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Titel
Der Wiedergänger. Die vier Leben des Karl Marx


Autor(en)
Wippermann, Wolfgang
Erschienen
Anzahl Seiten
220 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Uwe Sonnenberg, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Über das Jahr 2008 verteilt sind in Deutschland rund 55 Bücher mit Bezug zu Karl Marx im Titel erschienen, neu aufgelegt oder von den Verlagen angekündigt worden. Dies hing gewiss mit Marx’ 125. Todestag zusammen, scheint angesichts der gegenwärtigen Krisen aber ein durchaus konstanter Trend zu sein. So tauchten im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek bereits Mitte März 2009 14 neue Publikationen zum „drittgrößten Deutschen“ auf, zu dem Karl Marx während einer seltsamen Umfrage des ZDF am 28. November 2003 vom Publikum erwählt wurde.1

Für Wolfgang Wippermann entspräche diese Renaissance dem „vierten Leben“ von Karl Marx. Denn: Der 1883 in London zu Grabe Getragene sei ein „Wiedergänger“ und, im übertragenen Sinne, niemals tot gewesen, obwohl er doch, im noch einmal übertragenen Sinne, bereits mehrfach gestorben ist. In seiner Skizze zum „Leben und Weiterleben“ verfolgt Wippermann „jenseits von Apologie und Dämonie“ die „Veränderung des Bildes von Marx“, das sich „immer mehr von dem eigentlichen und ursprünglichen unterschied“ (S. 8f.). In der Rezeption der Werke und Lehren von Karl Marx lassen sich laut Wippermann vier Phasen voneinander abgrenzen.

Zunächst wird die Biographie des 1813 in Trier Geborenen vorgestellt: Karl Marx als Publizist und Familienvater, als Politiker der Ersten Internationale und „vor allem Revolutionär“ (S. 11-54), zumeist unterstützt von seinem Freund und Weggefährten Friedrich Engels. Dessen Popularisierungen von Marx’ Werken hätten entscheidend zum Aufkommen jenes Marxismus beigetragen, wie er seit der Zeit um 1900 in der Arbeiterbewegung weltanschaulich rezipiert wurde. Diese erste Phase des Marxismus habe lange nach Marx’ Ableben in einer „terroristischen Diktatur [geendet], die ansatzweise schon von Lenin und vollends dann von Stalin repräsentiert wurde“ (S. 174). Der von diesen beiden Protagonisten „verhunzte Marxismus“ sei durch seine Folgen „völlig desavouiert“ gewesen, und insoweit sei „Marx zum zweiten Mal gestorben“ (S. 88). Verantwortlich machen könne man ihn dafür aber nicht.

Zu einem dritten Leben erweckt worden sei Marx dann von antistalinistischen Marxisten ganz unterschiedlicher Couleur in ihrer Kritik an der Deformation seiner Lehre. Ihre theoretischen Auseinandersetzungen mit der „verratenen Revolution“ (S. 91-100), dem „Klassenbewusstsein“ (S. 101-111) oder generell der Rolle des Staates auf dem Weg zu einer „Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die freie Entwicklung aller ist“2, habe speziell im Westen und insbesondere auf die revoltierenden Studentinnen und Studenten der Jahre um 1968 gewirkt. Nur seien auch in diesem Falle die Protagonisten „falschen Propheten und Vorbildern“ gefolgt (S. 8) und hätten somit Karl Marx mit einfachen Schlagworten und voluntaristisch motivierten Aktionen seinen dritten Tod bereitet.

Spätestens nach dem „ruhmlosen Untergang des ‚Sozialismus’“ (S. 133) und nachdem für Wippermann die Geschichte des „Partei-Marxismus“ (S. 179) zu Ende gegangen ist, eröffne sich die Chance, Marx wiederzuentdecken. Unter der Leitfrage, „was uns Marx heute zu sagen hat“ (S. 133-170), unternimmt Wippermann keine zeitgenössische Auf- oder Abrechnung, sondern plädiert dafür, die Werke von Karl Marx „neu zu lesen“. Überraschenderweise meint er damit weniger den Ökonomen des Weltmarktes, sondern vielmehr – und insofern auch angelehnt an die langjährigen eigenen Forschungsarbeiten3 – den Philosophen und Historiker Karl Marx. So könnten uns dessen religionskritische Schriften helfen, manche Fundamentalismen der heutigen Zeit zu erhellen. Mit der von Marx entwickelten Analyse des „Gleichgewichts der Klassenkräfte“ (S. 146-151) lasse sich der „keineswegs tote und vergangene Faschismus“ erklären (S. 9) und mit dem Theorem der „asiatischen Produktionsweise“ (S. 139-145) die Despotismus- in Abgrenzung zur Totalitarismusforschung intensivieren. Über allem aber stehe der von Ernst Bloch zum „Prinzip Hoffnung“ weiterentwickelte utopische Gehalt der marxschen Theorien, dessen es heute bedürfe, da bloßer Pragmatismus nicht mehr ausreiche, um mit den „gegenwärtigen und zukünftigen Problemen der Welt“ fertigzuwerden (S. 178).

Neben einer Menge altbekannter Akteure (Kautsky, Bakunin, Luxemburg, Trotzki, Gramsci, Adorno) begegnen wir im Laufe von Wippermanns Überblick vielen Personen, welche mitunter zu Unrecht in Vergessenheit geraten sind. So erscheint Ferdinand Lassalle als Marx’ Gegenspieler bei der Bildung der sozialdemokratischen Arbeitervereine des 19. Jahrhunderts, oder es wird an Rudolf Hilferding erinnert, den Verfasser des „vielleicht wichtigsten Werkes über das Kapital nach dem ‚Kapital’ von Marx“ (S. 75).4 Und auch Karl Korsch oder Otto Rühle werden erwähnt, um Versuche zur Weiterentwicklung der theoretischen Grundlagen eines alternativen Kommunismus darzustellen.

Es fällt nicht leicht, Wippermann in all seinen Ansichten zu folgen – ärgerlich sind insbesondere die einfach in den Raum gestellten Invektiven gegen Frantz Fanon als „National-Sozialisten“ (S. 123). Offen bleibt auch, wer oder was Wippermann eigentlich die Gewähr gibt, dass die Arbeiten von Karl Marx heute nicht wieder ideologisch überformt und politisch instrumentalisiert werden. Hervorzuheben ist aber, dass Wippermann in seiner gewohnt engagierten Art einen ansehnlichen Stammbaum maßgeblicher Theoretiker der historischen Arbeiterbewegung und der Marxismen des 19. und 20. Jahrhunderts rekonstruiert. Wer sich mit dieser Genealogie beschäftigen möchte, findet in Wippermanns Buch eine aktuelle und gut geeignete Einführung. Ein „bibliographischer Essay“ zu den wichtigsten biographischen Arbeiten über Karl Marx rundet den Band ab (S. 181-186).

Anmerkungen:
1 Vgl. <http://www.zdf-jahrbuch.de/2003/programmarbeit/arens.htm>, (3.4.2009).
2 Karl Marx/Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei [1848], in: dies., Werke, Bd. 4, hg. vom Institut für Marxismus-Lenismus beim ZK der SED, Berlin (Ost) 1959, S. 459-493, hier S. 482.
3 1978 habilitierte sich Wippermann mit einer Arbeit über „Die Bonapartismustheorie von Marx und Engels“ (veröffentlicht Stuttgart 1982).
4 Gemeint ist hier Rudolf Hilferding, Das Finanzkapital. Eine Studie über die jüngste Entwicklung des Kapitalismus [1910], Frankfurt am Main 1968.