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Titel
Eugenische Vernunft. Eingriffe in die reproduktive Kultur durch die Medizin 1900-2000


Autor(en)
Wolf, Maria Andrea
Erschienen
Anzahl Seiten
818 S.
Preis
€ 69,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Herwig Czech, Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes

Bei der schnell wachsenden Literatur zur Geschichte der Eugenik fällt eine gewisse Tendenz zur Klumpenbildung um wenige Schwerpunkte auf, während ganze Länder und Epochen oft unbeachtet bleiben. Im Falle Österreichs konzentrierte sich die Erforschung eugenischer Diskurse und Bestrebungen bisher weitgehend auf die Zwischenkriegszeit sowie die nationalsozialistische „Rassenhygiene“. Maria A. Wolfs Habilitationsschrift „Eugenisierung der Mutterschaft. Wissenschaftsdiskurse zur Neuordnung der Reproduktion am Beispiel Österreich 1900-2000“ aus dem Jahr 2004, 2008 unter dem geändertem Titel „Eugenische Vernunft. Eingriffe in die reproduktive Kultur durch die Medizin 1900-2000“ publiziert, stellt nunmehr die erste Geschichte der Eugenik in Österreich über das gesamte 20. Jahrhundert dar.

Basierend auf der Analyse von einschlägigen Beiträgen in der „Wiener klinischen Wochenschrift“ aus dem gesamten Untersuchungszeitraum sowie in der Zeitschrift „Archiv für Frauenheilkunde und Eugenetik“ der Jahrgänge 1914 bis 1922, zeichnet die Autorin in drei großen Kapiteln den Aufstieg einer „eugenischen Vernunft“ nach, die den zentralen konzeptionellen Bezugspunkt der Studie bildet. Eugenische Vernunft bedeutet dabei kurz gesagt, Sexualität und Fortpflanzung im Hinblick auf die Reproduktion gesunden Nachwuchses auszurichten und sich dabei einem männlich dominierten medizinischen Expertenwissen unterzuordnen. Das Projekt der Eugenik wird hier als langfristiges Erziehungsprojekt analysiert, was insbesondere erlaubt, Elemente der Kontinuität herauszustreichen. Während eine gängige Sicht davon ausgeht, dass die von staatlichen Zwangsmaßnamen getragene „alte Eugenik“ nach dem Zweiten Weltkrieg hoffnungslos diskreditiert und gescheitert war, sieht Wolf im Gegensatz dazu eine erfolgreiche und langfristige Etablierung eugenischer Logiken über diese äußeren Brüche hinweg. Am Ende dieser Entwicklung, so die Grundthese der Studie, setzt sich die eugenische Selektion am Lebensbeginn als „allgemeine Einflussgröße von Kindheit und Mutterschaft“ durch, wobei „eine nach eugenischer Vernunft handelnde Mutter als Norm hervorgebracht“ wird (S. 720).

Ein zentrales Motiv, das Wolfs Buch als Klammer zusammenhält, ist die Idee von der Eugenik als „Erziehungsprojekt“ – eine langfristig wirksame Veränderung von Mentalitäten dahingehend, gesunden Nachwuchs als machbar und planbar wahrzunehmen und die entsprechenden Angebote der Reproduktionsmedizin „von sich aus“ nachzufragen. Gemäß dem Anspruch der Studie, die „untersuchte Entwicklung anhand der vielfältigen Anschlussstellen für eine Eugenisierung der reproduktiven Kultur und die eugenischen Effekte in ihrer Vielgestaltigkeit aufzuzeigen“ (S. 19), deckt Wolf ein breites Spektrum an Themen ab, das von der Schwangeren- und Säuglingsfürsorge über die Kinderheilkunde bis zur Verhütung von Geschlechtskrankheiten reicht.

Der erste Teil, „Organisches Kapital und Rationalisierung der gesellschaftlichen Verwendung des Menschen: Bevölkerungsbewegung, Geburtenrückgang und staatliche Politik zur Neuorganisation der reproduktiven Kultur im Gebiet des heutigen Österreich in den Jahren 1900-1938“ beschreibt die Durchsetzung eines wissenschaftlichen Umgangs mit Schwangerschaft, Geburt und Kleinkinderpflege vor dem Hintergrund einer allgemeinen Medikalisierung der Gesellschaft. Dabei wird eine Vielfalt von Diskursfeldern untersucht, in denen eugenische Denkweisen nicht immer zentral, aber zumindest mittelbar zum Tragen kamen. Neben den erwähnten klinischen Feldern sind das unter anderem die Menschenökonomie Rudolf Goldscheids, die Bevölkerungswissenschaften sowie die Konstitutions- und Vererbungslehre.

Der zweite Teil unter dem Titel „Biologische Wiederherstellung des deutschen Volkes und der Mensch als Sachwalter seines Erbgutes“ behandelt die Entwicklung von Eugenik und Rassenhygiene in der NS-Zeit. Bedingt durch die eng umrissene Quellenbasis der Studie, die sich im Wesentlichen auf wissenschaftliche Zeitschriftenbeiträge der Wiener klinischen Wochenschrift verlässt, darf man sich von diesem Abschnitt kaum neue Erkenntnisse zu den NS-Medizinverbrechen, zu Euthanasie, Zwangssterilisationen und anderen Maßnahmen erwarten. Dafür bietet die Lektüre einen umfassenden Einblick in den akademischen Überbau der nationalsozialistischen „Erb- und Rassenpflege“ und angrenzender Felder.

Der dritte und letzte Teil bezieht sich auf die Jahre 1945 bis 2000 und steht unter dem Titel „Die neue Sachlichkeit einer eugenisierten Reproduktionsmedizin, die Normalisierung der prophylaktischen Gesellschaft und der individualisierte Mensch“. Es handelt sich dabei um eine Fundamentalkritik der neuen Reproduktionstechnologien oder, in den Worten der Autorin, der „neuen Biotechnologien der Zeugung und Selektion“. Diese werden in eine direkte Kontinuität zur alten Eugenik gestellt, die sich durch die letztlich erfolgreiche Verankerung ihrer Prinzipien im Rahmen eines das Jahrhundert durchziehenden Erziehungsprojekts durchgesetzt habe, um heute „die Geburt von Menschen pränatal oder auf Zellstufe präventiv [zu] verhinder[n], deren Leben [als] ‚nicht mit dem Leben zu vereinbaren‘ gilt oder die als ‚sozial untragbar‘ betrachtet werden“ (S. 8).

Der beeindruckende Umfang des Buches von über 800 Seiten kommt zum Teil dadurch zustande, dass das Quellenmaterial oft in ausführlicher Breite zitiert oder paraphrasiert wird. Der daraus resultierende Materialreichtum stellt eine der Stärken des Buches dar, droht aber zuweilen auch auszuufern. Die Eigenart der untersuchten Quellen führt zu einer starken Fokussierung auf die klinische Forschung, während Fragen der praktischen Umsetzung eugenischer Maßnahmen nur sehr vermittelt diskutiert werden. Diese Vorgehensweise ist allerdings programmatisch abgesichert, geht es der Autorin doch explizit nicht um Ereignisse, sondern um den „hegemoniale[n] Diskurs jener medizinischen Fächer, welche die Reproduktion wissenschaftlich gestalten bzw. verwalten“ (S. 22). Problematisch ist dabei nur, dass zur Unterstützung der Argumentation nicht selten die Aussagen einzelner Fachvertreter zu Positionen der „Medizin“ verallgemeinert werden und so zu Schlussfolgerungen führen, die durch das aufgebotene empirische Material nicht immer gedeckt erscheinen. Entsprechend neigen die Interpretationen dazu, den vorausgehenden theoretischen und politischen Annahmen zu folgen, ohne dass ein „Vetorecht der Quellen“ sichtbar würde.1 Zudem muss festgehalten werden, dass sich neben zahlreichen Druckfehlern auch nicht wenige kleinere Faktenfehler eingeschlichen haben, die ein sorgfältiges Lektorat hätte vermeiden können.2

Trotz der Vielfalt der untersuchten Diskursbeiträge zeichnet Wolf im Endeffekt das Bild einer relativ linearen Entwicklung – der erfolgreichen Durchsetzung des eugenischen Paradigmas auf breiter Front. Dabei wird Eugenik sehr weit gefasst als der Versuch, „menschliche Prozesse, die bislang der menschlichen Gestaltungsmacht entzogen sind (z.B. Vererbung), durch wissenschaftliche Forschung und Entwicklung unter menschliche Verfügungsgewalt zu bekommen (zielend auf die Herstellung des „guten“ und „tüchtigen“ Menschen)“ (S. 14). Diese Entwicklung wird im Wesentlichen von männlichen Vertretern der Medizin und von nach patriarchalischen Prinzipien handelnden staatlichen Stellen gegen die Interessen der Frauen durchgesetzt, wobei Letzteren nur die Rolle von passiven Objekten zufällt. Frauen bekommen von Wolf keinerlei Handlungsspielraum eingeräumt. Noch wo sie (wie in den modernen Reproduktionstechniken) selbst entscheiden, werden sie dargestellt als Opfer gesellschaftlicher Zwänge, als passive Adressatinnen von Diskursen und Erziehungsprogrammen, als bloße Objekte der Ausbeutung und Intervention, der Eroberung und Kolonialisierung. Um diese Argumentation auch in Zusammenhängen aufrecht zu erhalten, in denen eugenisches Denken und Handeln nicht staatlich erzwungen, sondern individuell nachgefragt wird, wertet Wolf das Prinzip des „informed consent“ systematisch als bloße Entlastungsstrategie der Ärzte zur Abschiebung der Verantwortung ab und bestreitet unter Hinweis auf gesellschaftlich vermittelte Zwänge grundsätzlich die Möglichkeit von selbstbestimmten Entscheidungen (S. 625).

Im Hinblick auf den Nationalsozialismus führt die postulierte starke Kontinuität zwischen „alter“ und „neuer“ Eugenik zu einer tendenziellen Unterbewertung der medizinischen Massenverbrechen, vor allem der Euthanasiemorde, die relativ nahtlos in die langfristige Geschichte der Eugenik integriert werden. Wolf folgt in ihrer Analyse im Wesentlichen Gisela Bocks Paradigma des „männerstaatlichen Rassismus“, wobei sie die seither zahlreich erschienen Arbeiten zur Mittäterschaft von Frauen nicht rezipiert. Dabei zeigt sich eine gewisse Tendenz zu Tatsachenbehauptungen, die zwar in die Argumentation der Autorin passen, aber sachlich nicht zu halten sind. So schreibt Wolf, von den 300.000 Zwangssterilisationen in Deutschland wären vor allem Frauen betroffen gewesen (S. 50, Anm. 37). Gisela Bock kam bekanntlich zu dem Ergebnis eines ungefähr ausgeglichenen Geschlechterverhältnisses. Auch die Behauptung, die massenhafte Kindesentführung (durch den Lebensborn) wäre die „einzig realisierte Form der positiven Eugenik“ gewesen (S. 463), ist angesichts von Ehestandsdarlehen und zahlreichen anderen Maßnahmen ebenso unhaltbar wie die Idee, dass diese einen „exklusiv männlichen Reproduktionszyklus“ darstellte. Auch im Rahmen der Euthanasieverbrechen ist es nicht schwer, Täterinnen zu finden – von Pflegerinnen und Kanzleikräften in der Vernichtungsanstalt Hartheim über die Ärztinnen und Krankenschwestern der „Kinderfachabteilung“ Am Spiegelgrund bis hin zu den Mittäterinnen der Euthanasiemörder Emil Gelny und Franz Niedermoser.

Auch bei ihrem Versuch, die Autorität der zeitgenössischen Medizin auf breiter Front zu erschüttern, schießt die Autorin teilweise über das Ziel hinaus. So in einer Passage bezüglich Andreas Rett, einem wichtigen Pionier im Umgang mit Menschen mit geistiger Behinderung, dessen Nazi-Vergangenheit erst spät zu Tage getreten ist. In diesem Zusammenhang übernimmt Wolf ungeprüfte Zahlen aus der Rede einer Politikerin, wonach eine Forderung Retts nach Sterilisierung von Menschen mit einem IQ von unter 30 rund 15 Prozent der Weltbevölkerung betroffen hätte (S. 520, Anm. 21 und S. 616, Anm. 126). Auch die an zwei Stellen aufgestellte Behauptung, 95 Prozent der angeborenen schweren Behinderungen seien auf Geburtsschädigungen zurückzuführen und damit von vornherein nicht durch pränatale Diagnosetechniken erfassbar (S. 18 und S. 638), ist nach dem heutigen Stand der Geburtsmedizin nicht zu halten und erweist damit einer kritischen Auseinandersetzung mit diesen Techniken keinen guten Dienst.

Die unzweifelhaften Stärken des Buches liegen im Reichtum und der Vielfalt des untersuchten Materials, im flüssigen und gut lesbaren Stil und in den anregenden, wenn auch nicht immer gleichermaßen überzeugenden Analysen. Auch wer nicht jede der Schlussfolgerungen teilt, wird das Buch mit Gewinn lesen. Maria Wolf hat ein anregendes, informatives, detailreiches und auch provokantes Buch geschrieben, das als erste Gesamtdarstellung der Geschichte der Eugenik und Biopolitik im Österreich des 20. Jahrhunderts sicher zu einem Standardwerk werden wird.

Anmerkungen:
1 Z.B. auf S. 224: „Knaus wollte den Frauen helfen, durch den Einsatz von Verhütungswissen ‚im Fortpflanzungsleben‘ nicht mehr ohnmächtig dem Mann ausgeliefert zu sein, sondern mitentscheiden zu können“. Im direkten Widerspruch dazu wird nur eine Seite weiter pauschal behauptet: „Die Ärzte billigten Empfängnisverhütung [...] und operative Sterilisierung nur in den Fällen, bei denen eine Fortpflanzung aus eugenischen Gründen unerwünscht war [...].“
2 So traten das „Ehegesundheitsgesetz“ und das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ in Österreich 1940 und nicht 1938 in Kraft (S. 344, S. 348); die Zahl der im Zuge der „Aktion T4“ aus der Anstalt „Am Steinhof“ in die Vernichtung Transportierten betrug mehr als 3000 und nicht 300 (S. 432); die Opfer der T4 waren in der Mehrzahl Anstaltspatient/innen mit psychischen Krankheiten und keine „Behinderten“ (S. 437); die endgültige Entscheidung zur Zwangssterilisierung lag bei den Erbgesundheitsgerichten und nicht beim Amtsarzt (S. 460). Die Liste ließe sich fortsetzen.

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