B. Cunliffe: Europe Between the Oceans

Cover
Titel
Europe Between the Oceans. Themes and Variations: 9000 BC-AD 1000


Autor(en)
Cunliffe, Barry
Erschienen
Anzahl Seiten
518 S.
Preis
$ 39.95
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Svend Hansen, Eurasien-Abteilung des Deutschen Archäologischen Instituts

Ein Buch, das einen so großen Zeitraum behandelt, muss Aufsehen erregen. Der Bogen wird von den nacheiszeitlichen Jägergesellschaften über die ersten Bauern, das Aufkommen der Metallurgie, die bronzezeitliche Palastkultur, das römische Reich bis zu den Wikingern und zu den mittelalterlichen Staaten gespannt. Der Autor, Professor für Europäische Archäologie an der Universität Oxford, hat in der Vergangenheit mehrere vergleichbar groß angelegte Studien vorgelegt. 1994 war er Herausgeber der "Oxford Illustrated Prehistory of Europe", die 1996 auch in deutscher Übersetzung erschien. Es ist natürlich, dass der Autor dabei seinen Interessen und eigentlichen Spezialgebieten folgende Schwerpunkte setzt.

Dieser große Zeitraum, für dessen größten Teil keine und für den anderen nur vergleichsweise wenige schriftlichen Quellen existieren, so dass man im Wesentlichen auf archäologische Quellen angewiesen ist, lässt sich nur unter einer besonderen Perspektive beleuchten. Cunliffes Ausgangspunkt ist die Herausbildung der globalen Dominanz Europas im Verlauf des zweiten nachchristlichen Jahrtausends (S. VII). Was Europa so einflussreich machte, war nach Cunliffe die Ruhelosigkeit seiner Bewohner, ihre Mobilität und die Meere, natürliche Verkehrswege, welche die Mobilität erleichterten. Die Entdeckungen des 15. Jahrhunderts öffneten die Welt, Entrepreneurs etablierten Handelsnetze, die der Kolonisierung vorausgingen, welche für mehrere Jahrhunderte die globale Dominanz Europas besiegelte.

Welche Gründe für diese Dominanz in der Prähistorie aufzufinden sein könnten, hatte auch Jared Diamond in seinem Weltbestseller "Guns, Germs and Steel" gefragt. Sein zentrales Argument war, dass die natürliche Begünstigung Eurasiens mit domestizierbaren Großsäugern die Grundlage für die Herausbildung der Landwirtschaft und damit aller weiteren Entwicklungen legte, während sich die Situation auf den anderen Kontinenten wesentlich ungünstiger darstellte. Der Übergang von der wildbeuterischen zur bäuerlichen Lebensweise legte die Grundlage für eine erstaunlich rasche Entwicklung zu sozial stratifizierten Gesellschaften und frühen Staaten. Cunliffe widmet diesem sozial und technisch umstürzenden Prozess (Gordon Childe nannte ihn die "Neolithische Revolution") nur eine kurze Beschreibung und dies ist symptomatisch für das Buch insgesamt. Denn Cunliffe nimmt weniger die Voraussetzungen für den Erfolg der bäuerlichen Lebensweise in den Blick, z. B. die Diversität der domestizierten Tiere und Pflanzen, welche es später möglich macht, in ganz unterschiedlichen Ökozonen Landwirtschaft zu betreiben. Er spricht kaum über die sozialen Dynamiken in den frühen bäuerlichen Gesellschaften. Umso ausführlicher beschreibt er die Ausbreitung der bäuerlichen Lebensweise aus dem Kerngebiet in der Levante und in Südostanatolien nach Westen, wobei er vor allem über den Seeweg und kaum über die natürliche Landbrücke Anatolien spricht, deren Bedeutung für die Neolithisierung Südosteuropas unverkennbar ist. Während die Ausbreitung der bäuerlichen Wirtschaftsweise meist mit ökonomischem Druck, resultierend aus Überbevölkerung und Bodenauslaugung, erklärt wird, fragt Cunliffe, ob sich hier nicht echter Pioniergeist zeige, wissen zu wollen, was westwärts liege: Neugier als Antriebsfeder für Mobilität. Auch religiöse Motive möchte Cunliffe im Fall des westeuropäischen Neolithikums nicht ausschließen.

Den Fokus der Betrachtung auf die Bedeutung von Mobilität von Menschen für das Verständnis historischer Prozesse zu legen, ist sicher keine neue Perspektive, aber eine, welche heute große Hoffnungen in den Einsatz naturwissenschaftlicher Untersuchungen setzt. Vor allem DNA- und Strontiumisotopen-Untersuchungen prähistorischer Skelette sollen detailliertere Aussagen über den Anteil zugewanderter Menschengruppen an der indigenen Bevölkerung und deren Herkunft erlauben. Um die Bedeutung der Mobilität für die europäische Geschichte zu erläutern, erwähnt Cunliffe die Flüchtlingsströme der sephardischen Juden und der Hugenotten oder die Emigration von Menschen nach Amerika im 19. Jahrhundert und die Einwanderungs- und Auswanderungszahlen für Großbritannien 2006. Die 959000 Migranten, welche die Insel verlassen oder erreicht haben, geben einmal eine quantitative Vorstellung: sie bilden gemessen an der Gesamtzahl der Bevölkerung knapp 6 % und der Leser wüsste natürlich gerne, ob in den vom Autor behandelten Zeiten mit einem vergleichbar "hohen" Anteil von Mobilität zu rechnen ist.

Im fünften und vierten Jahrtausend wurden mit dem Aufkommen der Kupfer- und Goldmetallurgie, des Wagens und der Pferdedomestikation nach Cunliffe die Grundlagen für die Herausbildung überregionaler Austauschnetze gelegt, in denen Ideen und Glaubensvorstellungen sich ausbreiten konnten und zur kulturellen Ähnlichkeit größerer Teile Europas beitrugen. Die megalithischen Anlagen Westeuropas sind ein eindrucksvolles Beispiel für diese Sichtweise. Doch fragt man bei alledem eben auch, welche innere soziale Dynamik denn die bäuerlichen Gesellschaften angetrieben haben mag, in nur wenigen Jahrhunderten Tausende von megalithischen Grabanlagen zu errichten. Die im dritten Jahrtausend von der Wolga bis zum Rhein reichende schnurverzierte Keramik wird vor allem als ein soziales Phänomen gedeutet und nicht mit Migrationen in Verbindung gebracht, wie dies noch vor wenigen Jahrzehnten unter dem Stichwort der "Indoeuropäisierung" üblich war. Besonders im 3. Jahrtausend verdichtet sich auch die Kommunikation in dem von den Karpaten bis zum Kaukasus und bis Mittelasien reichenden Steppenraum, welche für die Geschichte Europas von erheblicher Bedeutung ist. Um die spätere Herausbildung der bronzezeitlichen Palastkultur des Ostmittelmeerraumes zu verstehen, hätte der Leser sich an dieser Stelle einen Ausblick nach Mesopotamien und Ägypten gewünscht, wo die ersten Städte und Staaten sowie ganz neue Kulturtechniken entstanden, welche bereits im 4. und 3. Jahrtausend v. Chr. wesentliche Konsequenzen für die europäische Entwicklung besaßen. Den auf dem Buchumschlag prominent abgebildeten kleinen goldenen Stier aus dem Grab von Majkop in nordwestlichen Kaukasusvorland (um 3500 v. Chr.) wird man ohne Einbeziehung der südlich angrenzenden Gebiete in Transkaukasien und Nordmesopotamien nicht einordnen können. Die Steppe spielte später in der Bronzezeit, vor allem mit den Skythen im ersten Jahrtausend, eine wesentliche Rolle, was möglicherweise hätte stärker ausgelotet werden können, denn bereits mit den Skythen, besonders aber im Frühmittelalter, öffnete sich die politische und kulturelle Perspektive bis weit nach Mittelasien. Der Steppenraum müsste den vornehmlich maritimen Schwerpunkt des Buchs ausbalancieren: Die Akteure des ersten Jahrtausends, Hunnen, Awaren oder Ungarn, würden überraschende Ausblicke in den Osten erlauben.

Das Buch ist ein beeindruckender Versuch, die Antriebskräfte der vor- und frühgeschichtlichen Entwicklung Europas zu beschreiben, wenngleich der westeuropäische bzw. atlantische Blickwinkel, aus dem dies geschieht, unübersehbar ist. So besteht das umfangreiche Literaturverzeichnis beinahe ausschließlich aus englischsprachigen Titeln. Für den insularen Buchmarkt mag das funktional sein, für den kontinentalen Leser ist es jedoch befremdlich und auch den britischen Studenten vermittelt es die falsche Hoffnung, allein mit englischsprachiger Literatur könne man sich Grundwissen über die europäische Vorgeschichte aneignen. Denn eines der Ergebnisse der Mobilität, die Cunliffe beschreibt, ist die Vielsprachigkeit, die sich auch in der archäologischen Literatur niederschlägt. Mit den beispielsweise für Kapitel 6 "Europe in Her Infinite Variety" angeführten Titeln kann man sich die Zeit von 4500 bis 2800 v. Chr. auf einem wissenschaftlich aktuellen Niveau nicht erschließen.

Die Vor- und Frühgeschichte Europas unter dem Aspekt der (maritimen) Mobilität aus einer gleichsam von außen auf das kontinentaleuropäische Geschehen gerichteten Perspektive zu erzählen, eröffnet dem Leser die Möglichkeit, über die Kontinuitäten hinaus, das Beständige wahrzunehmen und über das sich nicht Bewegende nachzudenken. Die Verbreitungskarten unterschiedlicher Phänomene lassen immer wieder quer durch die Zeiten die wichtigsten Interaktionsräume Europas erkennen und erlauben es dem Leser, bequem Bezüge zwischen den Zeiten, zwischen den Jahrtausenden herzustellen.

Dass Mobilität von Menschen ein wichtiger Faktor der Verbreitung von Techniken und Ideen, der Veränderung der sozialen und politischen Verhältnisse ist, hat bereits Childe immer wieder betont. Zuwenig deutlich wird freilich, welche sozialen Prozesse denn Mobilität in konkreten historischen Situationen überhaupt in Gang setzten, förderten oder erzwangen und wie die unterschiedlichen Motive für Mobilität auch unterschiedliche Wirkungen erzielten.

Doch diese Einwände sollen keineswegs die Bedeutung des Buches schmälern. Cunliffe ist ein großartiges Buch gelungen, das durch seine Gedankenfülle anregt, in verschiedene Richtungen weiterzudenken. Die Frühgeschichte Europas vom Mesolithikum bis in das Frühmittelalter unter einem bestimmten Gesichtspunkt und im Hinblick auf die spätere Entwicklung zu erzählen, ist eine imponierende Leistung. Dies in offener und eleganter Form getan zu haben, verdient unsere Bewunderung.

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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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