J. Kořalka: František Palacký (1798-1876)

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Titel
František Palacký (1798-1876). Der Historiker der Tschechen im österreichischen Vielvölkerstaat


Autor(en)
Kořalka, Jiří
Reihe
Studien zur Geschichte der Österreichisch-Ungarischen Monarchie 30
Anzahl Seiten
609 S.
Preis
€ 76,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Steffen Höhne, Kulturwissenschaft, Hochschule für Musik Franz Liszt

Eine Biographie František Palackýs findet ihre Begründung schon in der wissenschaftshistorischen, erst recht in der politischen Bedeutung, die dem Otec národa im Hinblick auf die böhmisch-tschechische, aber auch auf die europäische Geschichte zukommt, prägte der Historiker Palacký doch nicht nur ein bis heute wirkungsmächtiges tschechisches Selbstbild – er konstruierte den Tschechen gewissermaßen ein kollektives Gedächtnis – sondern er war auch maßgeblich an der Durchsetzung von Vorstellungen eigenständiger kleiner Nationen beteiligt, die als wichtiger Bestandteil Europas eine Rolle spielen sollten. In der Existenz kleiner, in konfessioneller und nationaler Hinsicht toleranter Nationen, die ihre volle staatliche Unabhängigkeit zunächst nicht erreichen konnten, sah Palacký das natürliche Gegengewicht gegenüber einer fortschreitenden Unifizierung und Nivellierung der modernen Welt. In diesem Kontext avancierte der Austroslawist Palacký, der seine Werke zunächst in deutscher Sprache schrieb, zu einem vehementen Apologeten der Idee der österreichischen Vielvölkermonarchie und einem Anhänger einer föderalistischen Ordnung in Mitteleuropa, eine Konzeption, die er, der „Böhme slawischen Stammes“, den großdeutsch-imperialen Entwürfen der Paulskirche entgegenhielt. Eingeladen als Abgeordneter an der nationaldeutschen Verfassung mitzuwirken, verweigerte sich Palacký mit einem berühmten offenen Brief, in dem er die Notwendigkeit der Existenz Habsburg-Österreichs gegen imperiale russische und deutsche Ambitionen und zum Wohle der kleinen Völker Mitteleuropas schlüssig nachwies. Sein berühmtes Credo lautete: „Wahrlich, existirte der österreichische Kaiserstaat nicht schon längst, man müsste im Interesse Europas, im Interesse der Humanität selbst, sich beeilen, ihn zu schaffen.“1

Es ist also ein höchst wichtiges Unterfangen, dass die Biographie von Jiří Kořalka aus dem Jahre 1998 nun endlich auch in deutscher Sprache vorliegt. Kořalka, von dem eine Reihe fundierter Studien zur böhmischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts vorliegen2, geht in seiner biographischen Annäherung chronologisch vor, einsetzend mit den „Lehr- und Wanderjahren“ Palackýs (1798-1823). Es folgen die Jahre, in denen Palacký mit seinen vielfältigen historischen Studien zum „Geschichtsschreiber der Nation“ wurde (1823-1836). Es folgt die Phase zwischen 1836 und 1847, in der Palacký zur „Zentralfigur der böhmischen Wissenschaft“ avancierte (1836-1847). 1838 erfolgte die offizielle Bestätigung als böhmisch-ständischer Historiograph, 1840-1844 war er Sekretär der Kgl. Böhmischen Gesellschaft der Wissenschaften (Mitglied seit 1830), von 1844-1852 amtierte er als Geschäftsführer des Vaterländischen Museums: Tätigkeiten, in denen er ein riesiges Pensum an Konzeptions- und Organisationsarbeit zu bewältigen hatte.

Es folgt die Zeit des Politikers Palacký während der Revolution 1848/49 („Im Sturm der großen Politik 1848/49“) sowie der Weg Palackýs nach 1949, der in drei weiteren Kapiteln beleuchtet wird: Die Rückkehr zur Wissenschaft als ein zwangsweiser Rückzug aus der Politik („Böhmens Geschichte als Botschaft an Europa 1849-1860“) in der Ära Bach und darüber hinaus, dann die Auseinandersetzungen mit neuen politischen Kräften in Böhmen – gemeint sind die Auseinandersetzungen zwischen Alt- und Jungtschechen („Erfolg in der Wissenschaft, Misserfolg in der Politik 1860-1868“) – und schließlich die Verklärung zum „Otec národa [Vater der Nation]“. Abgerundet wird die Monographie durch ein umfangreiches Quellen- und Literaturverzeichnis sowie ein Personen- und Ortsregister.

Es ist, dies lässt sich konstatieren, eine durch und durch fundierte Arbeit, liegen der Biographie František Palackýs doch eine ausführliche Analyse von dessen veröffentlichten Werken sowie der nachgelassenen Papiere aus tschechischen, österreichischen und deutschen Archiven zugrunde. Kořalka gelingt es somit ein umfassendes Bild der öffentlichen Person František Palacký zu zeichnen, die immer im Kontext der Zeitumstände, aber auch im Lichte der Privatperson beleuchtet wird.3 Man sieht den Willen zum sozialen Aufstieg, man erkennt, wie seine Sendung, die „Erfindung“, besser Selbstbehauptung der tschechischen Nation zu einem zentralen Anliegen wird. Man fühlt mit den Niederlagen, so nach dem fatalen Slawenkongress Anfang Juni 1848 in Prag, dem Palacký nur ungern präsidierte und in dem er zwischen alle Fronten geriet: Von linker Seite wurde ihm wegen seiner Rücksichtnahme auf den konservativen Adel und die Wiener Regierung Mangel an Freiheitsidealismus vorgeworfen, von deutscher und deutschböhmischer Seite lautete der Vorwurf auf deutschfeindlichen Nationalismus und Panslawismus (S. 290). Eine zweite gravierende politische Niederlage erlebte Palacký nach dem in seiner Wirkung gleichermaßen fatalen österreichisch-ungarischen Ausgleich von 1867, in dessen Folge sich die desintegrativen Tendenzen erst recht wirkungsvoll entfalten konnten. „Wir waren vor Österreich da, wir werden es auch nach ihm sein.“ So der enttäuschte und desillusionierte Palacký, der die Donaumonarchie zum Untergang verurteilt sah. Als er am 26. Mai 1876 starb, bereiten ihm mehr als 50.000 Menschen ein Begräbnis, wie man es Prag bis dahin noch nie gesehen hatte. Noch im selben Jahr begann man mit dem Bau einer Brücke über die Moldau, die seinen Namen trägt und an deren Neustädter Kopf 1912 ein triumphal-monumentales Denkmal ihm zu Ehren enthüllt wurde. Dieses Denkmal findet sich auch auf dem Buchdeckel.

Über diese biographischen Fakten hinaus gelingt es Kořalka die strukturellen Verschiebungen herauszuarbeiten. Deutlich werden zum Beispiel die Ursachen für den Aufschwung der Geschichtswissenschaft in Böhmen und die besondere Stellung der Geschichte innerhalb des tschechischen Emanzipationsprozesses, bestand doch bei den Tschechen wie auch bei anderen unterprivilegierten Völkern eine gravierende Diskrepanz zwischen der Größe der nationalen Vergangenheit und ihrer geringen Bedeutung in der Gegenwart: Geschichte fungierte gerade im tschechischen Fall des 19. Jahrhunderts als Quelle neuen nationalen Selbstbewusstseins, da bereits im Mittelalter und in der frühem Neuzeit eine gesicherte nationale Existenz, ein eigener starker Staat, eine selbstbestimmte Innen- und Außenpolitik und eine entwickelte Kultur existierten. Die unmittelbare Identifikation der ‚Tschechen‘ mit den mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Böhmen, wie sie Palacký vornimmt, war somit nicht nur eine Konstruktion, sondern diente per Traditionsbehauptung eben der nationalen Wiedergeburt, wobei sich Palacký immer um die Integration der Mährer, der Slowaken und Nichtkatholiken in das „böhmisch-slawische Volk“ bemühte (S. 136). Die darin erkennbare Kontinuitätsthese, mit der eine Kontinuität des böhmischen Staates bis in die Gegenwart belegt werden sollte, wie auch die immer wieder von Palacký vertretene Eigenständigkeitsthese, die den Nachweis der Tschechen (und Slowaken) als eigenständige ethnische Gruppen untermauern sollte, dienten als zentrale, wirkungs- und integrationsmächtige politische Argumentationsmuster im nationalen Diskurs des 19. Jahrhunderts. Es ging darum, „die tschechischen Böhmen mit ihrer ruhmvollen Vergangenheit als eigenständiges Volk unter den europäischen Nationen zu etablieren“ (S. 169).

Mit dieser Monographie hat Jiří Kořalka zweifellos ein Standardwerk verfasst, an dem man bei Betrachtungen zur Geschichte der böhmischen Länder nicht vorbei kommen wird.

Anmerkungen:
1 Franz Palacký, Eine Stimme über Österreichs Anschluß an Deutschland. An den Fünfziger-Ausschuß zu Handen des Herrn Präsidenten Soiron in Frankfurt a. M., in: Franz Palacký, Oesterreichs Staatsidee, Prag 1866, S. 83.
2 Hier sei nur die Arbeit: Tschechen im Habsburgerreich und in Europa 1815-1914. Sozialgeschichtliche Zusammenhänge der neuzeitlichen Nationsbildung und der Nationalitätenfrage in den böhmischen Ländern, Wien 1991, erwähnt.
3 Siehe hierzu die Briefausgabe, die Kořalka edierte: František Palacký, Briefe an Therese. Korrespondenz von František Palacký mit seiner Braut und späteren Frau aus den Jahren 1826-1860. Mit einem Geleitwort von Jiří Gruša herausgegeben und eingeleitet von Jiří Kořalka (Mitteleuropa-Bibliothek 3), Dresden 2003.

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