M. Wein: Zirkus zwischen Kunst und Kader

Cover
Titel
Zirkus zwischen Kunst und Kader. Privates Zirkuswesen in der SBZ/DDR


Autor(en)
Wein, Martin
Reihe
Zeitgeschichtliche Forschungen 11
Erschienen
Anzahl Seiten
138 S.
Preis
€ 18,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Siegfried Lokatis, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Historiker wissen inzwischen vergleichsweise viel über die DDR, doch wenig über den Zirkus. Auch die privaten Zirkusbesitzer wurden unterdrückt und, Opfer der Steuerschraube, bis auf die bemerkenwerte Ausnahme des Circus Hein (Tante Adelheid) schließlich „ausgerottet“, d.h. in das System des VEB Zentralzirkus einbezogen, dem Ministerium für Kultur unterstellt und zu einer subventionierten Existenz verurteilt. So ging es zunächst den Großunternehmen wie Barlay, Busch und Aeros und schließlich auch dem „Stehaufmännchen unter den Zirkusdirektoren“ (S. 18) Richard Probst.

Dem Autor ist nicht nur ein kenntnisreiches und belehrendes, sondern zugleich ein gut geschriebenes, dem Laien verständliches und charmant bebildertes Büchlein gelungen, das wunderhübsche kleine Geschichten enthält.

Da kriegen inspizierende SED-Funktionäre vom Zirkusdirektor „die Jacke voll“ oder werden gar vom Raubtier verscheucht. „So einfach ist das“ (S. 94). Bei den dilettantischen Dreharbeiten zum DEFA-Film „Der Wüstenkönig von Brandenburg“ frißt ein reitender Löwe drei Pferde auf. Vilmos Müller vom Circus Milano, dem „die Hanteln sozusagen schon in die Wiege gelegt worden“ waren, war Kommunist der ersten Stunde und entsprechend hoch dekoriert. Er hätte „die schwersten Genossen mit dem kleinen Finger in die Luft heben können. Mit den Zähnen trug er 300 Kilogramm schwere Schmiedeambosse durch die Manege“ (S.107). Sein Sohn, der Bärenführer, kommt ungestraft davon, als er einen Volkspolizisten mit Kinnhaken auf den Boden wirft. „Ein nebliger Morgen im April 1950: Als letzte verlassen die Elefanten vom Circus Barlay die DDR“, lautet eine Bildunterschrift. Bis auf ein „pensionsreifes Kamel“ wechselte der Zirkus das Staatsgebiet. Der republikflüchtige Frankello - Direktor muß hingegen den Elefantenbullen August („Sahib“) zurücklassen. Weil in der DDR niemand mit dem Tier fertig wird, kommt es zu einem von Walter Ulbricht sanktionierten Elefantenaustausch mit Hagenbeck. Die lahmende Elefantenkuh wird auf den Namen „Lotte“ getauft. Nicht nur die Menschen litten an der Teilung Deutschlands: „Als der seine Familie sah und roch, war Sahib sofort brav wie ein Lamm, der fing an zu quietschen wie ein Hund.“ (S.92).

Im Zirkus brütete die Anarchie. Der Autor sieht die historiographische Bedeutung seines Büchlein darin, daß der Kollektivierungsprozeß offenbar einen Grenzfall darstellte: die Sozialisierung stieß im Zirkusmilieu auf ein seltsames Höchstmaß an „Eigensinn“.

Es gibt auch einen konkreteren Kontext, in dem die Zirkus- Thematik mehr als bloß exemplarische Bedeutung gewinnen könnte: Ist es nicht endlich an der Zeit ein interdisziplinäres Projekt über die DDR als „Gesamtkunstwerk“ in die Wege zu leiten, das Bildende Kunst und Literatur, Musik und Museen, Film und Kabarett, Tanz und Theater, Zooverwaltung und Zensur integrieren würde? Hier könnte die Bundeskulturpolitik einiges lernen. Auch die Geschichte des Zirkus fände bei einer solchen Gesamtschau ihren systematischen Ort und wird sich im Kontext einer Geschichte des „Ministeriums für Kultur“ als unverzichtbarer Mosaikstein herausstellen.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension