S. Schattenberg: Die korrupte Provinz?

Titel
Die korrupte Provinz?. Russische Beamte im 19. Jahrhundert


Autor(en)
Schattenberg, Susanne
Erschienen
Frankfurt am Main 2008: Campus Verlag
Anzahl Seiten
294 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Becker, Institut für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte, Johannes-Kepler-Universität Linz

Susanne Schattenberg schreibt eine Kulturgeschichte der russischen Verwaltung des 19. Jahrhunderts aus der Perspektive der regionalen Verwaltungsbüros. Es geht ihr dabei weniger um Strukturen und Amtswege, sondern vielmehr um die Funktionslogik eines Apparates, der sich dem sozialwissenschaftlichen Blick bisher unzureichend erschlossen hat. Das liege an der falschen konzeptuellen Toolbox, wie Schattenberg argumentiert. Sozialwissenschaftlich orientierte Autoren und Autorinnen blicken auf die russische Verwaltung durch die Brille des Weberschen Idealtypus von Bürokratie und stellen dabei Abweichungen fest – „[...] fehlgeschlagene Versuche der zaristischen Regierung, ihre Untertanen zum Staatsdienst zu motivieren und ihnen ein westliches staatsbürgerliches Verantwortungsbewusstsein einzuhauchen.“ (S. 17).

Kulturwissenschaftlerinnen wie Schattenberg versichern sich auch der Protektion Max Webers, stützen sich jedoch nicht auf den Idealtypus der bürokratischen Verwaltung. Die Autorin zieht den Typus des patrimonialen Beamten heran – „den ungeliebten und vernachlässigten Stiefbruder des Weberschen bürokratischen Beamten [...]“ (S. 44). Damit will sie nicht „an der Rückständigkeitsthese weiter stricken“, sondern zeigen, „dass die Verwaltungskultur in Russland bis in die 1860er-Jahre schlicht eine andere war.“ (S. 33f.).

Um den Blick für die Besonderheiten der russischen Verwaltung zu schärfen, nutzt sie zusätzliche Theorieangebote aus der Ethnologie und der Frühneuzeit-Forschung. Konkret handelt es sich dabei um Anregungen von Marcel Mauss über den Gabentausch, von James Scott über Patron-Klienten-Beziehungen in Thailand, von Valentin Gröbner über Geschenkannahme und Korruption sowie von Jurij Lotmann und Martin Dinges über Ehrvorstellungen: „Anstatt kopfschüttelnd vor dem Untersuchungsgegenstand zu stehen, gelingt so eine hermeneutische Annäherung“, wie die Autorin selbst argumentiert. Sie sieht sich dabei weder als Anklägerin noch als Verteidigerin, „allenfalls als Sachverständiger, der die Regeln und Normen des Beamtenlebens erhellt.“ (S. 129).

Solcherart gerüstet, entwickelt die Autorin einen neuen Zugang zur russischen Verwaltung des 19. Jahrhunderts. Sie analysiert dabei einen verwaltungsinternen Diskurs über Beamte und deren Performance, wie er sich in internen Berichten über Beamte aus der Feder von Gendarmen und Revisoren sowie in den Autobiographien von Beamten und Gouverneuren niederschlug. Dieser Fokus auf Selbstverständnis und Erwartungshaltungen ermöglicht einen analytischen Zugriff auf die „persona“ des Beamten als Grundlage der Verwaltungskultur.
Schattenberg vermeidet in der Analyse dieser Kultur die Orientalismus-Falle. Die russische Verwaltung wird nicht zum faszinierenden Objekt einer fremden Welt gestaltet. Sie erscheint als eine durchaus funktionale Antwort auf die spezifischen Herausforderungen von politischer und gesellschaftlicher Integration unter den Bedingungen eines auf die Person des Zaren hin orientierten Herrschaftssystems. Aus der Sicht einer deutschen Kulturwissenschaftlerin bleibt Schattenberg dabei sensibel für Parallelen zwischen der russischen und der westeuropäischen Verwaltungsentwicklung:

„Die Ämter und staatlichen Institutionen waren in weit größerem Umfang von personalen Netzen durchsetzt und monopolisiert als es in England, Frankreich und Deutschland im 19. Jahrhundert der Fall war [...] Zwar waren Preußen, Frankreich und England auch nicht die idealen bürokratischen Kulturen, als die sie lange Zeit präsentiert wurden. Dennoch lässt sich sagen und soll hier argumentiert werden, dass sich dort die Ratio des modernen Verwaltungsstaates grundsätzlich durchgesetzt hatte und einen gesellschaftlichen Konsens bildete, dem sich eine große Zahl von Staatsdienern verpflichtet fühlte, während in Russland die Idee vom modernen Staat und einer bürokratischen Verwaltung nur einer kleinen westlich gebildeten Elite geläufig war und nur sporadisch auf die Zustimmung des Zaren stieß.“ (S. 34)

In vier sehr gut argumentierten und lesbar geschriebenen Kapiteln setzt sich Schattenberg mit den Handlungslogiken der russischen Beamten auseinander. Sie beginnt in den Kanzleien der Provinzverwaltung und erkundet das Selbstverständnis und die Karrierestrategien der dortigen Beamten. Als konzeptuelles Werkzeug nutzt sie einen ethnologischen Begriff der Ehre, mit dem sie die Dynamik der Patronagebeziehungen analytisch beschreiben kann. Protektion, das heißt die Unterstützung durch einen Förderer, war nicht nur für den Diensteintritt, für berufliches Fortkommen und für die Pensionierung unumgänglich. Sie ermöglichte den Zugang zu „Ehre“ in Form von Klassenrängen innerhalb der Verwaltung, Orden und Gehaltserhöhungen. Für Schattenberg zeigt sich der patrimoniale Charakter der russischen Verwaltung an der engen Anbindung des Beamten an seinen Förderer, die nicht als Leistungs- sondern hauptsächlich als Dienstverhältnis organisiert war: „Der Anspruch der Beamten auf Ehre stützte sich auf ihren Dienst an der Person, genauer: an ihrem Patron.“ (S. 132)

Schattenberg zeichnet ein spannendes Bild der russischen Verwaltungskultur, das offen für Ambivalenzen und Widersprüche einer gleichzeitig sich modernisierenden und traditionellen Handlungslogiken verhafteten Verwaltung ist. Der patrimoniale Charakter der russischen Behörden wird nicht als fortschrittsfeindlicher Hemmschuh in einem reformorientierten Staatswesen präsentiert. Für Schattenberg war es Zar Nikolai I. selbst, der die Ablöse einer personengebundenen Machtausübung durch eine modern strukturierte Verwaltung verhinderte: „Es war seine autokratische Ideologie, die ihm verbot, Macht zu mediatisieren und abstrakten Prinzipien zu vertrauen.“ (S. 133).

In den Kapiteln über die Gouverneure, ihre Kontrolle durch Gendarmen und Revisoren wird die Belastung deutlich, die von dem Nebeneinander verschiedener Klientelsysteme ausging. Die Gouverneure waren Klienten in persönlichem Abhängigkeitsverhältnis zum Zaren und Patrone innerhalb ihres Wirkungsbereiches. Ihre Position als „broker“ zwischen dem Zaren, der von Ihnen die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung erwartete, und den Akteuren in der Provinz, die Zuwendungen in Form von Stellen, Auszeichnungen, Orden und Aufträgen erwarteten, war nicht unumstritten. Sie standen in einem potenziellen Konflikt mit lokalen Interessengruppen, die über eigene Patronagebeziehungen zum Hof verfügten. Zusätzlich geschwächt wurde die Position der Gouverneure durch Gendarmen als Überwachungsorgan, wie Schattenberg in Kapitel 4 ausführt. Sie weist dabei auf das Ungleichgewicht zwischen den Gouverneuren und ihren Aufpassern im Hinblick auf die Kommunikation zwischen Provinz und Zentrum hin. Aus ihrer Sicht war es „[...] kein Wunder, dass sich die Gouverneure angesichts eines solchen Kräfteungleichgewichts gegenüber ihren Aufpassern macht- und hilflos fühlten [...]“ (S. 197).

Im letzten Kapitel beschreibt Schattenberg die Spannungen, die durch das Auftreten eines neuen Staats- und Verwaltungsverständnisses seitens akademisch gebildeter Spezialisten entstanden. Als Akteure innerhalb des einflussreichen Netzwerks rund um den Innenminister konnten die so genannten Rechtsgelehrten ihre Vorstellungen in den Revisionen vor Ort umsetzen. Dabei prallten zwei Welten aufeinander, wie die Autorin überzeugend darstellt: „[H]ier der unumschränkte Patriarch, der Pfründe verteilte und sein eigenes Wort als ausreichendes Gesetz empfand, dort der Revisor als Missionar, der die Provinzbewohner zum Gesetz bekehren wollte.“ (S. 226f.)

Es ist eine Stärke dieser Arbeit, dass sich Schattenberg für beide Welten interessiert und nicht als Anwältin sondern als Ethnologin argumentiert. In ihrer spannenden Argumentation wird die Handlungslogik von Akteuren in ihrer Komplexität und Widersprüchlichkeit sichtbar gemacht. Modernität und Rechtsstaat konnten sich nur im Rahmen von Patronagenetzwerken rund um den Innenminister entfalten, während die Klientelsysteme und die Geschenkannahme für die Beamten wie die Bürger alternative Formen der Erwartungssicherheit bereitstellten.

Am Schluss ihrer Argumentation spannt Schattenberg den Faden ihrer Überlegungen weiter und wirft einen ethnologisch informierten Blick auf die russische Geschichte des 20. Jahrhunderts. Klientelsysteme erscheinen dabei weiterhin als ein Teil von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft – und das nicht nur in Russland. Schattenberg verliert trotz der Sensibilität für Kontinuitäten die Unterschiede nicht aus dem Blick. Protektion zu haben, ist damals wie heute wichtig. Der Stellenwert von Patronage innerhalb der Verwaltung hat sich jedoch gewandelt – auch das wird von der Autorin in diesem schönen Buch herausgearbeitet.

Schattenberg hat ein gutes Buch geschrieben. Die Lektüre ist ein Vergnügen – wegen der ansprechenden Narration und vor allem wegen der anregenden Gedanken, die diese interdisziplinäre Studie zur Verwaltungskultur Russlands auszeichnen. Ich kann Ihnen das Buch ohne Vorbehalte zur Lektüre empfehlen.

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