B. Schreyer: "Nation" als Zauberwort der Moderne

Titel
Die "Nation" als Zauberwort der Moderne. Nationales Denken im Liberalismus, Konservatismus und bei den Völkischen im 19. Jahrhundert


Autor(en)
Schreyer, Bernhard
Reihe
Spektrum Philosophie 32
Erschienen
Würzburg 2008: Ergon Verlag
Anzahl Seiten
XII, 268 S.
Preis
€ 37,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Julia Schmid, Tübingen

Dass das Forschungsfeld Nation / Nationalismus / Nationalstaat insgesamt ebenso wie der deutsche Nationalismus im 19. Jahrhundert ein breit bearbeitetes Themenfeld darstellt, muss an dieser Stelle nicht näher ausgeführt werden. Umso größere Aufmerksamkeit richtet sich auf diejenigen Wissenschaftler, die dem bereits differenzierten Blick auf Nationalisierungsprozesse und Nationsvorstellungen neue Aspekte hinzufügen wollen.

Ziel Bernhard Schreyers ist es in seiner Dissertation, die er im Bereich der politischen Ideengeschichte angesiedelt wissen will, „die mannigfaltigen Ausprägungen“ deutschen nationalen Denkens im 19. Jahrhundert darzustellen sowie deren Antworten auf die Herausforderung der Moderne und ihre „politiktheoretischen sowie politischen Konsequenzen“ zu analysieren und zu diskutieren (S. 3). Dabei geht es für den Politologen nicht nur um die Analyse, sondern ebenso um die Beurteilung der verschiedenen Formen des Nationsverständnisses entlang der Frage nach den jeweiligen Konsequenzen für die Stabilität eines darauf gründenden politischen Systems. Darüber hinaus hat Schreyer aber auch ein größeres Anliegen: Im Fundus deutscher Ideengeschichte ist er auf der Suche nach einem „offenen und individuellen“ (S. 245) Konzept der deutschen Nation, das sich mit dem heutigen demokratischen System in Einklang bringen lässt und im Zeitalter der Globalisierung wichtige Integrationsarbeit leistet.

Während sich die Gliederung der etwa 250 Seiten umfassenden Arbeit auf fünf Seiten erstreckt, diese also sehr kleinteilig aufgebaut ist, kann Schreyer die Frage nach Methode und Quellenbasis auf einer Seite klären: Seine Herangehensweise ist die „qualitative Auswertung von Parteiprogrammen“ (S. 6). Wie die weitere Lektüre zeigt, beschränkt sich die Quellenbasis im Großen und Ganzen auf den ersten Teil der Sammlung deutscher Parteiprogramme von Wilhelm Mommsen.1 Eine fragwürdige und leider auch nicht belegte These vertritt Schreyer, wenn er das nationale Denken des „theoretischen und parteilichen Sozialismus“ und des politischen Katholizismus für seine Untersuchung ausschließt: Diese bildeten „keine neuen Typen des nationalen Denkens aus“, sondern seien vielmehr „’nur’ abgeleitet“ von liberalen, konservativen und völkischen Nationsvorstellungen (S. 8).

Die jüngere Nationalismusforschung hat sich bereits seit den 1980er-Jahren von historischen Typologisierungen abgewandt, deren geringen Erkenntniswert mit Blick auf ein derartig komplexes Untersuchungsfeld erkennend.2 Entgegen dieser Richtung ist es Ziel dieser Arbeit, die verschiedenen Formen des ‚nationalen Denkens’ – treffender wäre es, von Nationskonzepten zu sprechen – in eine dichotomische strukturelle und eine funktionale Typologie einzuordnen, die Schreyer auf den ersten 70 Seiten seines Buchs ausführlich erläutert und mit dreidimensionalen Modellen veranschaulicht. Die Wertigkeit der Nation, ihre Integrationsstruktur sowie ihr Entfaltungsanspruch sind Parameter des strukturellen Modells. Die Erfüllung der Legitimations- und Integrationsleistung sowie der Leistungsmobilisierung für den politischen Verband in den liberalen, konservativen und völkischen Nationsvorstellungen soll die funktionale Typologie klären. Schließlich soll das Modernisierungspotential bewertet werden.

Obwohl Schreyer durchaus von einem „Konzept“ Nation spricht und pflichtschuldig Benedict Anderson zitiert, bleibt ihm die moderne Nationalismusforschung offensichtlich fremd. Seine Bezugspunkte sind Friedrich Meinecke, Hans Kohn und Peter Alter. Während sich die Nationalismusforschung bereits vor geraumer Zeit von der Vorstellung verabschiedet hat, bei der Nation handle es sich um eine primordiale, an ‚objektiven’ Kriterien wie Ethnikum oder Sprache erkennbare politisch-soziale Einheit, und während bereits Ernest Gellner 1983 deutlich machte, dass Nationen erst durch den Nationalismus hervorgebracht werden und nicht umgekehrt3, ist für Schreyer die Frage nach dem „vorgängigen Vorhandensein einer Nation oder dem dazugehörigen nationalen Denken selbst“ (S. 25f.) nicht zu beantworten.

Den Hauptteil der Arbeit, die Analyse liberaler, konservativer und völkischer Nationskonzepte, führt Schreyer ein mit einer Zusammenstellung von Grundmotiven des politischen Denkens der Nation im nicht näher definierten Deutschland des 19. Jahrhunderts. Kontextuell eingeordnet werden diese auf Schlagworte und Namen reduzierten Motive dabei nur vage. Sie bilden nach Schreyers Verständnis vielmehr einen bis zur Jahrhundertmitte entwickelten Ideenfundus, aus dem nun durch unterschiedliche Kombination alle deutschen Nationskonzepte abgeleitet werden können. „Pflicht“ (Kant), „Urvolk“ (Fichte) und „geschichtliche Mission“ (Hegel) ergeben so in der Addition etwa ein totalitäres Nationskonzept, während aus „Pflicht“ kombiniert mit „Freiheit“ (Schiller) und „Humanität“ (Herder) genau das Gegenteil ableitbar sei (S. 90).

Die Untersuchung liberaler, konservativer und völkischer Nationsvorstellungen entlang der erarbeiteten Typologie, die sich auf die Zeit 1871-1914 konzentriert, krankt im Kern an der weitgehenden Nichtbeachtung einschlägiger Literatur und an der sehr geringen Quellendichte. Die Konsequenzen, die sich zwangsläufig daraus ergeben, sind die durchgehend mangelnde kontextuelle Verortung von Personen, Zitaten und Ereignissen sowie inhaltliche Verkürzungen und Verallgemeinerungen. Einzelne Quellenzitate – nicht selten wiederum aus Gesamtdarstellungen oder Handbüchern zitiert – werden kontextlos wiedergegeben und als repräsentativ etwa für ‚das nationale Denken im Linksliberalismus’ präsentiert. So wird beispielsweise Treitschkes Antisemitismus als prototypisch für den Nationalliberalismus erklärt, woraus wiederum eine ‚geschlossene Integrationsstruktur’ der „rechtsliberalen Kulturnation“ (S. 105f.) gefolgert wird. Ungenaues wissenschaftliches Arbeiten und lückenhaftes Grundwissen im Themenfeld gehen etwa dann eine verhängnisvolle Kombination ein, wenn Schreyer den langjährigen Vorsitzenden des ‚Alldeutschen Verbandes’ Ernst Hasse (nicht Haase!) zitiert, der ihm allerdings offensichtlich nur als nationalliberaler Abgeordneter bekannt ist (S. 104f.). Dies ist umso erstaunlicher, gehört der radikalnationale ‚Alldeutsche Verband’ für den Autor doch zu „den“ ebenso untersuchten „Völkischen“. Deren Komplexität, die unter anderem Uwe Puschner herausgearbeitet hat4, wird Schreyer in der undifferenzierten Zusammenstellung von radikalen Nationalisten, antisemitischen Parteien, Richard Wagner oder ‚Deutschchristen’ in keinem Fall gerecht. In diesem Kapitel mit dem pathetischen Titel „Irrweg an den Abgrund“ kann Schreyer schließlich auch seine moralische Empörung nicht mehr verbergen. Der Brückenschlag zum Nationalsozialismus, der Verweis auf die „programmatische Kontinuität“ von „den Völkischen“ zum Nationalsozialismus, ist kaum überraschend (S. 240).

Hier findet auch die teleologisch anmutende Binnenstruktur der Analyse nationalen Denkens ihren Endpunkt. Was mit dem linksliberalen Ideal eines offenen, individuellen und damit demokratischen Nationsverständnisses begann, führt über die vom rechten Weg abtrünnigen Rechtsliberalen und die Konservativen, deren nationales Denken „in erster Linie der Legitimation und der Sicherung des preußisch-hohenzollerischen Herrschaftsanspruchs über Kleindeutschland“ (S. 170) gedient habe, zur völligen Perversion im totalitären Nationsbegriff der Völkischen. Normativ verwendete Bewertungsmaßstäbe der Gegenwart und die stets unterschwellig präsente Suche nach einem Nationskonzept, das sich zur historischen Traditionsstiftung eignet, führen in dieser Untersuchung zur polarisierenden und moralisierenden Unterscheidung historischer Nationsvorstellungen entlang der Dichotomie ‚gut’, liberal-demokratisch versus ‚schlecht’, aggressiv-totalitär. Welches der vorgestellten Nationskonzepte für die Gegenwart am ehesten als Modell dienen könnte, ist dabei nicht nur dem Leser, sondern auch Schreyer bereits vor der Anwendung seiner Typologie im Zentrum der Arbeit deutlich, so dass sich die Frage nach deren Relevanz stellt. Letztlich wird hier in historischem Gewand die Wiederbelebung eines liberalen, demokratischen Nationsverständnisses als Antwort auf die Herausforderung der neuen Moderne, der Globalisierung, propagiert (S. 49, 243-246).

Ein tieferes historisches Verständnis deutscher Nationsvorstellungen im 19. Jahrhundert kann diese stark vereinfachende und schematische Typologisierung von Parteiprogrammatik nicht vermitteln, wie die abschließende Zusammenfassung der Ergebnisse durch Schreyer selbst nochmals deutlich macht: Nationales Denken im 19. Jahrhundert sei „vielgestaltig“ gewesen und es habe „immer ganz unterschiedliche diesbezügliche Ideen“ gegeben (S. 239, 237). Darüber hinaus seien sowohl Kontinuitäten, als die er den Antisemitismus ansieht, als auch Diskontinuitäten zu beobachten. Die drei untersuchten Richtungen deutscher Nationskonzepte stünden außerdem für „unterschiedliche Grundmodelle im Verhältnis von Nation und Moderne“ (S. 239).

Anmerkungen:
1 Wilhelm Mommsen (Hrsg.), Deutsche Parteiprogramme, München 1960, S. 8-421.
2 Vgl. hierzu etwa Siegfried Weichlein, Nationalismus und Nationalstaat in Deutschland und Europa. Ein Forschungsüberblick, in: Neue Politische Literatur 51/2-3 (2006), S. 265-351, v.a. S. 270-272; Rolf-Ulrich Kunze, Nation und Nationalismus, Darmstadt 2005, v.a. S. 27, 110.
3 Ernest Gellner, Nations and Nationalism, New York 1983.
4 Uwe Puschner u.a. (Hrsg.), Handbuch zur „Völkischen Bewegung“ 1871-1918, München 1996; Uwe Puschner, Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich. Sprache – Rasse – Religion, Darmstadt 2001.