A. Conrad: Rationalismus und Schwärmerei

Cover
Titel
Rationalismus und Schwärmerei. Studien zur Religiosität und Sinndeutung in der Spätaufklärung


Autor(en)
Conrad, Anne
Reihe
Religionsgeschichtliche Studien 1
Erschienen
Hamburg 2008: DOBU Verlag
Anzahl Seiten
204 S.
Preis
€ 28,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Daniel Bellingradt, Berlin

Passen Aufklärung und Esoterik überhaupt zusammen? Diesem Fragenkomplex gehen seit über einem Jahrzehnt eine Reihe von interdisziplinären Forschungsansätzen nach, die dezidiert nach den Profilen der europäischen Aufklärungsbewegungen fragen.1 Esoterik wird derzeit häufig als eine maßgebliche Konstituente des rationalen Diskurses und Ideals jener nach „Aufklärung“ strebenden Geistesbewegungen interpretiert, weil sie die Auseinandersetzung mit den „Sinnsystemen“ christlich-jüdischen und griechisch-hellenistischen Ursprungs (sowie deren Verbindungen) beförderte. Die Publikation der an der Universität des Saarlandes (Saarbrücken) lehrenden Theologin Anne Conrad positioniert sich folglich in einem Forschungsumfeld, welches nach der Vereinbarkeit von rationalem Weltbild und irrationalen Dimensionen fragt. Conrad selbst betitelt den ersten Band der von ihr herausgegebenen Publikationsreihe „Religionsgeschichtliche Studien“ mit zwei Schlagwörtern, die die scheinbaren gegensätzlichen Pole der Aufklärungsepoche bezeichneten: „Rationalismus und Schwärmerei“.

Aufgeteilt in drei Sektionen führt die Autorin in der Monographie umfassender aus, was sie vorher schon in diversen kürzeren Veröffentlichungen anzudeuten vermochte: die Sinndeutung der überwiegend protestantisch geprägten deutschen Bildungselite während der so genannten Spätaufklärung konstruierte sich maßgeblich durch eine synkretistische Mischung der beiden „Sinnsysteme“ Christentum und Esoterik. Zu einer solchen Einschätzung gelangt Conrad, indem sie zunächst in einleitenden Unterkapiteln erläutert wie „[d]as Irrationale im Zeitalter der Vernunft“ überhaupt erforscht, erklärt und analysiert werden kann. Ihre Grundthese von der Harmonisierung von Schwärmerei und Rationalismus im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts entwickelt die Autorin, indem sie zunächst nach den „anthropologischen und theologischen Voraussetzungen“ von Religiosität und Sinndeutung im aufgeklärten deutschsprachigen Milieu fragt (S. 8). Um die Entwicklung des aufgeklärten Verständnisses von Religion – besonders in der deutschen Aufklärung – nachvollziehen zu können, nimmt sie sich vor, „[d]as Gegen-, Mit- und Nebeneinander von Rationalismus und Schwärmerei im Diskurs, wie auch in den individuellen Lebenswelten der aufgeklärten Gebildeten aufzuschlüsseln“ (S. 11). Nutzt man einen weiten Religionsbegriff – wie ihn Conrad favorisiert – so erscheint das zeitgenössische religiöse mindset (nicht nur im späten 18. Jahrhundert) als „auf Transzendenz angelegte Sinnorientierung, Welt- und Selbstdeutung“ (S. 14). Von diesem Sockel aus entwickelt Conrad ihre Studie.

Der erste Teil nimmt sich des Komplexes „Religion und Menschenbild“ in der Frühen Neuzeit an und führt dessen anthropologische Wurzeln näher aus: zum einen das auf Natur und Kosmos hin konzipierte Welt- und Menschenbild der griechisch-hellenistischen Antike; zum anderen die biblisch-jüdische theologische Tradition. Aus beiden Wurzelsträngen entwickelte sich schließlich in der Frühen Neuzeit eine für die abendländische Geistesgeschichte prägende Verbindung, die zugleich als Ansatz- und Diskussionspunkt der Debatten um den Wahrheitsbegriff diente. Gerade in den volksaufklärerischen Debatten- und Argumentationsverläufen erkennt Conrad, dass die Spätaufklärer keinesfalls eine Abwendung vom Christentum anstrebten, sondern vielmehr versuchten, ihre traditionelle (christliche) Sinndeutung zu bewahren und zugleich höhere Erkenntnis in alternativen Sinndeutungen zu finden. Solche „individuelle[n] Überlebensstrategien“ entwickelten sich laut Conrad nahezu zwangsläufig, hatte doch die Reformation und die Konfessionalisierung das einstige Wahrheitsmonopol unwiederbringlich erschüttert (S. 47).

Derart vorbereitet schreitet der Leser in den zweiten Abschnitt des Hauptteiles: „Von der Neologie zur Esoterik“. Als Begriff für eine neue theologische Lehre etablierte sich „Neologie“ im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts als synkretistisches mobilé und theologisches Konzept der Aufklärung, welches paradoxe Kombinationen wie „vernünftige Andachten“ erst möglich machte. Die Anhänger der Neologie, Neologen genannt, sorgten für eine Popularisierung ihrer Ideen und Vorstellungen in etlichen Bestsellern. Spätestens zu diesem Zeitpunkt seien Debatten über ein „vernünftiges Christentum“ nicht mehr nur individuelle Überlebensstrategie gewesen, sondern vielmehr Gegenstand kollektiver Reflexionen. Ausdruck fanden solche Reflexionen auch in der zeitgenössischen Thematisierung von (Schutz-)Geistern und Seelenunsterblichkeit, wie es beispielsweise Moses Mendelssohn 1767 in seinem Bestseller „Phädon oder über die Unsterblichkeit der Seele“ anstellte. Mit Verstand und Vernunft konnte die Unsterblichkeit der Seele erörtert werden, während das zugrunde liegende Thema des Verhältnisses von Geist und Körper urchristliche Deutungsherrschaft beanspruchte. Ähnlich fragmentarisch bedienten sich die Zeitgenossen auch an alttestamentarischen Erzählsträngen, wie etwa die Freimaurer an Aspekten der Salomotradition. Besonders die Möglichkeit einer positiven wie negativen Rezeption erhöhte die Attraktivität alttestamentarischer Texte. Die Faszination des salomonischen Themas um die Trias Weisheit, Universalität und Synkretismus bot, so Conrad, „ideale Voraussetzungen“ für die spätaufklärerischen Bedürfnisse. (S. 120)

Hierauf folgen drei Fallstudien zu Sophie Becker, Matthias Claudius und Friedrich Schleiermacher, die das Zusammenspiel von esoterischen, vernünftigen und christlichen Vorstellungen einer aufgeklärten Religiosität an individuellen Lebenswelten verdeutlichen. Ein Verdienst Conrads ist es hierbei endlich die dominante maskuline Interpretation von aufklärerischem Gedankengut durchbrochen und mit dem Fallbeispiel der Sophie Becker auch die Bedeutung von Frauen in der aufklärerischen Kommunikation unterstrichen zu haben.

Im letzten Abschnitt versammelt die Autorin abermals ihre analysierten Befunde, betrachtet diese zusammenhängend und bilanziert, dass die „synkretistische Mischung“ aus antiker nicht-christlicher Tradition, Bibelversatzstücken und teils spiritualistisch-kabbalistischen Einsprengseln aus Spätantike und Mittelalter „für die Menschen der Spätaufklärung eine großen Faszination und Überzeugungskraft“ besaß. (S. 171) Vernunftgemäße religiöse Vorstellungen konnten sich so parallel zu irrationalen schwärmerischen Tendenzen entwickeln, oder mit Conrads Worten: „Aus dem Angebot der traditionellen Religiosität wie auch der Außenseitertheologien und -weltanschauungen wurde eklektisch ausgewählt.“ (S. 172) Dass die Verlagerung von religiösen Aspekten in ursprünglich areligiöse Bereiche einen Spielraum für kritisch-diskursive Umgangsformen eröffnete, erscheint überaus plausibel und deckt sich mit den Forschungsergebnissen der historischen Säkularisierungsforschung.2

Obwohl Conrad einen wichtigen Beitrag zur Entschlüsselung unseres aktuellen Verständnisses von aufklärerischer Religiosität und Sinndeutung gelungen ist, muss hinterfragt werden, ob das postulierte Mit- und Nebeneinander von Rationalismus und Schwärmerei exklusiv an die Zeit der Spätaufklärung gebunden war. „Säkularisierung vor der Aufklärung“ – so hat jüngst ein auf das Bildungswesen hin konzipierter Tagungsband postuliert – war ebenso vom Nebeneinander und Ineinandergreifen von Säkularisierungs- und Rechristianisierungsprozessen geprägt.3 Auch bildete das ständige Neben- und Miteinander von Rationalität und religiöser Empfindung in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen ein „Strukturmerkmal” der Frühen Neuzeit. Des Weiteren hätte es dem verfolgten Ansatz sicherlich nicht geschadet, wenn die Sinndeutungen auf ihr kommunikatives Element in Zeitungs- und Zeitschriftenperiodika hin beleuchtet und nicht nur Bestseller-Romane der Spätaufklärung untersucht worden wären. Auf Breitenwirkung abzielende Reflexionen, die indirekt auch für die Etablierung etlicher Aufklärungsthemen sorgten, finden sich nämlich schon um 1700 in der pietistischen Flugpublizistik. Die Rezeption der Forschungsergebnisse zu den kommunikativen Leistungen unter anderem der pietistischen Flugdrucke vermisst man in der ansonsten sehr gelungenen Studie.4

Anmerkungen:
1 Vgl. stellvertretend die beiden Tagungen „Aufklärung und Esoterik" 1997 an der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel und „Esoterik in der Aufklärung" 2006 am IZEA Halle. Für 2010 ist eine dritte Tagung in Halle geplant. Vgl. <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=10938>
2 Vgl. stellvertretend: Matthias Pohlig u.a., Säkularisierungen in der Frühen Neuzeit. Methodische Probleme und empirische Fallstudien, Berlin 2008
3 Juliane Jacobi u.a. (Hrsg.): Säkularisierung vor der Aufklärung? Bildung, Kirche und Religion 1500-1700, Köln 2008.
4 Vgl. besonders: Martin Gierl, Pietismus und Aufklärung. Theologische Polemik und die Kommunikationsreform der Wissenschaft am Ende des 17. Jahrhunderts, Göttingen 1997.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension