C. Roll u.a. (Hrsg.): Epochenjahr 1806?

Cover
Titel
Epochenjahr 1806?. Das Ende des Alten Reichs in zeitgenössischen Perspektiven und Deutungen


Herausgeber
Roll, Christine; Schnettger, Matthias
Reihe
Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte Mainz 76
Erschienen
Anzahl Seiten
155 S.
Preis
€ 24,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Axel Gotthard, Universität Erlangen-Nürnberg

Wurde der Untergang des Alten Reiches im Sommer 1806 beiläufig als endliche Einlösung des längst Erwarteten registriert oder überrumpelte er die Mitteleuropäer völlig überraschend? Haben sich die meisten gefreut, oder waren viele erschüttert, traumatisiert gar? Bis vor kurzem konnten wir hierüber lediglich haltlose Vermutungen anstellen, die übrigens in sehr unterschiedliche Richtungen wiesen. In jüngster Zeit ließen zwei Monographien1 unsere Kenntnisse derart anwachsen, dass wir nun doch eines mit Sicherheit sagen können: nämlich einfache Antworten schuldig bleiben zu müssen. Aber der Tagungsband von Roll und Schnettger annonciert ja im Titel weitere Annäherungen. Freilich haben die dort versammelten Arbeiten mehrheitlich gar nicht den Sommer 1806 im Fokus, in erster Linie fragen sie sich, seit wann denn ein etwaiges Ende des Alten Reiches für möglich gehalten, erwartet, thematisiert und reflektiert wurde; doch fällt auch auf die Wahrnehmung der finalen Akte mehr als nur Streulicht.

Wie lang haben die Eliten des Dritten Deutschland ernsthaft mit dem Alten Reich gerechnet? Die wenigen immergleichen Quellen, mit denen eine übelwollende borussophile Geschichtsklitterung zu beweisen pflegte, dass der kluge Mann schon vor 1806 wusste, wie überlebt das Alte Reich gewesen sei, sind ja höchst problematisch. Dass der alte Goethe meinte, als junger Mann vor Valmy den Beginn einer neuen Epoche erspürt zu haben, beweist so viel wie die eitle Suggestion der 1830 fertiggestellten Memoiren des Ritters von Lang, er habe die Krönungsfeierlichkeiten von 1790 als „Sinnbild, wie es dem Heiligen Reiche in Kürze bald selbst ergehen sollte“, wahrgenommen. Bettina Braun verortet die emotionale Zäsur später als solche Texte der hinterher Klügeren: Der Frieden von Campo Formio habe „die Stimmung [...] deutlich“ (S. 21) verändert, glaubt sie beobachten zu können, sodann hebt sie auf jene Preisgabe von Mainz an Frankreich ab, die Joseph Görres zu seiner übermütig höhnenden Leichenpredigt aufs Reich animierte. Das ist alles plausibel, das ist alles zu relativieren (was die Autorin ja weiß). Die frankophile linksrheinische Publizistik ist nicht schlechterdings für die Reichsöffentlichkeit repräsentativ, noch 1803 werden neue Kuren eingerichtet, bis 1806 erscheinen reichs- und lehnrechtliche Repertorien. Man sollte den in seinem vielschichtigen Befund kongenialen Beitrag Brauns als kompetente Hinführung zu vielen wahrnehmungsgeschichtlichen Desideraten im Umfeld des Reichsendes lesen.

Ob die Autorin freilich weit genug zurückgreift? Aus Wiener Warte schrumpfte die Bedeutung „reichischer“ Bindungen ja schon seit Generationen. Gar schon seit über einem Säkulum? Veröffentlichungen der letzten zwanzig Jahre tendierten zu dieser Ansicht, hingegen hebt Lothar Höbelt in einer kundigen und geistreichen Studie zur Perspektive der Hofburg auf jene 1740er-Jahre ab, die offenkundig auch wahrnehmungsgeschichtlich eine tiefe Zäsur gewesen seien. Das pflegt der Rezensent ebenfalls zu betonen, überrascht hat ihn, dass Höbelt hierbei auch nach Belgien blickt. Er macht plausibel, dass zu den Lektionen des Österreichischen Erbfolgekriegs die Einsicht gehörte, die Österreichischen Niederlande nicht halten zu können, was dem „reichischen“ Korridor dorthin Relevanz benahm.

Und der Täter? Als Napoleon, dieser Franzose aus Wille und Kraft, Europa unter einen korsischen Familienclan aufteilte, spielte der Reichsverband offenbar keine Rolle. Der Imperator dachte „einfach nicht an das Reich“ (S. 68), so Cornel Zwierlein, der aber auch weiß: „Napoleon arbeitete grundsätzlich auf eine Auflösung der Kleinstterritorien und der Reichsritterschaft sowie der Besitzungen der Ritterorden“ (ebd.) hin, weil er dort „österreichischen“ Einfluss gewittert habe. Damit zertrümmerte er nun freilich eben doch zielgenau das Gebäude des Reiches, denn diese Kleinen waren der Kitt zwischen den allein staatsfähigen, den des schützenden Reichsdachs nicht bedürfenden großen Quadern. Hat der Korse das einfach aus seinem Machtinstinkt heraus gespürt, ohne darüber Worte zu verlieren? Eigentlich war ja die auf pures Machtkalkül gestellte Politikkonzeption Napoleons mit der historisch gewachsenen Privilegienordnung des Reichsverbands schwerlich kompatibel, aber vor dem 31. Mai 1806 scheint nicht belegbar zu sein, dass er sie flächendeckend schleifen wollte, „die Entscheidung zur Reichszerstörung fiel also sehr spät“ (S. 73). Hätte eine kluge Reichspolitik der Wiener um den gar nicht wohltuenden Thugut demnach doch noch manches, vieles retten können?

Und die Wahrnehmung der finalen Akte im August 1806? Das Verdikt von der unrettbar verlotterten Germania Sacra ist mittlerweile als Forschungsmythos der „Sieger von 1806“ dekonstruiert, zweifelsohne verhält es sich mit dem Mythos von der Sang- und Klanglosigkeit des Reichsendes vergleichbar. Rekonstruieren lässt sich das Spektrum der Wahrnehmungen und Empfindungen an den Residenzen und in den Dörfern des Dritten Deutschland derzeit freilich nicht – nicht, ehe eine Reihe weiterer Mikrostudien vorliegen: denn hierfür war es, von heiterer Gelassenheit bis hin zu fassungsloser Bestürzung, offenkundig einfach zu reichhaltig und weitgespannt. Man wird nach Handlungsspielräumen und Intellekt, Lebensalter und Region differenzieren, insofern viele triftige Stimmungsbilder zeichnen müssen.

Die Wiener traumatisierte das „Katastrophenjahr 1805“ (Lothar Höbelt, S. 39), als die Hauptstadt in den Händen fremder Okkupationstruppen war, das Reichsende verblasste zur „bloßen Folgeerscheinung“. Dem Leser drängen sich Parallelen zur Berliner Optik auf (sie wird im Sammelband nicht thematisiert) – dort schien ja im August 1806 die drohende Auflösung des preußischen Staates, schienen die Vorbereitungen zu einem Waffengang gegen Napoleon an der Seite Russlands vordringlich. Stand das Reichsende an der Donau im langen Schatten der jüngsten Vergangenheit, wurde es an der Spree von der Naherwartung einer dramatischen Zukunft verdunkelt.

Man könnte vermuten, dass die Moskauer Wahrnehmung der preußischen vergleichbar war, indes erlauben die Quellen diesen naheliegenden Schluss offenbar nicht, denn der Zar und sein diplomatischer Stab scheinen sich nicht um den Todeskampf des Reiches „bekümmert“ zu haben, „zumindest schweigt hier die Überlieferung“, und „eine veröffentlichte Meinung gab es in Russland nur in Ansätzen“ (S. 125), wie Jan Kusber betont. Dem Wiener Muster entsprach die (wenngleich distanziertere) Reaktion der Londoner öffentlichen Meinung. Hatte man den Zäsurcharakter des Basler Friedens zehn Jahre zuvor durchaus erfasst, so Torsten Riotte („the German Empire still exists in name, but in fact it is annihilated“: S. 103), stand das Reichsende 1806 im wahrnehmungsgeschichtlichen Schatten der Okkupation Kurhannovers durch preußische Truppen. Kann man Rom hier anreihen? Der Kirchenstaat wurde von den einander rasch ablösenden französischen Plänen einer Neuordnung der Apenninhalbinsel gebeutelt, Pius VII., den man im damals österreichischen Venedig hatte zum Papst wählen müssen, plagten „im Sommer 1806 andere Sorgen als das Ende des Heiligen Römischen Reiches“ (Matthias Schnettger, S. 52). Reichsitalien erlebte den Bedeutungsverlust transalpiner Bindungen als langwierigen, 1806 bereits abgeschlossenen Prozess.

Kurz, eine breite Palette von oft auch heftigen Empfindungen, über die die Forschung nicht mehr hinwegsehen sollte, scheint ein wahrnehmungsgeschichtliches Spezifikum des Reiches in seinem engsten Sinne, in der Terminologie dieser Jahrzehnte: des Dritten Deutschland zu sein. Anderswo lassen sich Reaktionen aufs Reichsende lediglich (Russland und Frankreich einbeziehend, muss man formulieren: allenfalls) bei den politischen und publizistischen Eliten namhaft machen, und deren Optik wies eine gleichsam landestypische Färbung auf, weil sie kräftig von langjährigen Denkschablonen, davon nicht unabhängigen Kenntnisdefiziten wie aktuellen staatlichen Interessenlagen eingefärbt war. Letztere verdunkelten (um im Bild zu bleiben) im Sommer 1806 das Reichsende, scharf hat man es nirgendwo in den Blick genommen, die Aufmerksamkeit war überall durch vermeintlich für den Beobachter Vordringlicheres abgelenkt.

Anmerkung:
1 Wolfgang Burgdorf, Ein Weltbild verliert seine Welt. Der Untergang des Alten Reiches und die Generation 1806, München 2006; Eric-Oliver Mader, Die letzten „Priester der Gerechtigkeit“. Die Auseinandersetzung der letzten Generation von Richtern des Reichskammergerichts mit der Auflösung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, Berlin 2005.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension