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Titel
Prime forme della storiografia greca. Prospettiva locale e generale nella narrazione storica


Autor(en)
Porciani, Leone
Reihe
Historia-Einzelschriften 152
Erschienen
Stuttgart 2001: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
156 S.
Preis
€ 35,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Sommer, Orientalisches Seminar, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Hekataios von Milet - Herodot - Thukydides: In einem Dreiklang gewann für Felix Jacoby die griechische Historiographie, wohlverstanden als eigenständige griechische Kulturleistung, Gestalt. Unterwarf "Hekataios den Glauben an die Tradition der an der Beobachtung geschulten Kritik der Vernunft",1 so wandte sich zuerst Herodot jenen Zeiten zu, "an die Mitlebende sich noch erinnern, mit dem ausgesprochenen Zwecke, nicht Vorhandenes zu kritisieren, sondern zunächst einmal die Überlieferung zu sammeln und dadurch die Erinnerung an die Ereignisse festzuhalten für die Nachwelt."2 Mit Thukydides und seiner methodologischen Fundierung der Historiographie endlich erreichte "die antike Geschichtsschreibung ... die ihr von der Natur gesteckte Grenze und damit das Ziel ..., nach dem die Entwicklung hinstrebte."3 Wie ein großer erratischer Block ragt in der Sichtweise Jacobys die "große Historiographie" herodoteisch-thukydideischer Prägung heraus: Sie erst regte eine Fülle lokaler Geschichtsschreibungstraditionen, die der sogenannten Logographen, an, ihr gebührt der chronologische wie qualitative Primat.4

Die Herausforderung der Jacobyschen These hat jetzt, keineswegs zum ersten Mal, aber in ebenso dichter wie weitgespannter, von der Geschichtsphilosophie Benedetto Croces nicht weniger als von Theorien der oral history inspirierter Analyse, Leone Porciani, Altertumswissenschaftler an der Scuola Normale in Pisa, angenommen. Sein Interesse gilt nicht den "Quellen" der praxeis Hellenikai, sondern ihren gattungsgeschichtlichen Voraussetzungen: Nicht die Inhalte übernahmen die Autoren der "großen Historiographie" von ihren Vorgängern, wohl aber deren Kategorien (S. 131). Abweichend von bzw. ergänzend zu einschlägigen Arbeiten, die in Anlehnung an Jacoby meist das Epos als ersten und entscheidenden Schritt zur Genese eines autonomen historiographischen Genos werteten,5 verortet Porciani wichtige Anknüpfungspunkte in der oral tradition lokaler Geschichtserinnerung und vor allem in der Gattung des öffentlichen Totengedenkens (logos epitaphios). Beide bildeten einen gemeinsamen Traditionsstrang, in dem der Nukleus zur panhellenischen Geschichtsschreibung der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts v.Chr. reifte (S. 127).

Die Suche nach Frühformen der griechischen Historiographie führt unvermeidlich zurück auf einen Passus bei Dionysios von Halikarnaß, der auf Erinnerungen (mnemai) und Schriften (graphai) verweist, derer sich die "alten Geschichtsschreiber" (archaioi syngrapheis) bedienten (Dion. Hal. Thuk. 5,3). In dieser Gruppe faßt Dionysios jene Autoren zusammen, die Lokalgeschichtsschreibung betrieben und die er zeitlich vor Herodot und Thukydides ansetzt (darunter Euagon von Samos, Eudemos von Paros, Hekataios von Milet, Hellanikos von Lesbos und Xanthos der Lyder). Porciani geht in seiner Studie beiden Hinweisen nach, zunächst im 1. Teil ("Prospettiva locale e generale nella scrittura della storia") den graphai. Die Existenz einer schriftlichen vorthukydideischen Lokaltradition steht und fällt mit der Behauptung des Dionysios, die archaioi syngrapheis hätten vor dem Peloponnesischen Krieg gelebt (5,2). Will man daraus keine Glaubensfrage machen,6 so muß man mit Porciani den Quellen des Berichts nachspüren. Er sucht sie, in der Sache durchaus plausibel, zunächst im Bereich der alexandrinischen hypomnemata-Literatur (S. 44-47), sodann in einem "strato teofrasteo" (48) der Aufzählung. So einleuchtend diese philologisch-motivgeschichtliche Rekonstruktion des Dionysios-Textes insgesamt auch ist - es bleibt, und dessen ist sich Porciani bewußt, als Problem, daß sich eine Kenntnis der Logographen bei Herodot nicht nachweisen läßt (S. 62f.).

Ihre Stärken kann die Studie daher auch erst im 2. Teil ("Radici locali di una storia orale") entfalten. Fast schon paradox ist, daß der Nachweis gattungsgeschichtlicher Kontinuität in der mündlichen Überlieferung der mnemai überzeugender gelingt als die in der Aporie endende Suche nach den vorthukydideischen graphai. Die konzeptionellen Leitlinien der "großen Historiographie" - das metrios eipein, die Verpflichtung zur Wahrhaftigkeit, das Sich-Messen an den Vorfahren - erkennt Porciani im logos epitaphios wieder. Das Argument geht nur auf, wenn man sich mit dem Verfasser dafür entscheidet, die Authentizität des berühmtesten auf uns gekommenen logos epitaphios, der Grabrede des Perikles auf die gefallenen Athener bei Thukydides, anzuerkennen.

Dafür, daß die Rede des Perikles die Matrix für Thukydides war - und nicht etwa umgekehrt - macht Porciani aber immerhin gute Argumente namhaft (S. 73-79). So rekonstruiert er für die postkleisthenische polis einen Diskurs mit nachgerade klassischen motivischen Konstituentien - namentlich der "schöne Tod" (kalos thanatos) auf dem Schlachtfeld im Dienst der polis, von Aischylos und Pindar über Herodot bis Thukydides -, in den sich die Geschichtsschreibung nahtlos einfügte. Gerade nicht erratischer Block, bezog die Historiographie ihren Sinn aus dem Bedürfnis der polis-Gesellschaft nach einem "repertorio di regole" (S. 114): Die Regeln stellten ihr Relevanz durch ihre Kontinuität in der langen Dauer eindringlich unter Beweis, die Kontinuität erhellte aus der Kenntnis der Geschichte. Erst in der ideologisch, politisch und mental integrierten Gruppe der polis-Bürger erwachte die Nachfrage nach historischer Erinnerung.

So verschwimmen die von Jacoby so strikt gezogenen Gattungsgrenzen: Sie lösen sich auf in einer "koine" der Methode und der Kategorien (S. 131). Klio sprach durch den Mund des attischen Grabredners Perikles, so wie sie Herodot und Thukydides die Feder führte.

Anmerkungen

1 Felix Jacoby: Griechische Geschichtsschreibung, in: Ders.: Abhandlungen zur griechischen Geschichtsschreibung, hrsg. v. Herbert Bloch, Leiden 1956, S. 73-99, hier 76 (zuerst in: Die Antike 2, 1926, S. 1-29).
2 Ebd., 82.
3 Ebd., 95.
4 Felix Jacoby: Über die Entwicklung der griechischen Historiographie und den Plan einer neuen Sammlung der griechischen Historikerfragmente, in: Abhandlungen (wie Anm. 1), S. 16-64, hier 49-51 (zuerst in: Klio 9, 1909, S. 80-123). Zu den Logographen grundlegend F. Creuzer: Die historische Kunst der Griechen in ihrer Entstehung und Fortbildung, 2. Aufl., Leipzig 1845. Der Begriff stammt von Thukydides (1,21,1) selbst.
5 So Klaus Meister: Die griechische Geschichtsschreibung. Von den Anfängen bis zum Ende des Hellenismus, Stuttgart 1990, 13-15; Otto Lendle: Einführung in die griechische Geschichtsschreibung. Von Hekataios bis Zosimos, Darmstadt 1992, 3: "Als Hauptwurzel der griechischen Historiographie darf wohl das archaische Epos angesprochen werden ..."
6 Gegen die Glaubwürdigkeit des Berichts und für eine Herabdatierung der Logographen in die Zeit nach Thukydides ohne Belege Felix Jacoby: Charon von Lampsakos, in: Abhandlungen (wie Anm. 1), S. 178-206, hier 179; pro Santo Mazzarino: Il pensiero storico classico, Bd. 1, Bari 1966, 98: "l'eccelente elenco di storici antichissimi".

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