I. Miethe u.a.: Biografie, Bildung und Institution

Titel
Biografie, Bildung und Institution. Die Arbeiter-und-Bauern-Fakultäten in der DDR


Autor(en)
Miethe, Ingrid; Schiebel, Martina
Reihe
Biographie- und Lebensweltforschung 6
Erschienen
Frankfurt am Main 2008: Campus Verlag
Anzahl Seiten
364 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Blanka Koffer, Berlin

Nicht Volkshochschule, nicht Gymnasium, sondern sowjetisch inspirierter Zweiter Bildungsweg mit großem Effekt: Der Besuch der in Deutschland bis dato ungekannten Arbeiter-und-Bauern-Fakultäten (ABF) ermöglichte in den Jahren 1946 bis 1962 etwa 35.000 Erwachsenen die Aufnahme eines Hochschulstudiums, davon gut 70 Prozent aus Elternhäusern ohne höhere Bildung. Bereits seit 1945 wurde diese neue Einrichtung unter den Bezeichnungen "Vorstudienabteilungen", "Vorstudienschulen" oder "Vorstudienanstalt" (VA) an Universitäten, Hochschulen und Volkshochschulen in der sowjetischen Besatzungszone eingeführt, um den bildungsfernen Schichten einen beruflichen Aufstieg zu gewährleisten und gleichzeitig einen durchgreifenden Elitenwandel zu erreichen. In den 1960er-Jahren wurden die ABF geschlossen mit Ausnahme der Einrichtungen in Halle/Saale und Freiberg, die nach 1968 allerdings ein grundlegend anderes Profil aufwiesen. Spätestens zu diesem Zeitpunkt hatte diese Übergangseinrichtung ihren Zweck erfüllt: In der zeitgenössisch so benannten "entwickelten sozialistischen Gesellschaft" der 1970er- und 1980er-Jahre war sie offensichtlich nicht mehr notwendig.

Die Frage nach Funktion und Wirkung einer ausgewählten Institution nicht nur im entsprechenden historischen Kontext, sondern auch im kollektiven und individuellen Gedächtnis der Akteure zu untersuchen, haben sich die Autorinnen vorgenommen. Dass aus umfangreichen eigenen Vorarbeiten geschöpft werden konnte, trägt zur gesättigten Durchdringung der Thematik bei. Der Titel ist allerdings etwas irreführend, geht es doch ausschließlich um die Geschichte der VA/ABF Greifswald (1947-1962). In sechs Kapiteln präsentieren die Autorinnen ihre Forschungsergebnisse.

Die ersten beiden Abschnitte umreißen Theorie und Methode: Eine "biografische Institutionenanalyse" der aus Archivmaterial, Ego-Dokumenten sowie 25 narrativen Interviews mit Angehörigen des Lehrpersonals gewonnenen Daten ist intendiert. Mit diesem Begriff spielen die Autorinnen auf die Wechselwirkungen zwischen institutionellem Wandel und der Lebensgeschichte des individuellen Akteurs an, etwas spezifisch Neues kann der Leser darin allerdings nicht erkennen. Die Forderung nach einer Verbindung von Biografie und Institutionengeschichte wurde bereits bravourös eingelöst, im Bereich der Wissenschaftsgeschichte der DDR etwa von Peter Nötzoldt am Beispiel des Wandels der Berliner Akademie der Wissenschaften von einer Gelehrtengesellschaft zum sozialistischen Forschungsverbund.1 Kritisch anzumerken ist ebenfalls, dass die anfänglich geäußerte Skepsis am Begriff der Institution ("ausgesprochen unscharf", S. 13) keinen Niederschlag im weiteren Verlauf der Untersuchung findet: Nichtsdestotrotz wird nämlich gerade "Institution" zum zentralen Begriff der Untersuchung, die ABF Greifswald sowie "letztlich jede Bildungsinstitution der DDR" gar zur "totalen Institution" (S. 332-333) im Sinne Erving Goffmans erklärt. Die Ansicht, in einem totalitären Staat sei auch jede Institution automatisch eine totale Institution, konterkariert den gleichzeitig geäußerten und durchaus auch eingelösten Anspruch, Theorie und Praxis der staatssozialistischen Diktatur am konkreten Fall zu untersuchen und so die Durchsetzung, Umwandlung oder Zurückweisung von Strategien zur Herrschaftssicherung der SED seitens der Adressaten, hier: Lehrer und Schüler der ABF, nachzuweisen und damit differenzierte Aussagen zur Funktionsweise des Gesamtsystems formulieren zu können. In diesem Sinne aufschlussreich ist dagegen die Untersuchung der "Leitideen" der ABF, also ihrer offiziellen und inoffiziellen Meistererzählungen: Die Motive der "sozialen Gerechtigkeit", des "Antifaschismus" und der "Herrschaftssicherung" (S. 15/16) werden auf ihre Entstehung, ihren Wandel sowie ihre Wirkung auf die Biografien der Akteure hin untersucht.

Im dritten Abschnitt wird die strukturelle Entwicklung der ABF Greifswald skizziert. Der übergeordnete Kontext der SMAD- und SED-Politik sowie deren Umsetzung vor Ort werden klar herausgearbeitet. Dazu werden die ersten beiden Leiter der Einrichtung, Helene Wrede (1947-1949) und Richard Fritze (1949-1950) ausführlich porträtiert und Konflikte, deren Austragung sowohl den Wandel der ABF versinnbildlichte als auch unterstützte, plastisch rekonstruiert. Die nächsten beiden Kapitel bieten eine differenzierte Kollektivbiografie des Lehrkörpers der ABF, die sowohl dessen Beteiligung an als auch dessen Betroffenheit von der institutionellen Entwicklung verdeutlicht. Dabei fällt besonders auf, was auch an anderen Stellen irritiert: Die Darstellung trennt nicht immer präzise zwischen der retrospektiven Bewertung und der Rekonstruktion der Ereignisse; die Interviews dienen zuweilen dazu, Lücken in der archivalischen Überlieferung zu schließen, und werden damit den zeitgenössischen Quellen gleichgestellt.

Insgesamt leisten Ingrid Miethe und Martina Schiebel mit ihrem Buch einen wichtigen Beitrag zur Bildungsgeschichte der DDR. Es bietet darüber hinaus auch viele Anknüpfungspunkte für wissenschaftsgeschichtliche sowie allgemein gesellschaftsgeschichtliche Fragen zur DDR. Welchen Anteil hatten etwa die Abiturienten der Arbeiter-und-Bauern-Fakultäten am Wissenschaftswandel in den Disziplinen der Gesellschafts- und Naturwissenschaften bis 1989? Welchen Anteil hatten die ABF an dem von politischer Seite eingeleiteten Elitenwechsel bis 1969, und in welcher Form waren ABF-Absolventen am politischen Wandel, zumal im Übergang der Regierung Ulbricht zu Honecker, beteiligt? Inwiefern erreichte dieses aus der Sowjetunion transferierte bildungspolitische Element das Ziel, die neue Gesellschaftsform zu legitimieren, der kommunistischen Partei die Unterstützung breiter Bevölkerungsschichten zu sichern? Welche Rolle spielt dabei die von Miethe und Schiebel konstatierte "Proletarisierung" von Biografien (S. 38)? Die ABF könnte in diesem Sinne ein weiterer Baustein der aus zeitgenössischer Perspektive so empfundenen Stabilität der Regierung Honecker sein. Auch die reichhaltigen Forschungen zur Aufbauperiode bis 1961 werden durch den vorliegenden Band dank seiner Fülle an detailliert diskutiertem Quellenmaterial um institutions- und alltagsgeschichtliche Einsichten deutlich bereichert. Nicht zuletzt sind an der Studie die Aspekte der Bewertung historischer Ereignisse im kollektiven Gedächtnis und der Integration derselben in die Konstruktion individueller Biografien hervorzuheben. Damit erweist sich der hier unternommene interdisziplinäre Zugang mittels einer genuin soziologischen Biografieforschung und einer geschichtswissenschaftlichen Institutionsanalyse als äußerst fruchtbar für Diskussionen der Zeitgeschichte, nicht nur für den hier vorgestellten Untersuchungsgegenstand.

Anmerkung:
1 Peter Nötzoldt, Wolfgang Steinitz und die Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Zur politischen Geschichte der Institution (1945-1968). Unveröffentlichte Dissertation, Humboldt-Universität Berlin 1998.

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