M. Kreuzer: Institutions and Innovation

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Titel
Institutions and Innovation. Voters, Parties, an Interest Groups in the Consolidation of Democracy - France and Germany, 1870-1939


Autor(en)
Kreuzer, Marcus
Erschienen
Anzahl Seiten
210 p.
Preis
$ 52.50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Müller, Historisches Seminar, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Partei- und Interessenverbände und deren Verhältnis zu den Wählern ist in der politischen und historischen Wissenschaft kein neues Thema. Dabei konzentrierten sich die Arbeiten vor allem auf die Fragestellung nach dem Einfluß des Wahlsystems auf die politischen Parteien. Dieser Ansatz hat in den letzten Jahrzehnten namhafte Arbeiten vor allem in der Politikwissenschaft hervorgebracht, ist allerdings auch für Historiker nicht uninteressant.1 Keuzers Arbeit geht hingegen von den deutschen und französischen Parteien als Handlungsträger innerhalb des Verfassungsgefüges aus und versucht, deren Innovationsfähigkeit in der Rekrutierung der Kandidaten und in den Themen und Strategien der Wahlkämpfe zu erklären. Damit will er klären, wie sich diese Parteien im Zeitalter des "politischen Massenmarktes" (Rosenberg) an die Herausforderung der Wählerrekrutierung anpassen und welche Strategien erfolgreich waren. Dabei konzentriert sich diese als expliziter Vergleich angelegte Studie auf einige Parteien der Weimarer Republik auf Reichsebene und auf die französischen Parteien der dritten Republik zwischen 1919 und 1939. Die Zeit vor 1919 wird dagegen eher überblicksartig und undifferenziert abgehandelt. Dies gilt vor allem für die verschiedenen Interessengruppen und Parteiumbildungen im bürgerlich-liberalen und konservativen Spektrum. Kreuzer prüft die Innovationsfähigkeit der Parteien ergebnisorientiert anhand des Scheitern der Weimarer Republik durch die aktive Obstruktion der extremen Parteien. Der Vergleich soll daher in erster Linie klären, weshalb die Wirkungskraft der extremen Rechten bei den Wählern in Frankreich begrenzt blieb und die dritte Republik trotz innerer Krisen nicht an der Problematik des parteipolitischen Extremismus scheiterte.

Wer diese Arbeit als Historiker zur Hand nimmt, dem wird die Analyse einer innovativen These auf empirischer Basis suggeriert, die an die jüngsten Forschungsergebnisse des Projektes am Institut für Zeitgeschichte zumindest implizit anzuknüpfen scheint.2 Diese Erwartungen kann das Buch in mehrerer Hinsicht nicht erfüllen. Historische Quellen werden in diesem Buch kaum unter der skizzierten Fragestellung analysiert, dafür setzt sich der Autor mit der umfangreichen Literatur zur Wahl- und Parteienforschung vor allem aus politikwissenschaftlicher Sichtweise auseinander. Daher werden gerade die neuen Arbeiten aus dem Projekt des Instituts für Zeitgeschichte nicht rezipiert. Das Postulat des Autors, in seinem Buch "Historical Narrative with Theoretical Generalizing" zu kombinieren (S. 8), wird insofern nicht erfüllt, als Kreuzer die historische Erzählung mit der empirisch fundierten Analyse verwechselt und es nicht für sinnvoll erachtet, in die Quellen hineinzusehen (bis auf die kursorische Anführung des "Statistische[n] Jahrbuch[s] für das deutsche Reich, various years" S. 57) oder Probleme der Parteigeschichte in die systematischen Vergleiche einzuarbeiten. Deshalb bleiben die Parteien als "Akteure" seines Vergleichs holzschnittartig und undifferenziert. Die These des Autors, die wahlgesetzlichen Vorgaben der beiden Demokratien nach 1918, in Deutschland das reine Verhältniswahlsystem und in Frankreich das seit 1875 bestehende absolute Mehrheitswahlsystem (S. 64-66), hätten gewisse "innovative Anreize" (S. 165) zur Kandidatenauswahl, zum strategischen Wahlverhalten und zur Wahlkampfprogrammatik gegeben, kann daher in der Unbestimmtheit auch nicht ganz überzeugen. Die Schlußfolgerung, das jeweilige Wahlsystem habe die französischen Parteien zu einem kompromißbereiten Faktionalismus, die deutschen Parteien vielmehr zu einer undurchdringbaren Segmentierung der politischen Fronten getrieben und daher wesentlich zur Kompromiß- bzw. Konfrontationskultur in der jeweiligen Innenpolitik der Zwischenkriegszeit beigetragen (S. 164f.), führt die alte These von Hermens quasi durch die Hintertür wieder ein, allerdings unter der veränderten Fragestellung nach der Bedeutung der "innovation techniques" im Wahlkampf und in der parteipolitischen Krisenbewältigung (S. 3).3 Sicherlich muß man, wie Nohlen und Anderson jüngst wieder betont haben, die Feststellung "electoral systems matter" nachdrücklich unterstreichen, aber die Frage ist vielmehr, ob man den Wahlsystemen eine so überragende, wenngleich nicht monokausale Bedeutung für die Parteientwicklung und für den Erfolg der extremen Parteien in Deutschland zumessen kann, wie es Kreuzer hier tut.4 Nachvollziehbar sind Kreuzers Überlegungen durchaus, aber sie entbehren einer nachprüfbaren Grundlage und bleiben damit eine an der historischen Überlieferung noch zu verifizierende Theorie. Die Einbettung des Wahlrechts in den historischen Kontext erfolgt daher nicht zufällig erst auf sechs Seiten in der Schlußfolgerung (S. 157-163).

Das starre Konzept der Parteien als durch das Wahlrechtsgefüge beeinflußte, homogene Akteure ist neben der Quellenarmut einer der Hauptkritikpunkte der Arbeit. Kreuzer versucht in den Hauptkapiteln der Arbeit, Parteipaare einer ungefähr ähnlichen politischen Ausrichtung unter den Kriterien der Karrieremöglichkeiten, der Wahlkampfkosten und des strategischen Wahlkampfes miteinander zu vergleichen. Dabei nimmt er aber an, daß diese Parteienpaare grundsätzlich vergleichbar seien. Eventuelle historische Unterschiede in der Entwicklung des Parteiensystems wie die grundlegende Unterscheidung von eher persönlichen Netzwerken und schwächer entwickelten Parteien im parlamentarischen System der Dritten Republik gegenüber den im Kaiserreich stark entwickelten und durch die politische Segmentierung des Kaiserreichs ideologisch stärker disziplinierten Parteien in Deutschland fallen in der Analyse wenig ins Gewicht. Zwar wird die Unterscheidung von "fluid factionalism" in Frankreich und "rigid segmentation" in Deutschland (S. 8) durchgehend betont, aber diese Feststellungen sind für die deutschen Parteien keineswegs neu, sondern geben eher den Forschungsstand der 1980er Jahre wieder. Für die französische Seite wird ebenfalls kaum auf neuere Forschungen eingegangen, die die Besonderheiten der Parteientwicklungen in den 1920er und 1930er Jahren spezifizieren. Hinzu kommt, daß das Zentrum, die Kommunistische Partei Deutschlands und der Parti Communiste Francais trotz ihrer Bedeutung gerade für das Wahlkampfverhalten der anderen Parteien nicht in das Konzept der Paarvergleiche passen und von vorne herein aus der Untersuchung ausgeklammert werden. Andererseits werden im Kapitel über den Faschismus die nicht unwichtigen Fragen nach einem "französischen Faschismus" und der prinzipiellen Vergleichbarkeit des Nationalsozialismus mit anderen rechtsextremen Bewegungen und Parteien stillschweigend übergangen, so daß Stahlhelm, Jungdeutscher Orden und Nationalsozialisten bedenkenlos nebeneinandergestellt und mit Croix de Feu, Jeunesses patriotes und Parti Populaire Francais "verglichen" werden.5

Insgesamt kann die These, die die Arbeit trotz der Bedenken tendenziell zu belegen weiß, als ein interessantes Problem und als eine Ergänzung zu den historischen Fragestellungen betrachtet werden, aber eine überzeugende Synthese von politikwissenschaftlicher und historischer Forschung in der Form einer historisch vergleichenden Analyse des Einflusses von Wahlsystemen auf das Parteiverhalten bietet dieses Buch nur in sehr allgemeinen Ansätzen. Damit behält das jüngst geäußerte Desiderat von Thomas Raithel 6 nach wirklichen historisch-komparatistischen Untersuchungen zur deutsch-französischen Parlamentarismus- und Parteienforschung auch nach Kreuzers Buch unverändert Gültigkeit.

Anmerkungen:
1 Vgl. Arend Lijphart, Electoral Systems and Party Systems. A Study of Twenty-seven Democracies, 1945-1990, Oxford 1994, und Giovanni Sartori, Comparative Constitutional Engineering. An Inquiry into Structures, Incentives and Outcomes, New York 1994. Vgl. einführend Dieter Nohlen, Wahlrecht und Parteiensystem, Opladen 2000, 3. Auflage, S. 53-74.
2 Zum Forschungsprojekt "Parlament und politische Parteien in Deutschland und Frankreich 1918-1933/40" am Institut für Zeitgeschichte und zum schon 1998 abgehaltenen Kolloquium über dieses Thema vgl. Horst Möller/ Manfred Kittel (Hrsg.), Demokratie in Deutschland und Frankreich 1918-1933/40. Beiträge zu einem historischen Vergleich, München 2002 (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte; Bd. 59).
3 F.A. Hermens, Demokratie oder Anarchie. Untersuchungen über die Verhältniswahl, Köln-Opladen 1968, 2. Auflage.
4 Nohlen, Wahlrecht und Parteiensystem (wie Anm. 1), S. 56; Margaret L. Anderson, Practicing Democracy. Elections and Political Culture in Imperial Germany, Princeton/ NJ 2000, S. 8 (wobei sie den Focus weniger auf das Wahlsystem als auf die Praxis des Wahlrechts legt und daher modifiziert postuliert: The franchise did matter). Kreuzer bestreitet natürlich die Monokausalität des Wahlsystems für das Versagen des deutschen Parteiensystems, aber die Schlußfolgerung der "rigid segmentation" und die untersuchten Wahlstrategien der deutschen Parteien, die aus dem Wahlsystem des relativen Verhältniswahlrechts resultierten, legen diesen Schluß nahe.
5 Vgl. Klaus-Jürgen Müller, "Faschismus" in Frankreichs Dritter Republik? Zum Problem der Überlebensfähigkeit der französischen Demokratie zwischen den Weltkriegen, in: Möller/Kittel, Demokratie (wie Anm. 2), S. 91-130, S. 91-95; Andreas Wirsching, Vom Weltkrieg zum Bürgerkrieg? Politischer Extremismus in Deutschland und Frankreich 1918-1933/39. Berlin und Paris im Vergleich, München 1999 (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte; Bd. 40), S. 506-525.
6 Thomas Raithel, Parlamentarisches System in der Weimarer Republik und in der Dritten Französischen Republik 1919-1933/40. Ein funktionaler Vergleich, in: Möller/Kittel, Demokratie (wie Anm. 2), S. 283-314, S. 285.

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