J. Brauch u.a. (Hrsg.): Jewish Topographies

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Titel
Jewish Topographies. Visions of Space, Traditions of Place


Herausgeber
Brauch, Julia; Lipphardt, Anna; Nocke, Alexandra
Reihe
Heritage, Culture and Identity
Erschienen
Aldershot 2008: Ashgate
Anzahl Seiten
390 S.
Preis
€ 86,99
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Mirjam Thulin, Simon-Dubnow-Institut für jüdische Geschichte und Kultur an der Universität Leipzig

Die Kategorie „Raum“ ist in den Geschichts- und Kulturwissenschaften eine zentrale analytische Theorie geworden, und so auch in den Jewish Studies. Im Rahmen des zwischen 2001 und 2007 existierenden Graduiertenkollegs „Makom. Ort und Orte im Judentum“ im Bereich der Jüdischen Studien an der Universität Potsdam bildete die Kategorie „Raum“ das vornehmliche Forschungsprogramm. Die drei Herausgeberinnen des anzuzeigenden Bandes – Julia Brauch, Anna Lipphardt und Alexandra Nocke – waren Teil dieses Kollegs. In ihrem Sammelband führen sie die Überlegungen, die in dem Graduiertenkollegs bearbeitet wurden, fort und wollen zugleich das Feld in methodologischer und konzeptioneller Hinsicht weiten. Der Ausgangspunkt und Fokus liegt deswegen, so die Herausgeberinnen, auf der „Produktion jüdischer Räume“ (S. 1f.). Wie wurden und werden diese gestaltet und genutzt? Der „jüdische Raum“ wird also als ein dynamischer, aktiv gestalteter („doing Jewish spaces“) und gelebter („lived Jewish spaces“) Raum begriffen.

(Jüdische) Orte und Räume sind im Band jedoch, wie es sich auch in den Aufsätzen zeigt, nicht einheitlich definiert. Da sowohl die Autoren der Beiträge selbst als auch die besprochenen Fallbeispiele aus verschiedenen kulturellen und sprachlichen Kontexten kommen, ist eine einheitliche Terminologie nicht möglich und auch nicht gewollt. Freilich einen die Beiträge drei konzeptuelle Unterscheidungen der Herausgeberinnen: „jüdische Orte“ („Jewish places“) sind geographisch gebundene Stätten und meinen eine spezifische Örtlichkeit, „jüdische Räume“ („Jewish spaces“) beziehen sich auf weite räumliche Umgebungen bzw. die Umweltkultur, in denen jüdische Aktivitäten stattfinden, stattfanden oder vollzogen werden (S. 4). Orte und Räume können übereinstimmen, müssen dies jedoch nicht, und weniger das Wo unterscheidet sie als vielmehr ihre Funktion (S. 4). Gleichwohl fragt das Buch in besonderem Maße nach den Interdependenzen von Orten und Räumen, wie auch der Untertitel „Space“ die Vision und „Place“ die Tradition zuweist. Orte und Räume bilden gemeinsam schließlich die „jüdischen Topographien“ („Jewish topographies“). Zudem liegt den Herausgeberinnen daran, für jüdische Studien geläufige Dichotomien wie Israel vs. Diaspora, religiös vs. säkular oder intern vs. extern zu vermeiden. Nach dieser ersten thematischen Einführung leisten die Herausgeberinnen in ihrer Einleitung zum Sammelband einen Forschungsüberblick und entwickeln im Anschluss an Henri Lefebvres Konzept der „espaces vécus“ hieraus den konzeptuellen Rahmen der „Produktion jüdischer Räume“. Die folgenden Beiträge des Bandes teilen sich in thematische Blöcke: zwei erste zu „jüdischen Orten“, einem Teil, der der Definition nach sowohl jüdische Orte als auch Räume eher konzeptuell fasst, und zwei weitere zu „jüdischen Räumen“.

Verschiedenste Orte und Räume werden in Form von Fallbeispielen in den fünf thematischen Blöcken besprochen: Im ersten Teil („Construction Sites“) eröffnet Miriam Lipis die Sukkah (Laubhütte) als symbiotischen Ort verschiedener Zugehörigkeiten und greift hierfür auf Fotographien von Sukkot in unterschiedlichen Ländern zurück. Dabei zeigt sich, dass der Ort Sukka zwischen Diasporaexistenz und lokaler Umweltkultur oszilliert; die lokale Zugehörigkeit zeigt sich vor allem durch architektonische Elemente. In Bezug auf das Land Israel steht die Sukkah als ein Symbol des Exils, biblische Worte werden durch sie zudem gleichsam verräumlicht und bilden einen Ort göttlicher Präsenz. Ferner amalgamiert die Sukkah profane und religiöse Orte, nicht zuletzt, wenn die Sukkot inmitten einer Stadt oder auf Balkonen aufgestellt sind. Der Architekt Manuel Herz beschäftigt sich anschließend mit „jüdischer Architektur“ bzw. der physischen Gegenwart jüdischer Gemeinden in Deutschland und Haim Yacobi stellt die israelische Stadt Netivot als alternative, periphere Ortserfahrung im heutigen Israel dar.

Im zweiten Teil „Jewish Quarters“ beschreibt Kenneth Helphand Gärten in Ghettos als Orte der Hoffnung, (positiven) Arbeitserfahrung und Schönheit. Susan Miller widmet sich in ihrem Beitrag zum jüdische Viertel von Fez der jüdischen Minderheitenexistenz in Marokko und Etan Diamond berichtet über orthodoxe Juden in Tornhill, eine Vorstadt nördlich von Toronto, in der bei genauerem Hinschauen sich überlagernde Räume („religious microspaces“) entsprechend der verschiedenen orthodoxen Gemeinden erkennbar werden. Zuletzt berichten Eszter Gantner und Mátyác Kovács über jüdische Subkulturen in Budapest. Auch zu Sowjetzeiten hatte Budapest eine große, etablierte jüdische Gemeinde, die seit 1989 einem starken Wandel unterliegt. Die heutige Fragmentierung und Pluralisierung jüdischer Identität in Budapest verläuft weniger entlang jüdischer Institutionen, so die Autoren, sondern vielmehr entlang generationeller Linien. Dabei zeichne die jüngere Generation der Kontakt mit westlichen Lebensmodellen und Israel oder Medien wie dem Internet aus, wodurch neue Räume definiert und der „jüdische Raum“ Budapests beständig beeinflusst und verändert würde.

In „Cityscapes and Landscapes“ untersucht Haya Bar-Itzhak Polen als kulturelle Kategorie und Raum im jüdischen Bewusstsein und zieht hierfür die Legenden über die Ursprünge der polnischen Juden heran. Gilbert Herbert fragt nach den jüdischen Wahrnehmungen von Meeren und Ozeanen beim Überleben des jüdischen Volkes seit dem Frühmittelalter und setzt seine Analyse bis in den “maritimen Staat“ Israel fort. Im Anschluss daran widmet sich Yael Zerubavel der Naturlandschaft Wüste und dem zionistischen Umgang im Zusammenhang mit der Ansiedlung und Urbarmachung des Landes Israel. Joachim Schlör, eingangs von den Herausgeberinnen als „Vater der Jüdischen Raumstudien“ bezeichnet, beschließt den dritten Teil mit Überlegungen zu Juden und der Großstadt.

Im vierten Teil „Exploring and Mapping Jewish Space“ beschreibt Samuel Kassow zuerst die 1926 in Warschau gegründete Landkentenish-Bewegung, eine der führenden kulturellen, polnisch- und jiddischsprachigen Organisationen des Vorkriegspolen. Intellektuelle und Laien studierten hier zusammen jüdische Geschichte in Polen, um so die Verwurzelung der Juden vor Ort zu bestärken. Erik Cohen beschäftigt sich anschließend mit israelischen Rucksacktouristen und fragt nach dem Bild, das sie auf ihren Reisen von sich und ihrem Land in der Fremde gewinnen und Shelley Hornstein thematisiert Robert Rosenstones Buch und Website „The Man Who Swan Into History“.

Im fünften und letzten Teil „Enacted Spaces“ folgt Eve Jochnowitz den „foodscapes“ russischer Juden in New York, Galeet Dardashti sucht jüdisch-irakische Musiker in Israel auf und Michael Feige zeigt in seinem Beitrag über den Erlebnispark „Mini Israel“, dass dieser eine Auswahl eines idealen Israel fasst und das Bewusstsein einer Nation spiegelt. Im Epilog wendet sich Julian Voloj noch einmal dem Internet und der Plattform „Second Life“ zu. Er entdeckt dort eine „jüdische Topographie“, ein virtuelles Judentum, das über eine bzw. mehrere jüdischen Gemeinden und Synagogen verfügt, aber auch antisemitische Ausschreitungen kennt.

Alle Beiträge des Sammelbandes sind klar strukturiert, interessant und gut lesbar, zuweilen essayistisch im besten Sinne, und halten sich alle an die Fragestellung nach Raum, Ort und Topographie. Durch die Verwendung unterschiedlichster Quellenmaterialien und die konsequente kulturgeschichtliche bzw. kulturanthropologische Arbeitsweise eröffnen sie erfrischende Themenfelder bzw. jüdische Orte wie Essen, Musik, Gärten oder das Internet. Deutlich zeigt sich auch, dass mit Orten und Räumen stets die (imaginierten), vielgestaltigen jüdischen Identitäten verbunden sind sowie ihre Beziehungen zur umgebenden Kultur. Für die jüdischen Sphären und ihre raum-zeitliche Markierung wird in mehreren Beiträgen auf das talmudische Konzept des Eruv („Mischung“) zurückgegriffen. Der zeitliche Schwerpunkt des Bandes liegt in der jüdischen Gegenwart („Jewish presence“), weniger in früheren Zeiten und ebenso wenig in der Konstruktion und Interpretation jüdischer Räume auf textueller und metaphorischer Ebene. Diese bezeichnen die Herausgeberinnen wie frühere Zeiten als besser erforscht (S. 2). In Bezug auf ein Raum-Denken ist dies jedoch nicht unbedingt der Fall. Beispielsweise Ashkenaz und Sepharad, die großen diasporischen Räume jüdischer Wahrnehmung und Handelns im Mittelalter sind in dieser Hinsicht, jenseits konziser historischer Darstellungen, kaum erforscht, ebenso wenig die in der Diaspora existierenden Kommunikationsräume und Verbindungen zwischen Juden und Judenheiten wie der „Vierländerrat“ der Juden Polens und Litauens in der Frühen Neuzeit. Ein Weiterdenken der im Band angeregten raumbezogenen Denkweise lohnt also auch für die Vormoderne.

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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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