazquell erschaffen, auf dass sie ewig wie er kontinuieren mögen; also soll der Mensch es halten: ehe der alte (Wald) ausgehet, der junge bereits wieder zum Verhacken herangewachsen ist" (Reichenhaller Forstordnung von 1661; S. 138). Karafyllis gibt Hinweise zum Verständnis der Entwicklung des Nachhaltigkeitskonzeptes in der Forstwirtschaft und diskutiert die normativen Implikationen der forstlichen Nachhaltigkeit und aktuelle Dimensionen der Nachhaltigkeitskontroversen. Sie macht auf Desiderate in den Wissenschaften aufmerksam, in denen über Nachhaltigkeit und zugehörige Problemkomplexe zu forschen wäre, in der Soziologie (Gesellschaft vs. Natur), Ökonomie (Natur als substituierbarer Kapitalstock), Biologie ("Naturhaushalt" u.a.).

Die Autorin ist Biologin und Philosophin. Das Vergnügen, das die Lektüre ihres Buches bereitet, hat damit zu tun, daß sie die wissenschaftlichen Entwicklungen in den Biowissenschaften in philosophischer und wissenschaftshistorischer Perspektive so erörtert, daß auch jemand, der/die nicht über biologische Fachkenntnisse verfügt (wie ich), in einem facettenreichen und plausiblen Buch biologische Kategorien wie z.B. "Natur" und "Leben", "Wachstum" oder "Zelle" in einen allgemeineren kulturhistorischen Zusammenhang bringen kann. Sie verdeutlicht, wie die vermeintliche Verselbständigung der naturwissenschaftlichen Begrifflichkeit gegenüber ihrer Geschichtlichkeit diskutierbar wird, sie macht aufmerksam auf unbedachte Einstellungen: "Unser zivilisiertes Herz für die Natur schlägt als schon mit Hilfe einer künstlichen Herzklappe" (S. 13). Sie hilft mit ihrem Buch, Ordnung in unsere Vorstellungen über "Leben" und "Natur" zu bringen. Sie bringt auch zum Nachdenken über die Grenzen einer dekonstruktivistischen Behandlung von "Natur". Sie hilft, in den gegenwärtigen Debatten um "Ökologische Krise" und "Nachhaltigkeit" eine Orientierung zu gewinnen. Und dazu ist das Buch gut geschrieben: klar gegliedert, nachvollziehbar strukturiert, gründlich im Ausführen von Argumenten und Gegenargumenten.

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