M. Kißener (Hrsg.): Der Weg in den Nationalsozialismus

Cover
Titel
Der Weg in den Nationalsozialismus. Neue Wege der Forschung


Herausgeber
Kißener, Michael
Erschienen
Anzahl Seiten
256 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Max Bloch, Berlin

Das von dem Herausgeber des vorliegenden Sammelbandes, Michael Kißener (Mainz), formulierte Vorhaben, den Studierenden der Geschichtswissenschaft durch eine Auswahl profunder Forschungstexte eine Handreichung für die Auseinandersetzung mit der Formierungsphase nationalsozialistischer Herrschaft zu geben, ist ein löbliches. Der Untertitel des Buches: „Neue Wege der Forschung“, klingt jedenfalls verheißungsvoll. Tatsächlich sind hier jedoch Texte aus einem halben Jahrhundert Forschungsgeschichte, beginnend mit Karl-Dietrich Brachers sicherlich bahnbrechenden Studien von 1956, versammelt. Kein Ausblick also, sondern ein Rückblick wird hier geboten.

So lohnenswert ein solcher Rückblick auch erscheint, so fraglich ist, ob er seinem selbstgesteckten Anspruch, orientierend zu wirken, zu genügen versteht. Forschungsgeschichte ist immer auch Streitgeschichte, und eine gewisse Vielstimmigkeit prägt somit auch die vorliegenden Beiträge. Ein Beispiel dafür bietet die Behandlung der bis heute kontrovers diskutierten Reichstagsbrandstiftung: Während Ulrich von Hehl aus seiner sehr profunden, zurückhaltenden und sachlich argumentierenden Bilanz – oder besser doch: Zwischenbilanz – der Forschungsdiskussionen den Schluss zieht, dass die „Brandlegung durch den holländischen Wandergesellen Marinus van der Lubbe (...) unbestrittene und unbestreitbare Tatsache“ sei (S. 105), plädieren Peter Steinbach und Konrad Repgen dafür, dass die Brandstiftung „wahrscheinlich ein Werk Görings und seiner Helfer“ (S. 169f.) war. Auch für Bracher steht die Urheberschaft der Nationalsozialisten fest. Wird dadurch die den Studierenden in Aussicht gestellte Orientierung nun aber erleichtert oder erschwert, wenn einander gänzlich widersprechende Aussagen unkommentiert nebeneinander stehen? Ganz abgesehen davon, dass nach von Hehls und Repgens Beiträgen (beide von 1988) und Steinbachs Aufsatz von 2002 auch neuere Arbeiten zu diesem Thema vorliegen.

Der erste Abschnitt des Buches setzt sich in den Beiträgen von Horst Möller und Norbert Frei (beide aus dem Jahr 1983) mit dem Revolutionsbegriff auseinander: War Hitlers „nationale Revolution“ eine wirkliche Revolution oder aber – wie der von den nationalsozialistischen Skribenten bevorzugte Begriff lautete – eine „Machtübernahme“? Wie penibel auch Hitler selbst darauf achtete, durch die Verwendung dieses Begriffs den Schein der Legalität zu erwecken und den Eindruck einer revolutionären „Machtergreifung“ zu zerstreuen, arbeitet Frei in seinem Beitrag überzeugend heraus. Damit ist freilich über den tatsächlichen Charakter der Ereignisse noch nichts gesagt. Für Möller, der Theodor Geigers Revolutionsmodell auf sie anwendet, ist der Befund eindeutig: „Die NS-Machtergreifung war eine Revolution“ (S. 24). Die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler sei der einzig verfassungsrechtlich korrekte Akt dieses ansonsten von revolutionärer, totalitärer und zerstörerischer Dynamik geprägten Dramas gewesen. Dem widerspricht Konrad Repgen, wenn er selbst die Kassierung der Reichstagsmandate der KPD und die Verhaftung ihrer Funktionäre im Vorfeld der Reichstagseröffnung als verfassungskonforme (!) Gewaltakte bezeichnet, da die Immunität der Abgeordneten nur in den Sitzungsperioden garantiert, mit der Auflösung des Reichstags somit hinfällig geworden sei. Einen ausgleichenden Standpunkt nehmen Bracher und Steinbach ein, wenn sie das „Wechselspiel von revolutionärer Gleichschaltung und scheinrechtlicher Legalisierung“ (Bracher, S. 60), die „Vermengung legalistischer und verfassungsrevolutionärer Maßnahmen“ (Steinbach, S. 71) in den Kreis ihrer Überlegungen ziehen. Auch hier wird der Studierende ratlos im Wald der Meinungen ausgesetzt.

Konsistenter wird das Buch, sobald es um die Ereignisgeschichte geht. Ausschnitte aus Rudolf Morseys Standardwerk über den „Untergang des politischen Katholizismus“ von 1977 und Hans J. L. Adolphs Otto-Wels-Biographie von 1971 beschreiben die Diskussionen um das sogenannte „Ermächtigungsgesetz“ in SPD und Zentrum, während ein Ausschnitt aus Peter Longerichs 2003 erschienener „Geschichte der SA“ die Ereignisse des 30. Juni 1934 nachzeichnet. All die genannten Bücher gehören nun aber zum Grundbestand jeder ernst zu nehmenden historischen Bibliothek, und der Wiederabdruck der entsprechenden Kapitel mag den Autoren eine verdiente Ehre sein, Neuigkeitswert hat er nicht. Von großem Interesse ist jedoch der Wiederabdruck der 2001 von Andreas Wirsching in den „Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte“ edierten Hitler-Rede vor den Spitzen der Reichswehr am 3. Februar 1933, in der er den militärischen Führern weitgehende Autonomie als „einzige Waffenträger des Staates“ garantierte sowie seine weitgesteckten Ziele einer Eroberung und Germanisierung von „Lebensraum im Osten“ skizzierte – eine für das Verständnis der Ziele und Methoden Hitlers sicherlich zentrale Quelle, die auch das Herzstück von Hans-Magnus Enzensbergers 2008 erschienener Literarisierung abgibt.1 Völlig zu Recht konstatiert Wirsching, dass in dieser Rede schwerlich etwas anderes zu sehen sei „als die konkrete und durchaus programmatische Absicht“ Hitlers, der alle Vorsicht „für einen Moment lang fahren ließ und tatsächlich – möglicherweise spontan – seinen 'innersten Gedanken' und seine durchaus konkreten Absichten offenbarte“ (S. 206f.).

Alles in allem ist der Eindruck des Buches also ein zwiespältiger. Während zum einen durchaus wichtige und bis heute gültige Beiträge zur Geschichte der Konsolidierung der nationalsozialistischen Herrschaft 1933/34 geboten werden, mutet die Auswahl der Beiträge andererseits willkürlich an. Neues wird nicht gebracht, und ein bloßer Verweis auf die hier zitierte Literatur wäre für die Studierenden vielleicht wertvoller gewesen als ein nur ausschnitthaftes Hineinlesen, wie es der vorliegende Sammelband bietet. Und – um den Klagen eine noch hinzuzufügen – für ein für Studierende gedachtes und konzipiertes Buch, ein 246 Seiten starkes Taschenbuch (!), sind 39,90 Euro ein, gelinde gesagt, stolzer und eigentlich kaum zu vertretender Preis.

Anmerkung:
1 In Hans Magnus Enzensberger, Hammerstein oder Der Eigensinn. Eine deutsche Geschichte, Frankfurt am Main 2008, S. 116-122, ist die Quelle in der von Wirsching präsentierten Fassung abgedruckt.

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